# taz.de -- Abtreibung weiblicher Föten in Indien: Eine mutige Kämpferin | |
> Die Abtreibung von Mädchen gehört in Indien zum Alltag. Wer sich trotzdem | |
> für die Geburt einer Tochter entscheidet, lebt gefährlich. | |
Bild: Das drei Monate alte Kind dieser Frau wurde vom Vater zu Tode geprügelt … | |
DEHLI taz | Mitu Khurana schläft. Eine Treppe höher klingelt ihr Handy, | |
aber sie hört es nicht. Ein Hausangestellter führt ins schlicht möblierte | |
Wartezimmer im Erdgeschoss, wo Khuranas Vater seit vielen Jahren eine | |
Praxis unterhält. Dort hängt ein hinduistisches Götterbild. | |
Das geräumige, dreistöckige Haus der Arztfamilie befindet sich in | |
Janakpuri, einem ansehnlichen Wohnviertel im Nordwesten Delhis. Gegenüber | |
vom Haus liegt ein Park, in dem auch im Spätherbst noch Bäume und Blumen | |
blühen. Khurana ist hier in guten Verhältnissen aufgewachsen. Nach einer | |
Weile bittet sie hinauf ins Wohnzimmer in den ersten Stock. | |
Mitu Khurana ist 34 Jahre alt, Ärztin wie ihr Vater und Mutter von zwei | |
siebenjährigen Zwillingsmädchen. Unfreiwillig, weil selbst Opfer, doch von | |
der Sache deshalb nicht minder überzeugt, führt sie Indiens Kampf gegen die | |
Massenabtreibung weiblicher Föten. | |
Es ist ein Kampf um die Menschlichkeit und ums Überleben inmitten des | |
asiatischen Wirtschaftsbooms. 12 Millionen Mädchen wurden in Indien in den | |
letzten zwanzig Jahren nicht geboren, weil ihre Familien lieber einen | |
Jungen wollten. Das belegen indische Studien. | |
## In Indien und China fehlen etwa 85 Millionen Mädchen | |
Wahrscheinlich sterben noch viel mehr. Nach Angaben der Vereinten Nationen | |
fehlen heute schon 85 Millionen Mädchen allein in Indien und China. Nur | |
weil die Familien seit den 90er Jahren mit dem Ultraschallgerät frühzeitig | |
das Geschlecht ihres ungeborenen Kindes bestimmen können und dann die | |
Mädchen abtreiben lassen. | |
Fast wäre es auch in Khuranas Familie so weit gekommen, fast hätte man sie | |
zur Abtreibung gezwungen. Sieben Jahre ist das jetzt her. Doch sie war | |
gewappnet. Sie war mit einer Schwester groß geworden. Sie hatte Eltern, die | |
nie Zweifel am Glück mit ihren zwei Töchtern geweckt hatten. | |
Der Gedanke, einen Jungen als Stammhalter gebären zu müssen, war ihr fremd. | |
Also wollte sie ihre Mädchen austragen, als ein Arzt bei ihr im Bauch | |
weibliche Zwillinge feststellte. Es war für sie das Selbstverständlichste | |
auf der Welt. Damals hätte sie nie geahnt, wie dieser ganz normale | |
Kinderwunsch ihr Leben auf den Kopf stellen würde. Welche Heldentaten er | |
ihr abverlangen würde. | |
Im Grunde wäre sie heute eine Kandidatin für den Friedensnobelpreis: die | |
erste Inderin, die ihren eigenen Mann wegen des Mordversuchs an seinen | |
eigenen ungeborenen Mädchen verklagte. Die erste, die vor Gericht gegen ein | |
millionenfaches Verbrechen aufbegehrt, das fast alle verschweigen. | |
## Eine Kandidatin für den Friedensnobelpreis | |
Sie hat diesen Sonntagnachmittag verschlafen, weil sie die Nacht zuvor auf | |
der Hochzeit ihres Vetters durchfeierte. Sie trägt einen weiten, grünen | |
Sari und lässt sich auf ein großes Sofa fallen. In ihrer Wohnung gibt es | |
keine Götterbilder – nur viele Kinderfotos. Immer die Zwillinge. | |
Eine Hausangestellte reicht Tee und Kekse. „Die Kinder sind noch bei meiner | |
Schwester. Sie kommen gleich“, sagt sie und wirkt dabei auf zufriedene Art | |
