# taz.de -- Kindstötung in Berlin-Buch: "Es gibt keine Antwort auf das Warum" | |
> Eine junge Frau tötet ihr Neugeborenes. Für Boulevardmedien ist schnell | |
> klar, warum: Die "Todesmutter" ist arm, hat schon zwei Kinder, lebt in | |
> der Platte. Doch so einfach ist es nicht, schreibt ein Sozialarbeiter, | |
> der die Familie kennt | |
Bild: "Warum?" Eine Form der Anteilnahme in Berlin-Buch vergangene Woche | |
Wie nähert man sich der Tat einer Mutter, die ihr Neugeborenes tötet? Vier | |
Stunden nach der Festnahme verkünden die über Google gefundenen News alle | |
das Gleiche: Madlene, die "Todesmutter" aus Buch, hat ihr neu geborenes | |
Kind in der Mülltonne entsorgt. Sie war Hartz-IV-Empfängerin (!), lebte mit | |
zwei (!) Kindern, Hund (!) und dem ebenfalls auf Hartz IV (!) angewiesenen | |
Lebensgefährten in einer Plattenbauwohnung (!) in Berlin-Buch (!). Kein | |
Wunder also, die Erklärung ist gefunden. So kann man das machen. | |
Ich versuche es mal anders. Ich kenne Lene und Tobi seit etwa sechs Jahren. | |
Die beiden waren da bereits über zwei Jahre zusammen. Ein Paar, das sich | |
gut ergänzt. Lene lächelt viel. Was sofort auffällt, sind ihr wacher Blick | |
und das glucksende Lachen. Tobi ist ein stolzer Kerl, groß und breit, | |
Kraftsportler. In der harten Schale steckt ein netter Bursche mit warmen, | |
braunen Augen. Donna, die Boxerhündin, ist immer mit dabei. Selten habe ich | |
so einen feigen Hund gesehen. | |
Als Streetworker engagieren wir uns auch im Kiez sehr stark. Die Probleme | |
der Jugendlichen beginnen und enden manchmal hier. Wir veranstalten | |
Soli-Partys, Konzerte, Flohmärkte. Lene ist immer mit dabei. Mal hinter dem | |
Tresen als Kuchenverkäuferin, mal beim Kinderschminken oder einfach als | |
gute Seele, die unverdrossen Kisten mit Klamotten aus- und wieder einpackt. | |
Tobi ist stets an ihrer Seite. Er schleppt Bühnenplatten, steht sich die | |
Beine als Security-Mensch in den Bauch, und zwischendurch streichelt er | |
verstohlen Lenes Schulter. | |
Vor drei Jahren kommt Lorenz (Name geändert) zur Welt. Der Kleine ist | |
seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Das Paar wird zur Familie. | |
Donna und Lorenz sind ein Herz und eine Seele. Nähert sich jemand dem | |
Kinderwagen, werden die Augen wachsam und die Ohren spitz. Auch wenn der | |
Schwanz zwischen den Beinen verschwindet und auch wenn man nur mal zu | |
husten braucht, um die Hündin zu erschrecken. Tapfer bleibt sie stehen und | |
schielt schräg nach oben. Später schläft das Tier vor dem Bett des Kindes. | |
Lene bewirbt sich in Lorenz erstem Jahr um Ausbildungsplätze. Sie möchte im | |
Büro arbeiten. Geregelte Arbeitszeiten, damit die Familie nicht zu kurz | |
kommt. Wir schreiben Bewerbungen, sie hat Vorstellungstermine, geht mit dem | |
Kleinen in den Park, auf den Spielplatz, kauft ein, kocht und putzt. Tobi | |
arbeitet in der Sicherheitsbranche. Er ist am Wochenende und auch nachts | |
oft im Dienst. 5,50 Euro die Stunde reichen vorne und hinten nicht. Aber es | |
ist selbst verdientes Geld. Ich bin erstaunt, als ich das erste Mal die | |
Wohnung der drei betrete. Liebevoll eingerichtet und kindgerecht. Keine | |
Ahnung, was ich mir vorgestellt hatte. | |
Lene bekommt ihren ersehnten Ausbildungsplatz. Lorenz wird in die Kita | |
