Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Kirche als Unterschlupf für Asylbewerber: 13 Zimmer, Kirche, Bad
> Rund einhundert Menschen haben in der niederländischen Josefkirche eine
> Bleibe gefunden. Es ist fast wie ein Weihnachtsmärchen.
Bild: Eine unerwartete Welle der Hilfsbereitschaft erreicht die Asylbewerber in…
AMSTERDAM taz | „Die Nachbarn sind gut“, sagt Josèphe, in der Hand eine
pralle weiße Plastiktüte voll frischen Brots. Er läuft die paar Stufen
hoch, dorthin, wo einmal der Altar war. Die Nachbarn sind gut, dafür hat
Josèphe, ein kleiner Mann mit kurzen Dreadlocks, schwerwiegende Argumente:
nicht nur das Brot, das sie ihm eben draußen in die Hand drückten und das
er jetzt an der Seite des ovalen Raums in ein gut bestücktes Regal legt.
Auf dem ehemaligen Altartisch, der sich biegen würde, wäre er nicht aus
Stein, stehen dich an dicht und fertig zum Gebrauch Aufstriche, H-Milch,
Saft und Gläser mit eingelegtem Gemüse und mittendrin ein Plastikeimer mit
einem ausladenden Strauß Blumen – alles gespendet.
Und das ist noch lange nicht alles: „Sie bringen abends auch warmes Essen“,
erzählt Josèphe, der Anfang 30 ist und seinen Nachnamen lieber nicht nennen
will. In eine dicke schwarze Daunenjacke gehüllt, lässt der Ivorer sich in
der Sitzecke nieder, bei der Wand, hinter der sein neues Schlafzimmer
liegt. 25 Zimmerleute haben am Wochenende eine Armada an Rigipsplatten
verschraubt, um die Seitenflügel der Kirche abzutrennen.
In die neuen Räume zogen sie Wände, sodass 13 Zimmer entstanden, in denen
sich die Flüchtlinge wohnlich einrichteten. „Und auch Medikamente gibt es,
falls wir welche brauchen“, so Josèphe. Unten im Keller ist sogar ein
Arztzimmer mit Liege eingerichtet, wo jeden Nachmittag ein freiwilliger
Doktor Sprechstunde hält.
## Welle der Hilfsbereitschaft
Es ist eine wundersame Geschichte, die sich seit zwei Wochen in einer leer
stehenden Kirche im Westen Amsterdams abspielt: Rund 100 abgelehnte
Asylbewerber haben hier nicht nur einen Zufluchtsort gefunden, sondern auch
eine Welle von Hilfsbereitschaft ausgelöst, die ganz und gar
außergewöhnlich ist.
Ein Teppichhändler spendierte mehr als 11.000 Quadratmeter, um die neuen
Schlafzimmer auszustaffieren, ein Elektriker baute eine Warmwasserheizung
ein. 20.000 Euro an Spenden kamen zusammen, mehr als 100 Freiwillige helfen
bei den täglichen Dingen. Dimensionen, die dem Projekt „Vluchtkerk“ den
Anschein eines Weihnachtsmärchens verleihen. Fast fragt man sich, ob sich
der grobe graue Klotz der protestantischen „Jozefkerk“ gar in den Stall von
Bethlehem verwandelt habe.
Für Josèphe ist es immerhin ein Hoffnungsschimmer auf seiner dreijährigen
Odyssee. Die Hälfte davon verbrachte er in Erwartung seines Entscheids im
Asylantenheim. Nach der Ablehnung tauchte er unter, bis er irgendwann wegen
fehlender Papiere festgenommen wurde. Acht Monate saß er ein, dann ließ man
ihn laufen, denn abschieben, und dies ist das Besondere ihrer Geschichte,
kann man die Bewohner der Vluchtkerk nicht.
Unvollständige Dokumente, Botschaften, die die Kooperation mit den
Niederlanden verweigern, oder ein Abschiebestopp wie bei den vielen
Somaliern in der Kirche. Mehr und mehr Asylbewerber stranden in dieser
Grauzone. Was bleibt, ist ein Leben auf der Straße.
## Einfach Kirche besetzt
Als Josèphe im Oktober freigelassen wurde, machte er sich auf nach
Amsterdam. Ganz am Rand der Hauptstadt nämlich kampierte den ganzen Herbst
über eine Gruppe Flüchtlinge mehr als notdürftig in einem Zeltlager.
