| # taz.de -- Jugendarbeit im Großkreis: Die 9-Euro-Grenze im Norden | |
| > Ein Jugendclub nach dem anderen muss in Neubrandenburg schließen. Denn | |
| > der neue Kreis hat kein Geld und Jugendarbeit in der Kleinstadt ist | |
| > teuer. | |
| Bild: Nichts los in Neubrandenburg – und bald sind wohl auch die Jugendclubs … | |
| NEUBRANDENBURG taz | Chrom und Teerschwarz, das sind im Reitbahnviertel die | |
| Farben des Verlassenen. Ein leer stehendes Gebäude bemerken die Sprüher in | |
| dem Neubrandenburger Plattenbaubezirk sofort. An der Giebelseite des | |
| Jugendclubs „Zebra“ leuchtet ein Gewirr aus Linien und Schriftzügen. Bernd | |
| Fuhrmann schaut durch das Tor. Eine umgeworfene Bank, eine Sprühdose. „Das | |
| ist einfach nur traurig“, sagt er. Fuhrmann arbeitet für den Verein Mosaik, | |
| der die meisten Jugendclubs in der Stadt betreibt. | |
| Das „Zebra“ existierte 26 Jahre lang, ein paar Graffiti gab es schon immer. | |
| Doch die Bilder an den Seitenwänden sind bunt und ausgearbeitet; Ergebnis | |
| eines Aktionstages, wie Fuhrmann erzählt. Als der Club geschlossen wurde, | |
| gab es kaum Protest. Nur einige verabschiedeten sich – mit Chrom und | |
| Teerschwarz. | |
| Auch der Trägerverein „Evergreen“ hat sich aufgelöst, die Geschäftsführ… | |
| hat einen anderen Job. Jugendsozialarbeit in Neubrandenburg bietet keine | |
| Sicherheit mehr. 2011 genehmigte der Kreistag die Zuschüsse für die | |
| Jugendclubs im Dreimonatstakt. Die meisten Verträge sind befristet, die | |
| Vereine haben kaum Rücklagen. Ein zweiter Club wird noch 2012 schließen. | |
| „Es ist nicht angenehm, seine Angestellten präventiv zu entlassen“, sagt | |
| Fuhrmann. | |
| Der Grund ist ein Streit zwischen Neubrandenburg und den anderen Gemeinden | |
| im Landkreis. Bis zur Gründung des Kreises Mecklenburgische Seenplatte | |
| wirtschaftete Neubrandenburg autonom. Etwas mehr als 60 Euro gab die | |
| kreisfreie Stadt pro Jahr für Jugendliche zwischen 10 und 26 Jahren aus, | |
| wie Fuhrmann ausgerechnet hat. Im neuen Kreis verlor Neubrandenburg die | |
| Kreisfreiheit und zahlt nicht mehr für Jugendhilfe. | |
| Denn Jugendhilfe ist Aufgabe des Kreises, der unter anderem durch die | |
| Kreisumlage Neubrandenburgs finanziert wird. Pflichtleistungen wie | |
| Kita-Plätze muss der Kreis voll zahlen und im Zweifel anderswo kürzen. | |
| Jugend- und Schulsozialarbeit sind ebenfalls Pflicht, doch hier kann der | |
| Kreis selbst über die Höhe entscheiden. | |
| Und die Städte und Gemeinden in den früheren Kreisen Müritz, Demmin und | |
| Mecklenburg-Strelitz haben schon seit Langem nur zwischen 5,11 Euro und 13 | |
| Euro pro Jugendlichem bekommen. Sie sperren sich, die höheren Ausgaben in | |
| Neubrandenburg mitzutragen. | |
| ## „Dann machen auch die anderen dicht“ | |
| Das letzte Wort im Kreistag: 9 Euro pro Kopf und eine Übergangsfinanzierung | |
| für ausgewählte Einrichtungen und Projekte, darunter vier Clubs in | |
| Neubrandenburg. Das Geld fließt noch bis Ende 2012. Bernd Fuhrmann hofft, | |
| dass der Kreistag bis dahin eine neue Übergangslösung findet. Sonst müsste | |
| der Verein Miete und Gehälter selbst finanzieren – doch die Rücklagen sind | |
| so gut wie aufgebraucht. Und dann? „Dann machen eben auch die anderen Clubs | |
| dicht.“ | |
| In Malchow, sechzig Kilometer westlich von Neubrandenburg, leben 6.700 | |
| Menschen. Die Altstadt wird von zwei Seen umflossen. Das Rathaus ist ein | |
| Backsteinbau, oben steht Justitia mit der Waage. Darum geht es in diesem | |
| Streit, um Gerechtigkeit. | |
| So sieht das Joachim Stein, Bürgermeister von Malchow und Kreistagsmitglied | |
| der Grünen. Er rechnet vor: Im Gebiet des früheren Kreises Müritz leben | |
| etwa 10.000 Jugendliche, so viele wie in Neubrandenburg. Vom Landkreis | |
| Müritz bekamen die Gemeinden nur den Minimalzuschuss von 5,11 pro Kopf. | |