eingewöhnt und verbringt nun täglich acht Stunden dort. Lene lernt | |
Vokabeln, putzt, kauft ein, holt den Kleinen ab, spielt mit ihm, bringt ihn | |
ins Bett, lernt Grundlagen der Betriebswirtschaft, wäscht Wäsche und | |
irgendwann fallen ihr die Augen zu. Das Ziel ist klar, ein geregeltes | |
Arbeits- und Familienleben. Tobi arbeitet nachts und am Wochenende noch | |
dazu als Ordner beim FC Union. Das Geld reicht nun fast bis zum Ende des | |
Monats. Vor allem aber ist es selbst verdient. | |
Irgendwann schaut er mich an und fragt, ob ich ihm helfe, einen | |
gemeinnützigen Verein zu gründen. Er möchte gern mit Jugendlichen aus Buch | |
Kraft- und Kampfsport trainieren. Vor allem jugendliche Schläger, die ja | |
kaum über Selbstbewusstsein verfügen, möchte er erreichen. Tobi will ihnen | |
zeigen, wie sie sich gut verteidigen können, um nicht angreifen zu müssen. | |
Angstbeißer sollen tapfer werden dürfen. So einen Verein zu gründen, ist | |
nicht einfach. Papierkram. Satzungen, Vereinsrecht, | |
Mitgliederversammlungen, Kassenwart und Spendenquittungen. Lene ist immer | |
an seiner Seite. Sie schreibt Protokolle und wälzt die jeweils | |
entsprechende Lektüre. Lorenz und Donna fehlen auch nie. | |
Die Mitglieder sind gefunden, der Vorstand gegründet. Das Amtsgericht muss | |
leider mitteilen, dass die Unterlagen verloren gegangen sind. Zurück auf | |
Start, gehe nicht über die Schlossstraße! Auch als Tobi flucht, schmunzelt | |
Lene an seiner Seite. Und sie beginnt von vorn. Er auch. An einem Mittwoch | |
in der Sprechstunde sitzt mir Tobi gegenüber. Im Sicherheitsgewerbe will er | |
nicht bleiben. Auf meine Nachfrage sagt er, dass er Streetworker werden | |
will. Mit Jugendlichen arbeiten, Perspektiven aufzeigen und zur Seite | |
stehen möchte er ihnen zukünftig. Wir beginnen zu planen. Welche Abschlüsse | |
sind vonnöten? Abitur. Praktika. Studium. Lene sitzt dabei, hat Lorenz auf | |
dem Schoß und sagt: "Dicker, wenn du das willst, schaffen wir das!" Tobi | |
ist lange raus aus der Schule. Sie sagt es mit Nachdruck. | |
Schule suchen. Vorkurs zum Abitur. Bafög beantragen. Verein gründen. Lene | |
und Tobi planen alles gemeinsam. Lenes Ausbildung ist eine echte | |
Herausforderung neben dem Alltag mit Kind, Hund und Haushalt. Sie bringt | |
den Kleinen ins Bett, Tobi bringt ihn in die Kita, bevor er sich nach der | |
Nachtschicht schlafen legt. Und plötzlich meldet sich Theo (Name geändert), | |
Lene ist schwanger. Alle Pläne werden über den Haufen geworfen. Abitur und | |
Studium sind nun nicht mehr denkbar. Die Sicherheitsbranche ist zwar | |
schlecht bezahlt, aber es bringt Geld. Zumindest etwas. Und es ist selbst | |
verdient. Im Dezember kommt Lorenz Bruder zur Welt. Geplant war er nicht. | |
Theo ist seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Er strahlt und | |
lacht. Lene ist manchmal blass, trotzdem lacht sie viel. | |
Sie entscheiden, dass Tobi doch mit dem Vorkurs anfangen soll. Lene bleibt | |
mit dem Kleinen für ein Jahr zu Hause und wird ihre Ausbildung dann | |
fortsetzen. Nun ist es Tobi, der Vokabeln lernt, Referate ausarbeitet. Am | |
Wochenende arbeitet er weiter beim FC Union. Nach der Schule den Großen | |
