| # taz.de -- Kirche am Heiligabend: „Ängsten eine Stimme geben“ | |
| > Für die evangelische Theologin Ellen Ueberschär ist die Kirche am | |
| > Heiligabend ein Ort zum Nachdenken. Soziale Probleme sollten zur Sprache | |
| > kommen. | |
| Bild: Besinnung: An Weihnachten ist jeder im Stress. In der Kirche gibt es mal … | |
| taz: Frau Ueberschär, am Heiligen Abend sind die Kirchen voller Leute, die | |
| sonst nie in den Gottesdienst gehen. Können Sie sich denn auch über solche | |
| Gäste freuen? | |
| Ellen Ueberschär: Ich betrachte die nicht als Gäste. Wer einmal im Jahr in | |
| die Kirche geht, ist ja ein regelmäßiger Kirchgänger. Predigten, die | |
| anfangen mit: „Jetzt hab ich euch hier, also sag ich euch mal die Meinung“, | |
| finde ich fehl am Platze. Ich möchte lieber herausfinden, warum die Leute | |
| kommen. | |
| Und? | |
| Sie haben eine Sehnsucht nach Ganzheit, nach Heil, nach Erlösung oder | |
| einfach nach Glück, und ich meine: Genau das ist es doch, worum es im | |
| Evangelium geht. Manche kommen sicher auch, um eine Atmosphäre zu finden, | |
| die sie alleine zu Hause nicht herstellen können. | |
| Sorgen Sie sich nicht, dass die christliche Botschaft selbst dabei in den | |
| Hintergrund rückt? | |
| Die Frage ist, ob nicht das die christliche Botschaft ist: Die Welt ist ein | |
| großes Ganzes, in ihr gibt es einen Sinn. An Weihnachten ist ja jeder im | |
| Stress. In der Kirche kann ich sagen: Hier hab ich mal eine Stunde Ruhe, | |
| hier kann ich innehalten, zu Gott kommen. | |
| Welche gesellschaftliche Bedeutung hat der Gottesdienst als Ritual heute | |
| noch? | |
| Die erkennt man daran, dass selbst denen, die nicht hingehen, bewusst ist, | |
| dass sie nicht hingehen. Sie reden darüber, sie sagen: „Ich gehe nicht in | |
| die Kirche.“ Aber sie akzeptieren, dass es ein Teil des Weihnachtsrituals | |
| ist. Gerade in einer Welt mit unsicheren Arbeitszeiten, wo viele nicht | |
| wissen, was sie nächstes Jahr für einen Job machen werden, ist das ein | |
| fester Angelpunkt: Weihnachten hat man zwei Tage frei. Das ist ein Anker in | |
| einer Zeit, die so fließend geworden ist. | |
| Ehrlich gesagt: Wird die Kirche auf diese Weise nicht eher zur | |
| weihnachtlichen Fototapete? | |
| Ich mag das nicht so sehen, so eine Sicht hat immer etwas von Verachtung. | |
| Es hat etwas von: „Ihr lebt ein falsches Leben und ich sage euch, wie es | |
| richtig ist.“ Das ist aber nicht unser Job. Jesus ist genau zu jenen Leuten | |
| gegangen, von denen andere gesagt haben, dass sie ein falsches Leben | |
| führen. Menschen, die sogar verabscheut wurden. Der Zöllner, das wäre heute | |
| ein Banker. | |
| Der Zöllner wurde aber nach der Begegnung mit Jesus ein ernsthaft frommer | |
| Mensch. | |
| Es ist leicht zu sagen: „Ihr seid nicht ernsthaft.“ Aber wir machen in der | |
| Kirche keine Gewissensforschung. Wir sollten dem Heiligen Geist nicht im | |
| Wege stehen. Der Weihnachtsgottesdienst ist nicht der Ort, um den Leuten | |
| heimzuleuchten. | |
| Volle Kirchen an Weihnachten – trotzdem verliert die Kirche Jahr für Jahr | |
| viele Mitglieder. | |
| Ich glaube, dass wir auf Zeiten der Unsicherheit zugehen, und dass die | |
| Suche nach den alten Gewissheiten eher zunimmt, aber ob deswegen mehr Leute | |
| in die Kirche gehen, das ist eine andere Frage. Es kommt auch darauf an, | |
| wie die Kirche darauf reagieren wird, ob sie eine spirituelle | |
| Ausstrahlungskraft bewahren kann. | |
| Und eine politische? | |
| Auch das. In den Achtzigerjahren zum Beispiel wurde in Berliner Kirchen | |
| darüber gesprochen, dass man nicht so viel heizen und Auto fahren soll. | |
| Religion wurde als ethische Verpflichtung verstanden. So kam es, dass | |
| zeitweise sehr praktische Dinge im Vordergrund standen: Was heißt es, die | |
| Schöpfung zu bewahren? | |
| Ja, was? | |
| Eben: weniger Heizen und Autofahren. Heute würde ich sagen – ein bewusster | |
| Lebensstil. | |
| Wollten das die Leute hören? | |
| Nun, sagen wir so: Die Menschen werden eher von dem in die Kirche gezogen, | |
| was den Kern der Religiosität ausmacht – der Begegnung mit Gott. | |
