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# taz.de -- Serie Landkreis XXL: Ein Fähnchen im weiten Land
> Der „Nordkurier“ würde gern aus dem letzten Winkel berichten, der NDR
> setzt eher auf „gefühlte Nähe“. Doch beiden fehlt das Personal dafür.
Bild: Lokal wogende Wellen bei Neubrandenburg.
NEUBRANDENBURG taz | Schon im Bahnhof von Neubrandenburg hängt die große,
blaue Flagge. Im Stadtzentrum, auf dem Riesenplakat an einer
Hochhausfassade, reicht sie über drei Stockwerke. Darunter steht
„Nordkurier“, darüber „Ein starkes Stück Heimat“ und „Gemeinsam Fla…
zeigen“. Der Nordkurier ist die einzige regionale Tageszeitung im Landkreis
Mecklenburgische Seenplatte. Doch vielerorts ist es eher ein Fähnchen, das
die verbliebenen Redakteure in die Höhe recken.
Zweiter Stock im Marktplatz-Center, einer nüchternen Kombination aus
Einkaufszentrum und Bürogebäude. Jörg Spreemann öffnet selbst die Tür. „…
Vorzimmer haben wir schon länger nicht mehr“, sagt der Redakteur und zieht
die Schultern hoch. Spreemann ist groß, trägt Jeans zum grünen Pullover,
Dreitagebart. Er arbeitet seit dem Volontariat vor 25 Jahren hier.
In der Redaktion ist es gespenstisch still. Ein langer Flur, ein leerer
Konferenzraum, zwei Mitarbeiter an grauen Schreibtischen. Die übrigen
Plätze in dem großen Büroraum sind leer. „Wir sind vier Kollegen in
Neubrandenburg und zwei für das Umland“, sagt Spreemann. Dann schreibt noch
ein Volontär für die Lokalredaktion, drei Mitarbeiter bauen am Computer die
Seiten zusammen.
Eine Handvoll Journalisten für die 65.000-Einwohner-Stadt Neubrandenburg,
für bis zu neun Seiten Lokales täglich. „Man muss sich eben gut
organisieren - und gezielt auswählen“, sagt Spreemann. Er betreut deshalb
nicht nur Wirtschaftsthemen, sondern kümmert sich auch um Kreispolitik. Das
ist eigentlich das Spezialgebiet eines Kollegen in Demmin. „Aber wenn der
für zwei Stunden Ausschusssitzung von Demmin nach Neustrelitz fahren
müsste, wäre er noch mal genauso lange unterwegs.“
Im Prinzip teilt die Zeitung das Schicksal des gesamten Kreises: Immer
weniger Menschen leben in der Fläche, das bedeutet geringere Einnahmen und
größeren logistischen Aufwand. Die Auflage des Nordkuriers sinkt seit den
Neunziger Jahren kontinuierlich, der durchschnittliche Leser ist älter als
60 Jahre. Den Vertrieb bis in die entlegendsten Winkel kann der Verlag nur
leisten, weil er vor einigen Jahren ins Briefgeschäft eingestiegen ist.
Inzwischen arbeiten für den Nordkurier noch etwa 70 Redakteure - und mehr
als 1.600 Postboten.
## Omas letzte Chance
„Manchmal reicht die Personalausstattung nicht, um die Menge der Ideen zu
realisieren“, sagt Spreemann. “Auf der anderen Seite sind wir für die Oma
und den Handwerker vielerorts die einzige Chance, um ihre Probleme in die
Öffentlichkeit zu tragen." Entlegene Regionen aufgeben, das ist schwierig -
denn es gibt fast nur noch entlegene Regionen. Und zentralisieren, so wie
die Kreispolitik? Das kommt für Spreemann nicht infrage. „Die Identität war
uns immer wichtiger als der administrative Zuschnitt.“
Identität ist ein bestimmendes Wort in einer Region, die schon wieder eine
neue Struktur hat. Wo seit 1994 die Kreise Müritz, Mecklenburg-Strelitz,
Demmin und die kreisfreie Stadt Neubrandenburg waren, erstreckt sich seit
eineinhalb Jahren der Kreis Mecklenburgische Seenplatte - bis auf ein
Stückchen vom Altkreis Demmin, das dann doch nicht dazugehört. Wer soll da
den Überblick behalten?
Vielleicht die Menschen in der Villa Luise am Friedrich-Engels-Ring,
außerhalb des historischen Walls, der das Stadtzentrum umschmiegt. Die
Villa beherbergt seit 1995 das Haff-Müritz-Studio des NDR. Michael Elgaß
ist der Hausherr, er trägt ein schwarzes Sakko, Hemd, dazu eine schwere
silberne Gürtelschnalle. Motorradfahrer, erzählt ein Kollege später. Die
Mitarbeiter rufen ihn ,Mitch'. Auf dem Bürotisch liegt der Nordkurier.
Also, die Identität der Menschen in der Region: „Ganz ehrlich, ich glaube,
nicht wenige hier haben mittlerweile keine Ahnung mehr, wo gerade ihre
Kreisstadt liegt“, sagt Elgaß. Warum, das zeigt er einen Moment später auf
einer Karte im Flur. „Wir haben seit Langem aus den drei früheren Kreisen
und Neubrandenburg berichtet und sind dementsprechend jetzt für die
Seenplatte zuständig“, sagt Elgaß und fährt mit dem Finger eilig eine
imaginäre Linie ab. Das Berichtsgebiet reicht im Süden bis an die
Landesgrenze zu Brandenburg, im Westen und Norden umfasst es die alten
Landkreise der Seenplatte. Ziemlich viel für fünf Redakteure und etwa 15
freie Mitarbeiter. „Wir müssen eben selektieren“, sagt Elgaß.
