# taz.de -- Serie Landkreis XXL: Geschichten aus der Murkelei | |
> Der Kreis Mecklenburgische Seenplatte ist seit einer Reform doppelt so | |
> groß ist wie das Saarland. Wie verändert dies die Politik? | |
Bild: Das „Land der tausend Seen“ ist frisch geboren und schon verschuldet. | |
NEUBRANDENBURG/NOSSENTINER HÜTTE taz | Es geht auf zehn, längst ist es | |
dunkel draußen. Seit vier Stunden tagt der Kreistag in der Mensa der | |
Hochschule Neubrandenburg. Er hat Kreiswehrführer abberufen und neue | |
ernannt, er hat den Bericht des Landrates gehört und die Anliegen von | |
Einwohnern entgegengenommen, er hat eine Gratulation verabschiedet und | |
einen sachkundigen Einwohner verpflichtet. Und manchmal sogar diskutiert. | |
„Ich hoffe, Sie haben noch den Überblick“, hat der Kreistagspräsident in | |
den Saal gerufen und der Landrat hat eingeräumt, dass er „leider keinen | |
ausgeglichenen Haushalt“ vorlegen könne. | |
Es ist das erste Haushaltsjahr im neuen Landkreis Mecklenburgische | |
Seenplatte, er ist mit 5.500 Quadratkilometern der größte Kreis | |
Deutschlands und doppelt so groß wie das Saarland. Das „Land der tausend | |
Seen“ ist frisch geboren und schon verschuldet. Das größte Kind der | |
Kreisgebietsreform 2011, die vom Landtag in Schwerin beschlossen wurde, | |
damit die größeren Kreise „leistungsfähig“ in die Zukunft aufbrechen, hat | |
ein Minus von 15 Millionen Euro am Hals. | |
Warum? Die Zuweisungen vom Land fallen kleiner aus und die Rücklagen der | |
Kommunen schmelzen, erinnert der Landrat. Ein Bonbon hat er trotzdem. „Zwei | |
Bürger des Landkreises haben heute das Bundesverdienstkreuz bekommen.“ Die | |
Volksvertreter quittieren das mit mattem Applaus. | |
Immer wieder sind Einzelne ins Foyer gehuscht, um sich mit Kaffee und | |
Würstchen aufzuputschen. Einem Christdemokraten hilft auch das nicht mehr. | |
„Ich beantrage, die Sitzung für heute zu unterbrechen. Es ist keinem | |
Kreistagsmitglied zumutbar. Wir sind berufstätig. Wir können keine | |
Beschlüsse fassen, die die Mitglieder nicht verantworten können“, ruft er | |
den Leidensgenossen zu. So sehr ihnen der Dissident, im Hauptberuf Lehrer, | |
auch aus der Seele spricht, sein Antrag wird abgelehnt. Also schnappt der | |
CDU-Mann seine Tasche und geht. 36 Kilometer Straße liegen noch vor ihm. | |
Auch ein Mitglied der Grünen verschwindet. Er hat 64 Kilometer vor sich. | |
Die Übrigen quälen sich durch die Tagesordnung, beauftragen den Landrat, | |
sich mit einer Mülldeponie zu beschäftigen und beraten über die | |
Amtsgerichte. | |
## Jetzt sind es 70 Kilometer | |
Um halb elf eilen 58 Volksvertreter zu den Autos, bald darauf rauscht ein | |
Pulk an der Stadtmauer vorbei, bis sich die Wagen in alle Himmelsrichtungen | |
zerstreuen. Stille legt sich über Stadt und Landkreis, für den 77 | |
Kreistagsmitglieder Verantwortung tragen, und der so grenzenlos ist, dass | |
viele noch mehr als eine Stunde über Landstraßen juckeln. 15 | |
Kreistagsmitglieder waren erst gar nicht erschienen, vier haben vor der | |
Zeit kapituliert. | |
Kreistagsmitglied Dr. Hartwig Kurth sitzt auf der Terrasse seines Hauses in | |
Nossentiner Hütte am westlichen Ende des Kreises. Die kräftezehrende | |
Sitzung liegt Wochen zurück. Der Hund schleicht über den Hof, die Kühe auf | |
der Weide muss Kurth noch tränken. In der Scheune gegenüber steht seine | |