| „Damit sind wir immer gut zurechtgekommen. Wir brauchen keine Almosen des | |
| Kreises, die kann er sich auch gar nicht leisten“, sagt Stein. | |
| Erst vor Kurzem wurde der Etat für 2012 genehmigt, mit einem Defizit von | |
| 24,5 Millionen Euro. 5 Millionen sollen noch bis Ende des Jahres gespart | |
| werden. „Wir zahlen die Zeche über die Kreisumlage“, kommentiert Stein. Als | |
| er vor 20 Jahren Bürgermeister wurde, war die Stadt am Ende, drei | |
| Firmenpleiten, 1.400 Arbeitsplätze weg. Inzwischen gibt es ein | |
| Gewerbegebiet, jedes Jahr kommen mehr Touristen. „Wenn etwas funktionieren | |
| soll, muss man es selbst machen“, sagt Stein und steigt in seinen alten | |
| Hyundai. | |
| Wenig später rumpelt der Wagen durch Schlaglöcher auf der Autobahnabfahrt. | |
| Die Drehbrücke im Stadtzentrum wird erneuert, deshalb der Umweg, erklärt | |
| Stein. „Für die Sanierung zahlen wir 6 Millionen. Und die Straße hier | |
| packen wir auch noch in diesem Jahr an.“ Er deutet auf einen grauen Kasten | |
| aus vier Containern: das Jugendzentrum, seit Anfang des Monats geschlossen. | |
| „Die Nachfrage war einfach nicht da. Wir denken über ein neues Konzept | |
| nach.“ | |
| Bei der Jugendförderung setzt Stein andere Akzente: Er unterstützt Vereine | |
| und die Schulsozialarbeit. „Vor allem der Einsatz an der Schule ist mir | |
| wichtig. Hier erreichen wir alle Kinder.“ Stein parkt an der | |
| Fleesenseeschule und eilt durch das Atrium. | |
| ## „Die Politik lebt in einer anderen Welt“ | |
| Das Büro von Nadja Ismail ist hell, an den Wänden hängen Zeichnungen. | |
| Ismail ist seit einem Jahr Schulsozialarbeiterin. Sie hat | |
| Betriebswirtschaft studiert und für eine Veranstaltungsfirma gearbeitet. | |
| „Das war mir zu sinnlos. Außerdem wollte ich zurück nach Malchow.“ Stein | |
| bot ihr die Stelle an, unbefristet. Ismail ließ sich zur | |
| Erziehungsberaterin fortbilden, trotzdem zahlt der Kreis nicht. Ihr fehle | |
| die Qualifikation, heißt es. Deshalb studiert sie jetzt nebenher soziale | |
| Arbeit. Stein zahlt ihr Gehalt so lange aus Mitteln der Stadt. | |
| „Wozu ist denn die Kommune da, wenn nicht um die Jugend zu fördern?“ Stein | |
| kommt wieder auf Neubrandenburg zu sprechen. Aus seiner Sicht eine Stadt, | |
| die ihren Aufgaben nicht nachkommt. „Ich spüre da gelegentlich eine | |
| Blockadehaltung, die nichts mit Inhalten zu tun hat, sondern mit einer | |
| grundsätzlichen Abwehrhaltung gegen den Großkreis. Viele hatten sich wohl | |
| darauf eingerichtet, dass er doch nicht kommt“, sagt er. „Wenn ich sehe, | |
| was in der Stadt vor sich geht, dann denke ich: Die Politik dort lebt in | |
| einer anderen Welt.“ | |
| Wenn Jan Glawe und Krzysztof Jastrzebski mit dem Caritas-Transporter in | |
| Neubrandenburg parken, sind sie bald umringt. Glawe, ein junger Mann mit | |
| Dreitagebart, kurbelt das Fenster herunter. Ein Junge, nennen wir ihn | |
| Julian, zieht sich am Spiegel hoch. „Wie geht’s?“ – „Geht so.“ Es i… | |
| Ritual der mobilen Jugendarbeit: langsam Vertrauen schaffen, zuhören, was | |
| die Kinder und Jugendlichen sagen. Glawe macht einen Scherz, Julian drückt | |
| auf den Armaturen herum. „Sag mal, warst du heute in der Schule“, fragt | |
| Glawe. „Nee“, antwortet Julian und schaltet den Warnblinker ein. Genau | |
| genommen war er seit Wochen nicht mehr regelmäßig dort. Glawe hat schon mit | |
| seiner Mutter gesprochen, doch die ist überfordert. | |
| „Datzeberg, Reitbahnviertel, Oststadt – das sind schwierige Gegenden“, sa… | |
| Glawe. Vor Kurzem berichtete die Rektorin der Grundschule Datzeberg von | |
| Prügeleien, sexuellen Übergriffen und einer Attacke auf eine Lehrerin. „Wir | |
| haben das Gefühl, dass sich hier gerade ein mühsam etabliertes Netzwerk | |
| auflöst“, sagt Glawe. Auch die Mitarbeiter der mobilen Jugendarbeit sind | |
| auf Orte angewiesen. „Das ’Zebra‘ war einer unserer Treffpunkte“. | |
| ## „Es geht allein ums Geld“ | |