und Weise müde. Hinter ihr liegt eine gute Nacht. Endlich durfte sie wieder | |
ein Familienfest erleben – mitfeiern, mittanzen, mitlachen. | |
Mitu Khurana berichtet, wie schwer der Umgang mit ihren Verwandten gewesen | |
sei. Viele haben sie jahrelang gemieden, einige offen beschimpft. Alle | |
waren der Meinung, dass eine Frau ihrem Mann zu gehorchen hat, auch wenn er | |
von ihr verlangt, dass sie ihre Kinder abtreiben soll. | |
Sie hielten das Begehren ihres Mannes nach einem Sohn für legitim. Sie | |
verurteilten sie erst recht, als sie ihren Mann verließ und vor Gericht | |
ging. Sie wusch ja nun die dreckige Familienwäsche in aller Öffentlichkeit. | |
„Sie sahen mich als die Kriminelle, nicht ihn“, sagt sie. Aber sie wusste | |
es besser: Alle dachten wie Kriminelle, nur sie nicht. Und nur ihr fiel das | |
auf. | |
Sie bemühte sich um den Prozess gegen ihren Mann, sie schloss Kontakte zu | |
NGOs, sie trat in den Medien auf. Sie tat es ganz allein, und wie sie es | |
erzählt, ist sie heute stolz darauf. In diesem Jahr nahm sie an der | |
populären Fernsehsendung des Bollywood-Stars Aamir Khan teil. Der | |
unterstützte sie. Das half schließlich auch bei den Verwandten. Sie wird | |
nun wieder zu Festen eingeladen. Bis vor kurzem standen nur die Eltern und | |
die Schwester zu ihr. | |
## Sechs Monate Hölle | |
Aber sie hatte es nicht kommen sehen. Sie hielt ihren Ehemann für einen | |
ehrlichen, anständigen Menschen. Wie in Indien üblich war ihre Heirat | |
arrangiert. Nach der Hochzeit zog sie zur Familie des Mannes – auch das | |
entsprach der Tradition. Sie tat es ohne Gram. Ihr Mann war ebenfalls Arzt, | |
teilte und respektierte ihre beruflichen Interessen. | |
Ohne Sorgen und Hintergedanken wurde sie schwanger. Doch als Mann und | |
Schwiegermutter sie gegen ihren Willen zur Ultraschalluntersuchung | |
schleppten und erfuhren, dass sie zwei Töchter in sich trug, begann für sie | |
ein Höllenleben. „Sechs Monate lang während meiner Schwangerschaft wurde | |
ich gefoltert“, flüstert sie. Laut kann sie darüber bis heute nicht | |
sprechen. | |
Ihr Mann ließ sie zu Hause einsperren. Sie bekam kein Essen mehr. Täglich | |
redete die Familie auf sie ein. Ihr Mann warf sie zweimal die Treppe | |
herunter, um eine Fehlgeburt zu provozieren. „Töte sie beide oder | |
wenigstens eine!“, befahl ihre Schwiegermutter. Man drohte ihr, die Töchter | |
nach der Geburt zu ertränken, wie es die Schwester der Schwiegermutter mit | |
einer ungewollten Tochter früher getan hatte. | |
Sechs Monate kämpfte sie gegen die Abtreibung. Sie ist eine | |
Ausnahmeerscheinung, denn sie hat die körperliche und geistige Kraft dafür. | |
Sie ist über 1,70 Meter groß, kräftig gebaut, zur Selbständigkeit erzogen | |
und war schon damals eine fertige Ärztin. Nichts konnte sie davon | |
abbringen, ihre Töchter zu gebären. | |
## „Ich war in eine Familie von Mördern geraten“ | |
Dennoch zeigten ihr Mann und seine Familie keinerlei Einsehen. Sie tischten | |
ihre alle alten Argumente gegen Töchter auf: die hohe Mitgift, der fehlende | |
Erbe. „Ich war in eine Familie von Mördern geraten“, erkannte sie. | |
Millionen Frauen in Indien und China aber sind zu dieser Einsicht außer | |
Stande. Sie fühlen sich der Familie des Ehemannes ausgeliefert. Sie werden | |
zur Abtreibung gedrängt und gehorchen. | |
Oft teilen sie auch die materialistischen Motive, die hinter den meisten | |