Frau und verkauft Eimer, Gummistiefel, Sensenbäume, Mausefallen – kurz | |
alles, was das Dorfleben ein wenig leichter macht. Morgen will Kurth nach | |
Stettin, Wellblech holen. Genug zu tun hätte er, ganz ohne Kreistag. | |
Hartwig Kurth ist seit 2004 Mitglied im Kreistag. Früher fuhr er 25 | |
Kilometer zu den Sitzungen, jetzt sind es 70, früher war er Abgeordneter | |
der CDU, jetzt macht er für die Freien Wähler Politik. Der Landwirt und | |
Unternehmer, 62 Jahre alt, gehörte zu denen, die den Großkreis verhindern | |
wollten. Auch viele der alten Landkreise stemmten sich dagegen. | |
Widerstandsnester gab es an der Müritz zuhauf. Alles vergebens. Denn die | |
Landes-CDU, einst schärfste Gegnerin der Großkreise, schwenkte 2008 um, als | |
sie Juniorpartnerin der SPD in der großen Koalition in Schwerin wurde. Ein | |
CDU-Mann brachte damals das Kunststück fertig, im Landtag für die | |
Kreisfusion zu stimmen und im Kreistag dagegen. Kurth schüttelt heute noch | |
den Kopf über so viel Selbstverleugnung. Er trat aus der CDU aus. | |
## Kreisumlage hat sich verdoppelt | |
Kurth hat ein Büchlein hervorgeholt. Schwarzer Einband, Lesebändchen, | |
karierte Seiten voller Notizen. Es ist sein kommunalpolitisches Vademekum, | |
randvoll mit Reizwörtern und roten Zahlen. „Hier, um sieben Prozent ist die | |
Kreisumlage 2012 gestiegen“, liest er vor. Von 185.000 Euro auf 197.000 | |
Euro – allein für die Gemeinde Nossentiner Hütte, drei Dörfer, | |
siebenhundert Einwohner. 13.000 Euro mehr als im alten Kreis. | |
Kreisumlage – das ist das Wort, das den Volksvertretern in den Ohren brummt | |
wie eine Aufforderung zur Fron. Presst doch die Umlage den Dörfern die | |
Groschen ab und leitet sie in die Kasse des Kreises, damit dieser Ämter und | |
Schulen betreiben, Straßen und Museen erhalten, Müllabfuhr, Nahverkehr, | |
Katastrophenschutz organisieren kann. Kreise haben keine eigenen Steuern. | |
„In den letzten zehn Jahren hat sich die Kreisumlage im Durchschnitt | |
verdoppelt“, rechnet Kurth vor. Solange ein Landkreis noch halbwegs | |
überschaubar war, konnte man den Bürgern erklären, warum für das | |
Landwirtschaftsmuseum eine Spritze aus der Kreiskasse nötig ist. | |
Schließlich sind unter den Besuchern auch Wähler. | |
Und jetzt? Kurth fischt ein weiteres Reizwort hervor: Müritz-Therme. „Jetzt | |
gibt der Kreis Geld für die Therme in Röbel.“ Das Spaßbad in Röbel | |
bezuschusst er mit 125.000 Euro pro Jahr. Röbel liegt am südwestlichen | |
Rand. „Die Gemeinden zahlen alle über die Kreisumlage, dabei wissen die | |
Leute am anderen Ende gar nicht, dass es in Röbel eine Therme gibt.“ Die | |
Therme ist auch ein Denkmal für die Folgekosten von Kreisfusionen. | |
Röbel war einst Kreisstadt, bevor der Kreis 1994 im Müritzkreis aufging. | |
Als Kompensation wurde Röbel die Therme hingesetzt. Die Stadt sollte fortan | |
Urlaubern gefallen. „Die Kosten steigen, die Leute, die das zu verantworten | |
haben, sind weg, und es bleibt an den kleinen Leuten hängen“, brummt Kurth. | |
„Es wird nix billiger. Und mit jedem Zusammenschluss geht ein Stück | |
Identität verloren.“ | |
## Die Kommunen stehen jetzt am Schluss | |
Kurth steht auf, geht über den Hof. Kurzer Blick in die Garage, wo sein | |
Sohn am Trecker schraubt. Er geht zum Treibhaus, zückt ein Messer. „Hier, | |
’ne Frühstücksgurke.“ Er hält eine Gurke mit glatter Haut in der Hand. �… | |