| Werner Freigang ist Professor an der Hochschule Neubrandenburg und | |
| Fraktionskollege von Bürgermeister Stein im Kreistag. Schon vor Jahren hat | |
| er eine Jugendhilfeplanung für Neubrandenburg erarbeitet. „Wir haben hier | |
| definitiv andere Schwierigkeiten als die Gemeinden auf dem Land“, sagt er. | |
| In den Jahren nach der Wende zogen mehr als die Hälfte der Bewohner aus den | |
| Plattenbauten aus. Die Einwohnerzahl Neubrandenburgs sank um mehr als | |
| 20.000 Menschen. In den Problemvierteln fielen Jugendliche der Polizei 2011 | |
| zwei- bis dreimal so oft wegen Bedrohung, Körperverletzung, Raub oder | |
| Rauschgiftdelikten auf wie in der übrigen Stadt. | |
| „Was Neubrandenburg für die Jugendhilfe ausgegeben hat, lag noch deutlich | |
| unter dem Bedarf“, sagt Freigang. Jetzt plant der Kreis, und der hat zwei | |
| Indikatoren: zum einen die Zahl der Jugendlichen, daran orientieren sich | |
| die Zuschüsse des Landes, die der Kreis gegenfinanziert. Zudem werden | |
| vorrangig Projekte und Einrichtungen gefördert, die auch vom Bund oder der | |
| EU Gelder erhalten. „Da geht es nicht um den Bedarf, es geht allein ums | |
| Geld“, sagt Freigang. | |
| Bernd Fuhrmann schiebt den Regler für die Pausenmusik nach vorn. Applaus | |
| für das Jugendkabarett „Tollense-Stichlinge“. Die sechs Schauspieler | |
| verlassen die Bühne. Fuhrmann hat früher selbst Kabarett gespielt, das war | |
| sein Einstieg in die Jugendarbeit. „Man merkt doch, das macht etwas mit den | |
| Kindern. Das bewegt etwas.“ Wenig später ist die Hochstimmung verflogen. | |
| „Die Bühne können wir ohne Zuschüsse auch nicht finanzieren.“ Warum tut … | |
| sich das noch an? Fuhrmann denkt kurz nach, dann fällt ihm ein Satz ein, | |
| den er dem Kabarettisten Georg Schramm zuschreibt: „Es geht nicht um die | |
| persönliche Befindlichkeit. Es geht um die Sache.“ | |
| 1 Nov 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Urs Spindler | |
| ## TAGS | |
| Landkreis | |
| Jugendarbeit | |
| Mecklenburg-Vorpommern | |
| Kreisgebietsreform | |
| Reform | |
| Mecklenburg-Vorpommern | |
| Mecklenburg-Vorpommern | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Kommune Diekhof ist pleite: Die Amts-Niederlage | |
| Die Schuldenlast der Gemeinde Diekhof ist zu groß, der Spielraum ihrer | |
| Vertreter zu klein. Der Gemeinderat trat deswegen kollektiv zurück. Und | |
| nun? | |
| Großkreis XXL: Die Spur der Kraniche | |
| Der Müritz-Nationalpark ist das Juwel der ganzen Region. Parkverwaltung und | |
| Anrainer sagen: Den Großkreis finden wir gut. | |
| Serie Landkreis XXL: Der Balkan nebenan | |
| Die Größe des neuen Kreises Mecklenburgische Seenplatte erschwert die | |
| Kommunalpolitik. In nur einem Jahr schmiss jeder elfte Abgeordnete im | |
| Kreistag hin. | |
| Serie Landkreis XXL: „Sei tapfer mein Freund und sag Nein“ | |
| Viel Arbeitszeit wird heute schon auf der Landstraße verbracht, klagt der | |
| Theaterdirektor. Die Spielstätten für Philharmoniker, Schauspieler und | |
| Tänzer liegen weit auseinander. | |
| Zusammenwachsen im Großkreis: Man ist sich fern | |
| Landrat Heiko Kärger vom Kreis Mecklenburgische Seenplatte hat eine | |
| Mammutaufgabe. Er muss dafür sorgen, dass der Kreis zu einer Einheit wird. | |
| Landkreis XXL: Eine Grube für die Bauern | |
| Eine Abfalldeponie im Vogelschutzgebiet? Nicht nur Bauer Witte ist dagegen. | |
| Auch der Kreistag der Region lehnt die 400-Tonnen-Schutthalde ab. | |
| Serie Landkreis XXL: Die Sammler aus der Seenplatte | |
| Der neue Landkreis Mecklenburgische Seenplatte startet mit einem riesigen | |
| Defizit. Vermutlich werden die Gelder für Museen gekürzt – und alle haben | |
| Angst, dass es sie trifft. | |
| Serie Landkreis XXL: Geschichten aus der Murkelei | |
| Der Kreis Mecklenburgische Seenplatte ist seit einer Reform doppelt so groß | |
| ist wie das Saarland. Wie verändert dies die Politik? |