abholen, dann mit Lene kochen, essen. Die Kinder ins Bett bringen, lernen. | |
Der Sport kommt viel zu kurz. Lene und Tobi streiten manchmal. Sie ist | |
etwas neidisch. Er kann in die Schule gehen. Sie hat den Tag über nur den | |
Kleinen. | |
Tobi nimmt mich eines Tages zur Seite. Er macht sich Sorgen. Lenes | |
Gebärmutter ist verrutscht, ihr Bauch geschwollen. Eine Ärztin rät zur | |
Operation. Lene und Tobi holen weiteren Rat bei einer anderen Ärztin ein. | |
Die meint, nicht operieren! Das Jahr zu Hause ist für Lene bald vorbei. Sie | |
freut sich darauf, ihre Ausbildung fortzusetzen. Kurz vor Theos erstem | |
Geburtstag geht es endlich los. Lene ist nun wieder in der Ausbildung. Tobi | |
hat den Vorkurs geschafft. Das Abitur geht nun in die Vollen. Am Montag | |
ruft mich Lene an. Wir verabreden uns für Mittwoch im Büro. Lene, Tobi und | |
die Kinder. Ich freue mich auf sie. | |
Mittwochnachmittag öffnet sich die Tür, und eine Beamtin der | |
Kriminalpolizei bittet mich aus der Beratung. Sie will unter vier Augen mit | |
mir reden. Vor dem Haus steht ein Polizeibus. Tobi und ein Beamter warten | |
dort. Lene hätte heute Nacht ein Kind entbunden und vermutlich in eine | |
Mülltonne gelegt. Tobi ist blass. Wir sitzen im Bus und fahren zum Haus, in | |
dem die Familie lebt. Dort ist alles weiträumig abgesperrt. Eine Freundin | |
holt den Kleinen von der Kita ab. Lene hat sich darum gekümmert, während | |
sie vernommen wird. Tobi muss im Bus bleiben. Er wird Lene nicht mehr | |
sehen. Ich hole den kleinen Theo und bringe ihn zu seinem Vater. | |
Lene wird mit einer Decke über dem Kopf abgeführt. Es ist schnell klar, | |
dass Tobi mit der Sache nichts zu tun hat. Seine Familie kümmert sich | |
sofort um ihn und die Kinder. Die Wohnung bleibt als Tatort gesperrt. | |
Reporter ziehen durch Buch, sprechen jeden an, den sie im Umfeld der | |
Wohnung treffen. Klingeln an Türen. Auch an der von Tobis Eltern. | |
Wir planen, wie es weitergehen soll. Es gibt keine Antwort auf das Warum. | |
Lene bleibt in Haft. Sie wird vermutlich nicht so schnell wiederkommen. Wir | |
müssen Tobi und die Kinder hier erst mal wegbekommen. Das Jugendamt kannte | |
die Familie vorher nicht, stellt jedoch sofort Geld für eine Reise zur | |
Verfügung. Eine Freundin der Familie wird Tobi und die Kinder begleiten. | |
Tobis Vater fährt sie alle an den Ort, von dem niemand etwas wissen darf. | |
Seine Mutter wird sich in der nächsten Woche um die Wohnung kümmern. Alles | |
vorbereiten auf die Rückkehr, wenn der Medienrummel sich beruhigt haben | |
wird. Keine Ahnung, wie es dann weitergeht. Was wird Tobi den beiden Jungs | |
erzählen können? Vielleicht, dass die Mama auf einer Weltreise ist. Dass | |
sie Amerika besucht. Dann Afrika. Später den Nordpol. Wir werden sehen. | |
Was genau passiert ist und warum, Lene wird es eines Tages erzählen müssen. | |
Ich bin mir sicher, jetzt könnte sie es nicht. Ich bin froh, dass Tobi so | |
eine starke Familie hat. Sie werden auch weiterhin zusammenhalten. Und | |
ansonsten müssen wir alle gemeinsam jetzt einen Schritt nach dem anderen | |
gehen. Tag für Tag. Vielleicht muss Tobi mit den Jungs umziehen. Der Rest | |
wird sich zeigen. | |
6 Dec 2011 | |
## AUTOREN | |
Andreas Hoch-Martin | |
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