| # taz.de -- Asyl: "Niemand sagt den Flüchtlingen, was wichtig ist" | |
| > Das Land war nicht auf den absehbaren Anstieg der Flüchtlingszahlen | |
| > vorbereitet, kritisiert Martina Mauer vom Flüchtlingsrat. | |
| Bild: Berlin hat massive Probleme bei der Unterbringung von Flüchtlingen (Arch… | |
| taz: Frau Mauer, in Berlin leben derzeit gut 5.000 Flüchtlinge in Heimen | |
| unter beengten Verhältnissen. Was bedeutet das für die Betroffenen? | |
| Martina Mauer: In den 27 Berliner Heimen herrschen sehr unterschiedliche | |
| Bedingungen. Es gibt kleine Einrichtungen mit abgeschlossenen Wohnungen. Es | |
| gibt aber auch Riesenheime, wo 300 Menschen und mehr leben. Sie haben dort | |
| oft Gemeinschaftsbäder und -küchen, Duschen sind nicht immer abschließbar. | |
| Und es kommt vor, dass vier oder fünf wildfremde Leute in einem gemeinsamen | |
| Zimmer miteinander klarkommen müssen. | |
| In jüngster Zeit werden Bürogebäude und Schulen zu Notaufnahmeheimen | |
| gemacht. Eignen die sich zum Wohnen? | |
| Oft fehlen dort sanitäre Anlagen. Und abgeschlossene Wohneinheiten gibt es | |
| dort nicht. | |
| Verfügen diese hektisch eröffneten Heime über qualifiziertes Personal? | |
| Anfangs nicht immer. Manchmal wird Personal eingesetzt, das kaum | |
| Erfahrungen in der Flüchtlingsarbeit hat. Es führt zu Problemen, wenn | |
| Sozialarbeiter nicht wissen, was ein Brief vom Bundesamt ist, oder keine | |
| Erfahrungen mit Schulanmeldungen haben. Ganz gravierend ist, dass es in den | |
| Notaufnahmeheimen – anders als in den Erstaufnahmeeinrichtungen – keine | |
| Asylverfahrensberatung gibt. Da sagt niemand den Flüchtlingen, wie die | |
| Anhörung läuft, was dabei wichtig ist, welche Bescheinigungen sie vorher | |
| besorgen müssen. Das mindert die Chancen auf Asyl erheblich. | |
| Land und Bezirke werfen sich gegenseitig vor, das gegenwärtige Chaos bei | |
| der Unterbringung verursacht zu haben. Wie sehen Sie das? | |
| Mir fehlen Einblicke in die Verwaltung, um das zu beurteilen. Fakt ist: Die | |
| Asylbewerberzahlen steigen seit Jahren und der weitere Anstieg zum Winter | |
| war vorhersehbar. Berlin war darauf nicht vorbereitet. Ich möchte aber | |
| Sozialsenator Mario Czaja (CDU) ausdrücklich dafür loben, dass er in Berlin | |
| keine Notlage inszeniert hat wie Hamburg, Bayern und Hessen, wo | |
| öffentlichkeitswirksam Zelte für Asylsuchende aufgestellt wurden. Er hat | |
| sich auch keine verbalen Entgleisungen erlaubt wie leider manche | |
| Bezirkspolitiker. | |
| Zum Beispiel? | |
| Es ist beschämend, dass die CDU im Neuköllner Ortsteil Rudow zu einer | |
| Bürgerversammlung gegen ein Asylbewerberheim lud, eine ausländerfeindliche | |
| Stimmungsmache nicht unterbunden hat und NPD-Mitglieder nicht des Saales | |
| verwies. Viele Bezirke finden kreative Argumente, warum bestimmte Gebäude | |
| nicht geeignet seien zur Unterbringung von Flüchtlingen. Der | |
| Bildungsstadtrat von Tempelhof-Schöneberg hat auf einer SPD-Veranstaltung | |
| die „Belastung“ für seinen Bezirk durch eine geplante Flüchtlingsunterkun… | |
| beklagt. Und Lichtenberg spricht in einer Presseeinladung von der | |
| „Asylbewerberproblematik“. | |
| Was ist dagegen einzuwenden? Presseeinladungen widmen sich doch immer | |
| irgendwelchen „Problematiken“. | |
| Berlin hat kein Asylbewerberproblem – Berlin hat ein Wohnungsproblem und | |
| eine überforderte Verwaltung. Bezirkspolitiker sind oft sauer, wenn das | |
| Land über ihren Kopf hinweg über Nacht ein neues Heim einrichtet. Aber da | |
| muss man auf die Wortwahl achten, um keine Stimmungsmache gegen Flüchtlinge | |
| zu betreiben. Bundesweit beschäftigen sich Rechtsextremisten zunehmend mit | |
| Flucht und Asyl. Siehe die Demonstration in Rudow und den Anschlag auf das | |
| Flüchtlingsheim in Waßmannsdorf. Umso wichtiger ist, dem nicht Vorschub zu | |
| leisten. | |
| Flüchtlingen aus Serbien und Mazedonien wird unterstellt, sie kämen in | |
| großer Zahl, seit es mehr Sozialleistungen für Asylbewerber gibt. | |
| Das ist eine massive Vorverurteilung. Wenn jemand sein Zuhause verlässt, | |
| steckt mehr dahinter als der Wunsch nach ein paar Euros mehr. Roma aus | |
| diesen Staaten fliehen aus existenziell bedrohlichen Verhältnissen. Oft | |