Josèphe schloss sich ihnen an. Ende November wurde das Camp geräumt, seine
Bewohner wurden festgenommen. Doch schon nach 12 Stunden landeten sie
erneut auf der Straße – mit der Kälte und Mattheit von zwei Monaten Zelten
in den Knochen.
Was jetzt? – diese Frage stellte sich auch die Filmemacherin Annerike
Hekman, als sie davon erfuhr. Einige Anrufe klärten die Unterbringung für
eine Nacht in den Räumen eines Hausbesetzerkollektivs. Am selben Wochenende
noch wurde die Jozefkerk besetzt, die zuvor als Kletterhalle genutzt wurde
und seit dem Frühjahr leer stand. „Der Besitzer kam gleich vorbei und
meinte: ich höre, mein Gebäude ist besetzt.
Das ist prima, Leute“, so Annerike Hekman, die inzwischen der
Unterstützergruppe „Daily Operations“ angehört. Andere Freiwillige kümme…
sich um Kommunikation, Medizinisches, Bau oder Finanzen. Auch die
Amsterdamer Diakonie unterstützte die Aktion von Beginn an.
Eine bemerkenswert große Koalition ist das – und die Befürchtung, diese sei
vor allem weihnachtlicher Sentimentalität geschuldet, ist Annerike Hekman
nicht fremd. „Andererseits aber ist das Thema seit langem in der
Öffentlichkeit. Und hier wird es konkret.“ So gesehen setzt die Vluchtkerk
nicht einfach eine Entwicklung fort: Mehrfach gab es zuletzt in den
Niederlanden Flüchtlingszeltlager als politische Demonstration, allerdings
in abgelegenen Orten im Norden, in der Nähe der großen Asylbewerberheime.
## Kofferraum voll mit Lebensmitteln
Im Herbst aber zogen sie erstmals in die Metropolen Amsterdam und Den Haag
und bekamen damit ständige Medienpräsenz. Und schon damals fanden sich
viele Nachbarn, die mit Decken und Essen aushalfen.
Inzwischen aber kommen 300 Interessierte, wenn die neuen Bewohner der
Jozefkerk, wie Mitte Dezember geschehen, zum Tag der offenen Tür laden, wo
eine Band auftritt und ein Migrationsrechtprofessor Vorträge hält. Einer
der Besucher war Max Paans, ein Pfarrer aus Ede nahe der deutschen Grenze.
Zwei Tage später kommt er zurück, und im Kofferraum seines Kleinwagens
liegt das Ergebnis einer privaten Spendenaktion: Kisten mit Nudeln, Saußen,
Gemüse und Suppen.
Dazu ein paar 20- Kilo-Reissäcke, die nicht nur Nährwert haben, sondern
auch gegen die Kälte im Hauptschiff helfen, wo jedes Wort eine Atemwolke
auslöst. In einer Reihe werden die Säcke von Hand zu Hand die modrigen
Stufen zur Empore hochgeschafft, wo statt einer Orgel nun der Vorratsraum
ist. In Anspielung auf die bekannte Supermarktkette heißt die Empore nun
„Albert Heijn“.
Im dämmrigen Licht des späten Nachmittags inspiziert derweil ein Mann in
Jogginghose und dunkler Jacke die Feldbettunterteile, die mitten im Raum in
Stapeln auf dem Steinboden liegen. Eine Nacht haben die Flüchtlinge nun in
ihren neuen Betten verbracht, und Zenin, so heißt der Mann, würde seins
gerne etwas höher setzen. Mit ein paar Verbindungsstücken in der Hand geht
er zurück in sein Zimmer. Hinter der Tür ist es tatsächlich etwas wärmer,
auch wenn die Heizung noch nicht richtig funktioniert.
## Im Niemandsland
Dafür macht der rotbraune Teppich den Raum heimelig, in dem sechs der
Feldbetten verteilt sind. Über jedem liegt eine ordentlich gefaltete Decke,
dazu gibt es einen Nachttisch mit Lampe, ein Sofa, einen runden Hocker, der
als Tisch dient, und einen hohen Spiegel neben dem Eingang, „Die Zimmer“,
sagt der Mann mit leiser Stimme, „sind das Beste hier.“ Zenin kommt aus
Sudan und ist Mitte 30. Hemden und Hosen hat er an Bügeln über sein Bett an
die Wand gehängt.