werden nicht länger, schmecken aber gut.“ Man muss nicht alles auf Größe | |
züchten. „Wo ist der Ursprung der kommunalen Selbstbestimmung?“, fragt | |
Kurth und antwortet selbst: „Das sind die Gemeinden. Die beschließen, was | |
der Kreis macht.“ So war das jedenfalls mal gedacht. „Heute gibt das Land | |
vor, was zu machen ist, dann kommt der Kreistag und zum Schluss kommen die | |
Kommunen.“ | |
Verkehrte Welt. Es klingt wie eine Geschichte aus der Murkelei Hans | |
Falladas – sein Dörfchen gehört jetzt übrigens auch zum Großkreis – und… | |
doch kommunaler Alltag. Dabei sind Landkreise und Gemeinden nicht Domänen | |
der Landesregierung, sondern Orte der Selbstverwaltung. „Die | |
Selbstverwaltung in den Gemeinden und Kreisen dient dem Aufbau der | |
Demokratie von unten nach oben“, heißt es in der Landesverfassung. Manche | |
reden von der „Schule der Demokratie“. Nun leert sich die Schule. Vertraten | |
in derselben Fläche bis 2011 über 170 Abgeordnete das Wahlvolk in den drei | |
Kreistagen, sind es jetzt noch 77 – wenn alle kommen. | |
„Die Bereitschaft zur Mitarbeit wird immer geringer, die Leute sehen, dass | |
die Einflussmöglichkeiten schwinden“, beobachtet Kurth. Früher, als er noch | |
in der CDU war, wollte er junge Leute zum politischen Aschermittwoch zu | |
Angela Merkel mitnehmen. „Kein Interesse.“ Als Kurth vor acht Jahren als | |
Christdemokrat erstmals in den Kreistag einzog, hatte die CDU-Fraktion 17 | |
Abgeordnete. Heute kommen aus derselben Region noch vier. Der | |
Altersdurchschnitt in Kurths Fraktion beträgt 55 Jahre, bei der Linkspartei | |
sind es 59, bei den Grünen 52 Jahre. Die CDU schafft es auf 45 Jahre. Der | |
Jungbrunnen im Kreistag ist ausgerechnet das Männer-Quartett von der NPD | |
mit 35 Jahren. | |
## Ein zäher Findungsprozess | |
Die Kühe haben Durst. Kurth fährt die Straße hinab, zeigt die Feuerwehr, | |
das Gemeindehaus – alles neu, alles hübsch. Sein Stolz ist der Sportplatz. | |
Kurth ist der Vorsitzende des Vereins. Kurths Traum wäre Kunstrasen. Doch | |
ohne Fördergelder kein Kunstrasen, und die Richtlinien sehen für „Hütte“, | |
wie das Dorf hier heißt, keinen Kunstrasen vor, da die Gemeinde keine | |
Schule hat. | |
Auf der Koppel kommen die 32 Angusrinder zu ihrem Chef getrabt. Ein Bild | |
wie aus dem Vorabendprogramm: Die Sonne steht tief, Hartwig Kurth, ein | |
freier Bauer auf freier Scholle, krault sein Vieh. Die Tiere leben in der | |
Herde. Hier besteigt der Bulle die Rinder, die Kühe kalben auf der Wiese | |
und die Kälber ziehen am Euter der Mutter. Die Kühe scheinen zufrieden, ihr | |
Gemeinwesen hat die Natur organisiert. Die Menschen müssen erst | |
zusammenfinden. | |
„Der Findungsprozess braucht eben seine Zeit“, sagt Kreistagsmitglied Edgar | |
Kliewe am Telefon in Hohenmocker, 85 Kilometer von „Hütte“ entfernt. Kliewe | |
war ein Befürworter der Fusion. „Es ist ja ein riesiges Territorium, das | |
ist ehrenamtlich sehr schwer zu betreuen“, räumt er ein. Und die Betreuung | |
stößt an Grenzen. So wie an jenem Abend, als der 55 Jahre alte Kliewe bei | |
der Kreistagssitzung aufstand und ging. Viele rieben sich die Augen. Denn | |
mit dem CDU-Mann hatte nicht irgendwer resigniert, Kliewe ist der | |
stellvertretende Kreistagspräsident, einer der Kapitäne, und eigentlich ein | |
geduldiges Arbeitspferd. | |
30 Aug 2012 | |
## AUTOREN | |
Thomas Gerlach | |
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