Abtreibungen stehen. Denn die moderne indische Kleinfamilie will heute | |
Wohnung, Auto, Sohn und eine gute Privatschule für ihn. Gerne auch noch ein | |
Mädchen, wenn das Geld da ist. Aber meistens reicht es dafür nicht. | |
Mitu Khurana konnte sich zu ihren Eltern retten und gebar ihre Töchter. | |
Bald aber begann ihr Kampf von neuem. „Was ist dein Problem? Mach deinem | |
Mann einen Sohn!“, sagte der Polizeikommissar, als sie gegen ihren Mann | |
Anzeige erstatten wollte. Sie unternahm zahlreiche Anläufe, bis sie endlich | |
einen Anwalt fand, der einen Richter überzeugte, die Klage gegen ihren Mann | |
anzunehmen. | |
Dabei helfen ihr neuerdings zwei bekannte Anwälte, die sich von ihrem | |
Fernsehauftritt mit Bollywood-Star Khan beeindruckt ließen. Dreimal im | |
Monat besucht sie derzeit das Gericht. Doch die meisten Verfahren dauern in | |
Indien zehn Jahre oder länger. Bei ihr wird es eher länger dauern. | |
## Angst vor Rache | |
Umso wichtiger sind für sie die Medien. „Wenn berichtet wird, heißt das, | |
dass man uns nicht unbemerkt umbringen kann“, sagt Mitu Khurana. Sie hat | |
immer noch Angst, dass sich die Familie ihres Ehemannes an ihr oder ihren | |
Kindern rächen wird. | |
Morde um der Familienehre wegen sind in Indien keine Seltenheit. Ihre | |
Kinder sind deshalb nie unbeaufsichtigt. Nur Mutter und Schwester vertraut | |
sie die Aufsicht an. | |
Endlich bringt sie die Schwester an diesem Abend nach Hause – zwei reizende | |
kleine Mädchen in bunten Kleidern, eine von der anderen nicht zu | |
unterscheiden. Sie wollen im Wohnzimmer „Doraemon“ sehen, eine japanische | |
Trickfilmserie. „Ich mache ihnen noch Essen und dann bringe ich sie ins | |
Bett“, sagt Khurana. Dabei erzählt sie einfach weiter. Die Kinder wüssten | |
sowieso alles, sagt sie. Insofern wird dies ein ganz normaler Familienabend | |
für sie. | |
Viel aber ist in ihrem Leben nicht mehr normal. Denn sie weiß nun um die | |
Katastrophe um sie herum, um all die Mädchen, die nicht geboren werden. Sie | |
möchte etwas dagegen tun. Aber was? | |
## Unnütze Töchter | |
„Die Motive für den Mord an den ungeborenen Töchtern entstammen einer sehr | |
zeitgemäßen Einstellung – man will große Hochzeiten, große Geschenke und | |
einen stolzen Sohn, aber keine wirtschaftlich unnütze Tochter. Es geht um | |
eine Brutalisierung der individuellen Einstellung zum menschlichen Leben, | |
wie sie erst die Modernisierung hervorbringen konnte“, sagt Shanta Sinha, | |
die Vorsitzende der Nationalen Kommission für Kinderrechte in Indien. | |
Sie ist eine der wenigen Intellektuellen, die das Thema der Mädchentötung – | |
auch als „Genderzid“ oder „Femizid“ bezeichnet – in der Öffentlichke… | |
anspricht. Sonst ist Khurana samt einer NGO, die sie unterstützt, auf sich | |
gestellt. | |
So mündet der Abend, nachdem die Kinder schon schlafen, in der bitteren | |
Feststellung: „Wir töten heute mehr ungeborene Mädchen, als Hitler oder | |
Stalin an Opfern verursachten. Aber hier in Indien schreit niemand auf und | |
niemand wird dafür bestraft“, sagt Mitu Khurana. | |
Das ist ihre ungeheuerliche Lagebeschreibung. Doch sie basiert auf eigener | |
Erfahrung. Ihre Töchter leben zwar. Aber ihrem Mann ist bisher nichts | |
geschehen – wie Millionen anderen, die ihre Töchter auf dem Gewissen haben. | |
28 Nov 2012 | |
## AUTOREN | |
Georg Blume | |
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