| sind die Kinder von Schulbildung und ganze Familien von der | |
| Gesundheitsversorgung ausgeschlossen. | |
| Konservative Politiker argumentieren, die Anerkennungsquote als politische | |
| Flüchtlinge liege bei den Menschen aus Serbien und Mazedonien bei 0,02 | |
| Prozent. | |
| Das ist das Ergebnis der deutschen Asylpolitik. Für Flüchtlinge aus diesen | |
| Staaten wurden sogenannte Direktverfahren eingeführt – nichts anderes als | |
| Schnellverfahren. Die Anhörungen finden unmittelbar nach der Einreise | |
| statt, sodass keine Zeit für eine Beratung bleibt. Außerdem werden die | |
| Verfahrensstandards massiv unterlaufen. Die Anhörungen dauern kaum zwei | |
| Stunden. Die Anhörer fragen nicht nach und auch nicht nach Dokumenten, auf | |
| die es aber ankommt. Oft wird nicht einmal die Rückübersetzung des | |
| Anhörprotokolls für nötig gehalten. Die Betroffenen müssen es auf Deutsch | |
| unterschreiben, ohne es zu verstehen. | |
| Eine alte Forderung des Flüchtlingsrats ist es, Flüchtlinge in Wohnungen | |
| statt in Heimen unterzubringen. Ist das angesichts der Lage auf dem | |
| Wohnungsmarkt noch zeitgemäß? | |
| Natürlich. Niemandem ist geholfen, wenn Flüchtlingen in riesigen Heimen | |
| konzentriert wohnen. Der Senat muss aktiver werden. Er muss zum Beispiel | |
| bei den landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften die ausgehandelten 275 | |
| Wohnungen für Asylsuchende durchsetzen. Und er muss eine größere Zahl | |
| aushandeln. Das Landesamt für Gesundheit und Soziales hat uns | |
| dankenswerterweise zugesagt, bürokratische Hürden bei der Wohnungssuche | |
| abzubauen. Wir fordern zudem, dass der Senat die Höhe der übernommenen | |
| Miete den Marktrealitäten anpasst. | |
| Mark Rackles, SPD-Staatssekretär für Bildung, hat erklärt, die Beschulung | |
| aller Asylbewerberkinder sei gewährleistet. Aus manchen Bezirken hört man | |
| anderes. Was stimmt? | |
| Es fehlen berlinweit Plätze in Kleinklassen, in denen die Neuankömmlinge | |
| zuerst Deutsch lernen. In vielen Bezirken, etwa in Mitte, landen diese | |
| Schüler auf Wartelisten. Spandau zögert die Untersuchung beim Schularzt oft | |
| so lange hinaus, bis die Schüler die Erstaufnahmeeinrichtung verlassen | |
| haben und in anderen Bezirken leben. | |
| Das weiß die Schulverwaltung nicht? | |
| Wir bitten Schulsenatorin Sandra Scheeres (SPD) seit Wochen um einen | |
| Gesprächstermin. Einigen Schulämtern unterstelle ich, dass sie die | |
| Schulpflicht von Flüchtlingskindern sehr lax auslegen. Die größten Sorgen | |
| bereitet uns Tempelhof-Schöneberg. Hier verhindert unnütze Bürokratie den | |
| schnellen Schulbesuch. Das Schulamt fordert, dass die Eltern die Kinder | |
| persönlich anmelden und haufenweise Unterlagen mitbringen. | |
| Ist das nicht eine Selbstverständlichkeit? | |
| Theoretisch ja. Aber es liegt in der Natur der Flucht, dass man in der | |
| Regel weder die vom Schulamt neuerdings verlangte Geburtsurkunde mitnehmen | |
| konnte noch ein Schulzeugnis. Darum war die alte Lösung sinnvoll, wonach | |
| das Heim die Neuankömmlinge dem Schulamt meldete und die Sozialarbeiter die | |
| Schulsuche begleiteten und nachhaken konnten, wo es nötig war. Wir haben | |
| als Flüchtlingsrat einige Kinder dieses Bezirks mit anwaltlichem Beistand | |
| unterstützt, sich einen Schulplatz einzuklagen. Seitdem besteht der Bezirk | |
| auf dem umständlichen Verfahren. Wir haben den Eindruck, das ist die | |
| Retourkutsche. | |
| Tempelhof-Schöneberg hat auch separate Klassen im Flüchtlingsheim | |
| eingerichtet. | |
| Auch andere Bezirke spielen immer wieder mit dem Gedanken. Das lehnen wir | |
| kategorisch ab. Wenn die Räume knapp sind, warum unterrichtet man | |
| ausgerechnet Flüchtlinge außerhalb der Schulen? Es ist noch kein Bezirk auf | |
| die Idee gekommen, die musikbetonten Klassen auszusperren. Wir fordern vom | |
| Senat ein organisatorisches und pädagogisches Konzept für die Unterrichtung | |
| von Flüchtlingskindern. Berlin findet kaum Lehrer für die Kleinklassen, und | |
| ihnen ist es oft selbst überlassen, was sie unterrichten. | |
| 12 Dec 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Marina Mai | |
| Marina Mai | |
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