Zum Landkreis Seenplatte kommt noch der frühere Landkreis Uecker-Randow,
der sich bis an die polnische Grenze erstreckt, und in dem auch die frühere
Kreisstadt Pasewalk und das Stettiner Haff liegen. Uecker-Randow gehört
seit 2011 zum Kreis Greifswald - doch die Lokalnachrichten kommen weiterhin
aus Neubrandenburg. „Ich denke, dass nicht immer die politische
Zugehörigkeit entscheidend ist. Oftmals zählt eher die gefühlte Nähe“, sa…
Elgaß. Und gefühlt seien die Pasewalker eben näher an Neubrandenburg als an
der neuen Kreisstadt Greifswald.
## Sehnsucht nach Regionalem
„In den Köpfen hält sich die alte Kreisstruktur“, sagt Elgaß und zählt …
Neubrandenburg als Oberzentrum, die Müritz-Region mit dem starken
Tourismusverband, der für Müritz werbe und nicht für die Seenplatte, Demmin
mit einer Nähe zu Vorpommern. „Und in Neustrelitz erinnert man sich gern
noch an die Zeit als Residenzstadt.“
Einige Indizien sprechen für diese Argumentation: Als sich Landrat Heiko
Kärger für ein einheitliches Autokennzeichen starkmachte, beschwerten sich
in wenigen Tagen mehr als hundert Menschen in der Kreisverwaltung. Bei
Umfragen sprachen sich zwischen 65 und 85 Prozent der Menschen für die
regionalen Kennzeichen aus - so dass der Landrat zurückruderte. Und der
Bürgermeister von Malchin mit seinen 7.820 Einwohnern nutzte die
Gelegenheit, um auch das Kennzeichen MC wieder ins Gespräch zu bringen -
ein Relikt aus der Zeit vor der ersten Gebietsreform 1994.
Der Nordkurier wiederum versucht seit einiger Zeit, diese lokalen
Befindlichkeiten zu einem Alleinstellungsmerkmal zu machen. „Wir bemühen
uns mit größtmöglicher Stabilität, jede Milchkanne umzudrehen“, sagt
Lokalredakteur Spreemann mit einem feinen Zug von Ironie. Unter der blauen
Flagge der Zeitung erscheinen jeden Tag dreizehn Regionalausgaben. Zehn
davon sind in den ehemaligen Altkreisen angesiedelt, darüber hinaus
berichtet eine Handvoll Redakteure aus der brandenburgischen Uckermark,
eine Handvoll sitzt in Pasewalk und auf Usedom im Nachbarkreis
Vorpommern-Greifswald.
Im Prinzip musste sich seit der Wende kein Zeitungsleser umgewöhnen. Das
Gebiet, in dem die Zeitung erscheint, entspricht bis heute nahezu dem
früheren DDR-Bezirk Neubrandenburg. Für die Lokalredakteure bedeutet das
allerdings inzwischen Landespolitik aus Schwerin, aber auch aus Potsdam,
dreimal Kreispolitik und die eigentliche Kommunalpolitik in den noch immer
selbstbewussten früheren Kreisstädten. „Und das Land nicht vergessen“, f�…
Spreemann trocken hinzu. Dennoch keimt Hoffnung.
## Als „Notkurier“ bezeichnet
Es ist eine Arbeit an der Belastungsgrenze. Als „Notkurier“ bezeichnete die
FAZ das Blatt vor einigen Jahren ob seiner geringen Personalausstattung.
Denn Zeitungmachen ist teuer - und der neue Geschäftsführer Lutz Schumacher
brachte einige Sparvorschläge mit. Reporter könnten mit Laptop und Kamera
durch den Landkreis rasen und einigen wenigen Redakteuren Material
zuliefern, hieß es damals. Ein Heer aus freien Mitarbeitern und
Leser-Reportern solle bis in den entlegendsten Winkel vordringen.
„Viele von den Überlegungen wurden inzwischen wieder zurückgedreht“ sagt
Ingmar Nehls. Freie Mitarbeiter gebe es in Neubrandenburg nur sehr wenige.
Die kosten schließlich auch erst mal. Nehls gehört zur jüngsten Generation
Journalisten in der Neubrandenburger Redaktion. 2008 hat er mit dem
Volontariat begonnen. Ein paar Monate später traf ihn der erste
Paukenschlag. Der überregionale Mantelteil der Zeitung wurde von
Neubrandenburg nach Schwerin ausgelagert, der damalige Chefredakteur und
mehrere Mitarbeiter mussten gehen.
Die guten Jahre nach der Wende - Nehls hat sie nicht erlebt. Und dennoch
keimt Hoffnung, wenn man ihn am Montagabend in der Redaktion besucht. Es
ist dieselbe graue Bürolandschaft, doch jetzt dringt Lachen aus dem
Konferenzsaal. Die Jugendredaktion trifft sich, Nehls leitet sie, seit er
bei der Zeitung ist. Zehn Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren diskutieren
über das Thema Mobilität - noch so eine ungelöste Frage im Großkreis.
Zum Teil pendeln die Schülerinnen und Schüler eine Stunde bis zur Schule.
Der Führerschein mit 17 ist deshalb ein großes Thema. „Da ist es mal ein
Vorteil, dass wir in der Zeitung viel Raum haben“, sagt Nehls. Die Artikel
der Jugendlichen erscheinen jeden Dienstag im Regionalteil - auf einer
eigenen Seite.
24 Feb 2013
## AUTOREN
Urs Spindler
## TAGS
Mecklenburg-Vorpommern
Mecklenburgische Seenplatte
NDR
Lesestück Recherche und Reportage
Kreisgebietsreform
Mecklenburgische Seenplatte
Reform
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