| Der Bibeltext ist an Weihnachten ja jedes Jahr gleich. Wie erzählt er sich | |
| aktuell? Muss er nicht neu „erfunden“ werden? | |
| Neu, eine Neuerfindung braucht es nicht. Und wenn ich über einen bestimmten | |
| Text predige, ist die wichtigste Frage: Was bedeutet das heute für uns? | |
| Voriges Jahr habe ich einen Adventsgottesdienst in Karlsruhe gehalten, | |
| sprach über eine Stelle im Korintherbrief, in der es darum geht, dass wir | |
| nicht „Ja Ja“ oder „Jein“ sagen sollen. In Jesus Christus sagen wir klar | |
| „Ja“ zur Welt. | |
| Und wie legten Sie diese Passage aus? | |
| Mir ging es um die Frage, wozu wir in unserem Leben eigentlich Ja sagen. | |
| Damals hatte ein Elektrokaufhaus mit dem „Weihnachten wird unter dem Baum | |
| entschieden“ Reklame gemacht. | |
| Der Sinn von Weihnachten wäre demnach … | |
| Wir sollen uns teure Geschenke schenken, die in diesem Warenhaus gekauft | |
| wurden. Und dann komme ich und sage, die Bibel im Rücken: Nein! Genau darum | |
| geht es nicht! Wo wird über Weihnachten entschieden? Und wo über unser | |
| Leben? Im Kaufhaus etwa? | |
| Die Kritik am Konsumrausch leuchtete Ihnen ein? | |
| Absolut. Es gibt ja fast keine Phasen mehr, in denen man ernsthaft etwas | |
| anderes tut als konsumieren. Fast jede Handlung hat mit Konsum zu tun, und | |
| das führt dazu, dass die Leute sich über die Wahrheit in ihrem Leben gar | |
| nicht mehr im Klaren sind. Dass sie im wahrsten Sinne des Wortes gar nicht | |
| mehr zur Besinnung kommen. | |
| Halten Sie dieses Jahr einen Weihnachtsgottesdienst? | |
| Nein. Aber sonst würde ich sicher darüber reden: Was hält Europa zusammen? | |
| Und noch? | |
| Sicher würde ich darauf eingehen, welche Ängste Menschen haben. Das nächste | |
| Jahr wird nicht so toll, die Krise rückt nun auch hierzulande den Menschen | |
| auf den Leib. Diese Ängste aufnehmen, ihnen eine Stimme geben – ich fände, | |
| dass das in diesem Jahr an Weihnachten wichtig wäre. | |
| Aber an Weihnachten geht es für die meisten Menschen doch um die heile | |
| Familie, die heile Welt. Stehen irdisch-harte Themen nicht im Widerspruch | |
| dazu? | |
| Nein, ich denke eher, dass es an Weihnachten um die Zerbrechlichkeit von | |
| Familie geht. Das ist die Geschichte, die in der Bibel erzählt wird. Josef | |
| nimmt diese Frau auf, Maria erwartet ein Kind, von wer weiß wem. Dann | |
| müssen sie sich schon auf den Weg machen. Das ist alles andere als eine | |
| heile Situation. Sie zeigt Bedrohlichkeit, und eine Nähe zu dem, was gar | |
| nicht mehr Teil unseres Lebens ist: Tiere, Hirten … | |
| … haben Sie eine Idee, wo Jesus heutzutage geboren würde? | |
| Ich denke, eher unter Menschen, die einen sozialen Beruf haben, vielleicht | |
| in einem Altersheim. Oder bei unterbezahlten und ausgebeuteten Leuten, die | |
| Hartz IV beziehen und trotzdem hart arbeiten müssen. Da würde Jesus heute | |
| zur Welt kommen. | |
| Weshalb aber sind diese Vorstellungen so eng mit Weihnachten verknüpft? | |
| Das steht im Zusammenhang mit einer Bürgerlichkeit, die sich im 19. | |
| Jahrhundert entwickelt hat. Doch das ist nicht der Kontext der Bibel. | |
| Sondern? | |
| Die antike Welt war zur Zeit der Geburt Jesu einfach anders. Das | |
| Interessante ist ja, dass die Evangelien in der Bibel eine der wenigen | |
| Quellen darüber sind, wie arme Leute gelebt und was sie gedacht haben. Die | |
| Bibel ermöglicht uns einen Blick in diese Situation, und das muss man sich | |
| klar machen: Diese Geschichte spielt nicht in einer bürgerlichen Welt. | |
| Wie feiern Sie Weihnachten? | |
| In meiner Familien so, dass wir zuerst den Baum schmücken, wir hängen auch | |
| Schilder mit Namen daran. Jeder legt seine Geschenke unter das jeweilige | |
| Namensschild. Dann gehen wir in die Kirche, essen, danach gibt es die | |
| Bescherung. Bei uns werden auch Kleinigkeiten eingewickelt. | |
| Mit welchem Sinn? | |
| Es geht mehr um das Auspacken als um die Dinge selbst. | |
| 23 Dec 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Gabriela M. Keller | |
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