| # taz.de -- Serie Landkreis XXL: „Sei tapfer mein Freund und sag Nein“ | |
| > Viel Arbeitszeit wird heute schon auf der Landstraße verbracht, klagt der | |
| > Theaterdirektor. Die Spielstätten für Philharmoniker, Schauspieler und | |
| > Tänzer liegen weit auseinander. | |
| Bild: Das Landestheater in Neustrelitz. | |
| NEUSTRELITZ/NEUBRANDENBURG taz | „Da wären wir“, sagt der Sandmann. „Wen | |
| haben wir denn da?“ fragt die Blitzhexe. „Kommt mit uns nach Bremen“, sin… | |
| der Esel. Der Dezember ist Hochsaison – für Weihnachtsmärchen, Musicals, | |
| Sing- und Puppenspiele, Komödien. Keine Zeit der hohen Tragödie. | |
| 30 Kilometer liegen die Theater Neustrelitz und Neubrandenburg auseinander, | |
| das Wetter ist grau und gibt den Blick frei auf die sanft hügelige | |
| mecklenburgische Seenlandschaft. Abwechselnd treten die Schauspieler, | |
| Sänger, Musiker und Tänzer der Theater und Orchester GmbH | |
| Neubrandenburg/Neustrelitz in den beiden Spielstätten auf. | |
| Das einst herzogliche Landestheater in Neustrelitz, das kleinere | |
| Schauspielhaus in Neubrandenburg: Zwei Dienstorte, Pkw erforderlich, so | |
| steht es im Arbeitsvertrag der Ensemblemitglieder. | |
| „Eine Vielzahl von Diensten findet zwangsläufig auf der Landstraße statt“, | |
| sagt Wilhelm Denné, Geschäftsführer des Vierspartenbetriebs, der Konzerte, | |
| Tanz, Theater und Oper an insgesamt vier Spielorten bietet. Einer davon ist | |
| der Neustrelitzer Schlossgarten, der im Winter eine eher trüb-matschige | |
| Angelegenheit ist. Spielpause. Es wird saniert. | |
| Nebenan sitzt Wilhelm Denné in seinem Büro des Landestheaters. Die niedrige | |
| Decke, der gelbe Anstrich erinnern entfernt an die barocke Vergangenheit | |
| des Hoftheaters, das zweimal niederbrannte. | |
| Der 58-Jährige stammt aus dem Saarland, zu dem der Landkreis | |
| Mecklenburgische Seenplatte neuerdings oft ins Verhältnis gesetzt wird: Er | |
| ist doppelt so groß wie das südwestliche Bundesland. | |
| „Aber dort funktioniert alles halbwegs, weil die Infrastruktur anders ist“, | |
| sagt der Verwaltungsfachmann. Das Neustrelitzer Theater befindet sich in | |
| einem Flächenland – weit und breit wenig Menschen, die immer noch weniger | |
| werden und älter. Für die defizitären Kommunen und Kreise ein großes | |
| Problem: Wie sollen sie Kultur, die als freiwillige Leistung gilt, | |
| gewährleisten? | |
| ## Geld fürs Theater | |
| Wo wenig Menschen leben, ist auch das Steueraufkommen gering. So gesehen | |
| gibt Mecklenburg-Vorpommern im Schnitt sehr viel mehr pro Kopf für Theater | |
| aus als andere Bundesländer – 22,30 Euro pro Einwohner im Jahr. | |
| So hat es die Münchener Agentur Metrum errechnet, die vom Kultusministerium | |
| in Schwerin beauftragt wurde, die Theater- und Orchesterstrukturen in | |
| Mecklenburg-Vorpommern zu evaluieren. Noch unter der alten Landesregierung | |
| war das Budget für die acht Theater im Land auf 35,8 Millionen per | |
| Finanzausgleichsgesetz festgelegt worden. Die Summe ist seit Jahren gleich | |
| und soll bis 2020 nicht erhöht werden. | |
| Bis dahin müssen die Theater zu neuen Struktur- und Finanzierungsmodellen | |
| gefunden haben. Sie sollen sparen, fusionieren, notfalls schließen. Sie | |
| sollen innovativ sein. Sie sollen die 1,6 Millionen Einwohner | |
| Mecklenburg-Vorpommerns bespaßen, bespielen, unterhalten, bilden. | |
| ## Ein empörter Chefdirigent | |
| Bei einer Anhörung im Schweriner Landtag sagt Stefan Malzew, der | |
| Chefdirigent der Neubrandenburger Philharmoniker, empört: „Ein Orchester | |