Sein etwas jüngerer Freund Omer, ebenfalls Sudanese, freut sich vor allem,
dass die Gruppe hier zusammenbleiben kann. Nur so, meint er, könnten sie
weiterhin auf sich aufmerksam machen. Denn obwohl der Eigentümer seine
Unterstützung bis Ende März zugesagt hat, will sich hier niemand
zurücklehnen. „Wir sind in einem Niemandsland“, fasst Omer die Lage
zusammen. „Wirklich glücklich sind wir erst, wenn wir eine Lösung haben.
Aber immerhin können wir uns hier ausruhen.“
Erleichtert ist Omer auch, dass sein Freund nun Zugang zu Insulin hat.
Zenin ist Diabetiker – und nicht der einzige in der Kirche. „Eine
65-jährige Frau aus Somalia hat auch Diabetes. Und solche Menschen lassen
sie aus dem System fallen“, so Omer empört, während er den Wasserkocher
anstellt. Zenin putzt sich unterdessen die Brille.
Kennen gelernt haben die beiden sich im Asylheim. Nach ihrer Ablehnung vor
vier Monaten zogen sie mit anderen Sudanesen in besagtes Amsterdamer
Zeltlager. In der Kirche sind die Sudanesen mit etwa 20 Personen nach den
Somaliern eine der größten Gruppen. Die Übrigen kommen aus Eritrea,
Äthiopien und dem frankofonen Westafrika.
## Reggae in der Kirche
Dampf steigt auf, als Omer heißes Wasser in die Pappbecher gießt und
Teebeutel mit Minze- Zimt-Geschmack hineinlegt. „Als wir hier ankamen, war
es dreckig und es gab kein Licht“, sagt er. „Aber ich bin trotzdem froh,
hier zu sein. Weil es wie ein Zuhause ist.“ Und als wollten sie das
unterstreichen, drehen die Nachbarn im Zimmer nebenan die Musik auf. Auch
sie kommen aus Sudan, sind aber jünger und bevorzugen HipHop, während Omer
und Zenin Reggae-Liebhaber sind.
Ungeachtet musikalischer Vorlieben werden alle am nächsten Tag zusammen
nach Den Haag fahren, um auf ihre Lage aufmerksam zu machen. „Das müsser
wir tun“, sagt Omer eindringlich. Denn so dankbar sie den Freiwilligen
sind, ist doch niemand gekommen, um in einem solchen Provisorium zu leben.
Die Stadt hat zugesagt, bis Ende März nicht zu räumen.
Erst mal aber soll es am Weihnachtsabend eine Party geben, mit Auftritten
bekannter Musiker und Schriftsteller. Bis zum Frühjahr wird die Vluchtkerk
mit ihrer besonderen Dynamik noch für einiges Aufsehen sorgen. Und solange
Menschen in der Grauzone zwischen zwei Bürokratien landen, wird sie auch
irgendwo eine Nachfolgerin haben.
21 Dec 2012
## AUTOREN
Tobias Müller
## TAGS
Asylsuchende
Kirche
Niederlande
Geflüchtete
Evangelische Kirche
Hamburg
Abschiebung
## ARTIKEL ZUM THEMA
Fünf Jahre Flüchtlingskirche Kreuzberg: „Unsere Räume stehen allen offen“
Wegen Corona gibt es keine Feier – die wird nächstes Jahr nachgeholt. Die
Flüchtlingskirche in Kreuzberg wurde vor fünf Jahren eröffnet. Ein Besuch.
Kirche am Heiligabend: „Ängsten eine Stimme geben“
Für die evangelische Theologin Ellen Ueberschär ist die Kirche am
Heiligabend ein Ort zum Nachdenken. Soziale Probleme sollten zur Sprache
kommen.
Flüchtlingsunterkunft in Hamburg: Ausländer auf die Deponie
Der Hamburger Senat plant eine Unterkunft für Asylbewerber auf einer
ehemaligen Müllkippe. Anwohner wehren sich gegen die Container.
Asyl: "Niemand sagt den Flüchtlingen, was wichtig ist"
Das Land war nicht auf den absehbaren Anstieg der Flüchtlingszahlen
vorbereitet, kritisiert Martina Mauer vom Flüchtlingsrat.
Sammelabschiebung ins Kosovo: Grün-Rot lässt Roma abschieben
Aus Baden-Württemberg sind Roma ins Kosovo abgeschoben worden, wo sie
Übergriffen ausgesetzt sind. Grün-Rot hätte das verhindern können.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.