| funktioniert doch nicht nach dem Baukastenprinzip.“ Wenn eine Oboe | |
| wegfällt, kann man sie nicht durch einen Streicher ersetzen. Für sein | |
| Orchester schließt Malzew eine Fusion mit den Orchestern in Stralsund oder | |
| Greifswald aus. | |
| „Unmöglich“, sagt er später im Gespräch und schüttelt seinen Wuschelkop… | |
| Das sei, als spanne man Trabbi und Mercedes zusammen. Keine Frage, dass er | |
| sein Orchester, das der Neubrandenburger Konzertkirche gefüllte Sitzreihen | |
| beschert, für den Mercedes hält. | |
| Sein geschäftsführender Direktor Wilhelm Denné gibt sich konzilianter. Man | |
| könne nicht nur Nein sagen. Im Tanz- und Theaterbereich hält er Fusionen | |
| mit den Theatern in Vorpommern für „leistbar – mit Verlusten“. Menschlic… | |
| Verluste, künstlerische Abstriche, weniger Vorstellungen. | |
| Im Musikbereich sei eine Fusion wesentlich schwieriger, glaubt auch Denné. | |
| Schon weil die Orchestermusiker die mächtige Deutsche Orchestervereinigung | |
| hinter sich haben, die sich um Tarifverträge, Dienstzeiten, | |
| Pausenregelungen kümmert. Bitter ist für ihn, dass sein Haus in Neustrelitz | |
| bereits 2001 eine Fusion aus Kostengründen vollzogen hat: mit | |
| Neubrandenburg. Damals fielen dort das Kammertheater und in Neustrelitz das | |
| Opernorchester weg. 556 Mitarbeiter hatte das Theater nach der Wende, heute | |
| sind es 238. Wen oder was soll man jetzt noch einsparen? | |
| ## Löcher im Fußboden | |
| „Ich kann eigentlich nur jammern“, sagt Heinrich Pfeilschifter. „Aber | |
| wollen Sie das hören?“ Energischen Schrittes führt der technische Direktor | |
| durch die Korridore, Lagerhallen und Werkstätten des Theaters in | |
| Neustrelitz. Der Fundus ist im Marstall untergebracht, „extrem | |
| umständlich“. | |
| Der Fußboden hat Löcher. „Man müsste eigentlich dringend die ganze | |
| Bühnentechnik erneuern, auch die Drehbühne“, sagt Pfeilschifter. „Aber in | |
| der jetzigen Situation investiert doch niemand hier.“ Zwölf Jahre hat der | |
| gebürtige Süddeutsche zuletzt an der Berliner Schaubühne gearbeitet. „Eine | |
| andere Welt.“ | |
| In Neustrelitz gehe es ums nackte Überleben. In der Gewandmeisterei werden | |
| die Stoffe zugeschnitten, gebügelt. Vierzig Jahre ist die Mitarbeiterin | |
| schon am Haus. Ein Theaterplastiker arbeitet an zwei riesigen Masken, die | |
| sich die Schauspieler über den Kopf stülpen können. Anderthalb Wochen | |
| braucht so ein Kopf, erklärt er. „Die lieben ihr Theater“, sagt | |
| Pfeilschifter über seine Mitarbeiter. „Sie geben ihr Bestes. Und deswegen | |
| wollen sie wertgeschätzt sein.“ | |
| ## Neun Modelle für die Fusion | |
| Von dieser Wertschätzung ist bei der Anhörung im Schweriner Landtag wenig | |
| zu vernehmen. Die Agentur Metrum hat neun Modelle zur Kooperation und | |
| Fusion der Theater und Orchester im Land vorgeschlagen, der Kulturausschuss | |
| im Schweriner Landtag will die Beteiligten hören – Direktoren, | |
| Kommunalpolitiker, Interessenvertreter. Auch ein Vertreter des Kreises | |
| Mecklenburgische Seenplatte ist gekommen. | |
| Viel ist bei der Anhörung von „kulturellen Leuchttürmen“ die Rede. Damit | |
| sind vor allem Schwerin und Rostock gemeint. Doch was passiert „mit der | |
| Fläche“? Die bedienen die kleineren Theater wie Neustrelitz, Neubrandenburg | |
| oder Anklam. Sind sie verzichtbar? | |
| „Theater schafft Identitäten“, sagt Wolfgang Lachnitt, Operndirektor in | |
| Neustrelitz. „Als das Kammertheater Neubrandenburg zugemacht wurde, sind | |
| die Leute weggeblieben. Sie wenden sich vom Theater ab, sie fahren nicht | |
| woandershin.“ | |
| ## Molière im Kunsthaus | |
| 22.000 Einwohner hat Neustrelitz, die alte Residenzstadt, die sich gerade | |
| erst diesen Titel zurückerobert hat, seitdem sie an Neubrandenburg den Rang | |
| der Kreisstadt abtreten musste. Der Schinkel-Schüler Friedrich Wilhelm | |
| Büttel hat die barocke Stadtansicht von Neustrelitz geprägt: sternförmig | |
| ist der Marktplatz angelegt, von dem aus strahlenförmig acht breite Straßen | |
| abgehen, für den heutigen Verkehr eher überdimensioniert. | |
| Nah am Marktplatz liegt auch das Neustrelitzer Kunsthaus, eine | |
| Gründerzeitvilla. Schüler Max hat sich einen orangefarbenen Bademantel von | |
| zuhause mitgebracht. „Als Angebot für die Probe.“ Er mimt den | |
| „Eingebildeten Kranken“ von Molière, vier Mädchen agieren um ihn herum. | |
| „Es hat gerade keinen Anschluss, keinen Rhythmus“, greift Michael Goralczyk | |
| ein, der die Theater AG des Carolinums, des örtlichen Gymnasiums, leitet. | |
| Die Frau Notarin soll den Hypochonder umgarnen – mit schwarzen Handschuhen. | |
| Nach einigen Anläufen wird die Szene griffiger. | |
| AG-Leiter Michael Goralczyk gehört zum kleinen Ensemble des Landestheaters. | |
| Die Theater-AG hat er vor drei Jahren auf Anfrage der Schule übernommen. Er | |
| mag Neustrelitz. „Hier kann man schneller was auf die Beine stellen als in | |
| Berlin“, sagt er und verweist auf das Kunsthaus. | |
| ## Kultur in Neustrelitz | |
| Ein gutes Umfeld für die Nachwuchspflege. Die Schüler kommen zum Proben, | |
| sie gehen ins Theater, um ihn spielen zu sehen. Stella Schüssler, die | |
| dunkelhaarige Leiterin, gesellt sich hinzu. Das Kunsthaus sei sogar aus dem | |
| Umfeld von Theaterleuten gegründet worden, berichtet sie. „Neustrelitz ist | |
| ein guter Ort. Er hat sich entschieden: Hier soll Kultur stattfinden.“ | |
| Mit zehn Prozent ist die Stadt an der Theater und Orchester GmbH beteiligt, | |
| fünfzig Prozent gibt Neubrandenburg, vierzig Prozent der Kreis. Die | |
| Zuwendungen vom Land sind für den Vierspartenbetrieb unverzichtbar. | |
| Noch ist nichts entschieden: Doch die Frage, ob die GmbH mit anderen | |
| zusammengehen muss, ist nicht vom Tisch. Da gibt es kleinere und größere | |
| Übel, da gibt es ein Gestrüpp an Tarifverträgen, da gibt es die Frage, die | |
| ein Ausschussmitglied im Schweriner Landtag stellte: Wie hoch sind | |
| eigentlich die Kosten einer Umstrukturierung? | |
| ## Theater in der DDR | |
| Michael Goralczyk hat Sprechprobe für „Das Jahrmarktsfest zu | |
| Plundersweilen“. Der Verfasser Peter Hacks war ein gefeierter | |
| DDR-Dramatiker. Überhaupt die DDR. Sie war ein Staat, in dem Theater | |
| wichtig war. Vielleicht auch das ein Grund, warum die bürgerliche Schicht | |
| in Neustrelitz noch ins Theater geht. „Die Mutter mit der Tochter“, sagt | |
| der technische Leiter. | |
| Das Theatermobiliar ist original DDR-Ausstattung. Die Wandlüster im Foyer | |
| hätten auch in „Erichs Lampenladen“, dem Palast der Republik, in Berlin | |
| hängen können. In der Pause unterhalten sich die Beteiligten, diskutieren | |
| die Theatermodelle. Die Ausstatterin ist bereits abgereist. Sie hat drei | |
| Stunden Fahrt nach Anklam vor sich. Eine Kooperation der beiden Bühnen. Ist | |
| das die Zukunft? | |
| Im Bühnenraum steht noch von der letzten Vorstellung ein Schild mit dem | |
| Spruch „Sei tapfer mein Freund und sag Nein“. Es stammt aus dem | |
| Brecht-Weill-Stück „Happy End“. | |
| 29 Dec 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Sabine Seifert | |
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