# taz.de -- Sicherheitslage in Afghanistan: Von Politik in Propaganda abrutschen | |
> Westliche Regierungen veranstalten Zahlenspiele, um die Lage in | |
> Afghanistan schönzureden. Die Taliban warten ab. Ein Plan B für die Zeit | |
> nach dem Abzug fehlt. | |
Bild: Alltag in Lashkar Gah: Ein Mädchen geht mit ihrer Mutter einkaufen. Doch… | |
KABUL taz | Als vor gut einer Woche ein [1][Taliban-Kommando ein | |
Polizeihauptquartier in Kabul angriff], [2][twitterte] das Hauptquartier | |
der Nato-geführten Internationalen Afghanistan-Schutztruppe Isaf in Kabul: | |
„Die Taliban verlieren diesen Kampf, werden schwächer.“ Seit Jahren | |
argumentiert Isaf, dass solche Nadelstichoperationen eher | |
Verzweiflungstaten der Aufständischen seien. | |
Dabei können sich Isaf und das Verteidigungsministerium ihres wichtigsten | |
Truppenstellers, der USA, nicht einmal darauf einigen, wie sich die | |
Sicherheitslage am Hindukusch wirklich entwickelt. Der letzte | |
Pentagon-Bericht konstatiert für 2012 einen Anstieg „vom Feind initiierter | |
Angriffe“ um 1 Prozent; Isaf meldet ein Sinken um 6 Prozent. | |
Auf diesen Zahlen beruhen auch die Afghanistan-Fortschrittsberichte der | |
deutschen Bundesregierung. Vor einer Woche musste sie allerdings dem | |
Bundestag gestehen, dass wegen Verzögerungen auf afghanischer Seite „etwa | |
10 Prozent“ der Angriffe nicht in ihre Statistik eingegangen seien. | |
Jede landesweite Berichterstattung habe ohnehin „wenig reale Bedeutung“, | |
wenn sie nicht qualitativ die Lage in Schlüsselgebieten betrachte, so | |
Anthony Cordesman, Berater des republikanischen Senators John McCain, der | |
für den Washingtoner [3][Think Tank CSIS] regelmäßig Afghanistan-Reports | |
verfasst. | |
## Schlüsseldistrike unter Taliban-Kontrolle | |
Die Lage in den Schlüsselgebieten bewertet der vom US-Kongress eingesetzte | |
Sondergeneralinspekteur für Afghanistans Wiederaufbau, John Sopko. Seinem | |
letzten Bericht zufolge „kämpfen die afghanische Regierung und die | |
Schattenregierung der Taliban weiterhin um Kontrolle über Kandahar“, die | |
Hochburg der Taliban. Drei Schlüsseldistrikte unmittelbar vor den Toren der | |
Provinzhauptstadt stünden „weitgehend“ unter Taliban-Kontrolle. | |
In der Nachbarprovinz Helmand unterhalten die Taliban immer noch in | |
„bestimmten Gegenden“ parallele Regierungsstrukturen. Nach Kandahar und | |
Helmand hatte US-Präsident Barack Obama Anfang 2009 33.000 zusätzliche | |
Soldaten geschickt, um „das Momentum der Taliban zu brechen“. Laut | |
Cordesman gibt es „keinerlei Anzeichen“, dass Isaf und die afghanischen | |
Streitkräfte „jetzt gewinnen“. | |
In Erwartung des Abzugs der Nato-Kampftruppen Ende 2014 haben die Taliban | |
ihre Aktivitäten in weniger zentrale Gebiete verlagert. In den Ostprovinzen | |
Kunar und Nuristan hält die Regierung nur noch einige Garnisonen. In | |
Nuristan bemerkten afghanische Behörden Mitte des Monats das Fehlen von 66 | |
Polizeifahrzeugen und 2.700 Schusswaffen, die wohl in Richtung Taliban | |
verschwunden sein dürften. | |
## 6 bis 10 tote Polizisten täglich | |
In der Westprovinz Farah brachten Taliban in den letzten Wochen fünf | |
örtliche Polizei- und Geheimdienstchefs um, drei weitere Attentate | |
scheiterten knapp. Im Norden beschossen sie vorletzte Woche erstmals das | |
Distriktzentrum von Marmal, nach dem der dortige zentrale | |
Bundeswehrstandort Camp Marmal benannt ist. Das afghanische | |
Innenministerium meldet, täglich kämen sechs bis zehn Polizisten bei | |
Anschlägen ums Leben. Fortschritte in der Sicherheitslage sind also | |
Anzeichen der – wie Cordesman schreibt – „unvermeidlichen Tendenz“ von | |
Regierungen, „ihre Politik zu verkaufen und dabei in Propaganda | |
abzurutschen“. | |
Mit dem früheren Nato-Generalsekretär George Robertson und einem ehemaligen | |
US-Vertreter bei der Allianz, Kurt Volker, warnten in einem prominenten | |
Leitartikel weitere der Panikmache unverdächtige Quellen vor einem | |
Zusammenbrechen der Regierung Präsident Hamid Karsais. | |
## Plan B, der sich an Menschenrechten orientiert | |
Die Übergabe der Sicherheitsverantwortung, schrieben sie, „ist ein | |
Instrument dafür geworden, unseren Abzug zu ermöglichen, nicht um | |
Afghanistans Zukunft zu sichern“. Sie verlangen einen „Plan B“, der sich | |
„an substanziellen Zielen“ wie dem Erhalt der Menschenrechte und nicht am | |
Abzugszeitpunkt orientiert. | |
Robertson und Volker sagen nicht, ob und wie das mit Karsai erreicht werden | |
kann. Der kann zwar nach zwei Amtsperioden bei der nächsten | |
Präsidentschaftswahl im April 2014 nicht mehr antreten. Er sucht aber | |
intensiv nach einem Wunschnachfolger sowie nach Mitteln, die | |
überdimensionierten Streitkräfte des Landes auch danach bezahlen zu können. | |
Selbst bei inzwischen Nato-verordneter Verringerung der Streitkräfte von | |
derzeit etwa 350.000 auf 230.000 bis 2017 kostet das 4 Milliarden US-Dollar | |
im Jahr. Das entspricht in etwa dem afghanischen Gesamtetat. Zwei Drittel | |
will deshalb Washington beisteuern, der Rest soll aus anderen Geberländern | |
wie Deutschland kommen. Falls Eurokrise, US-Fiskalklippe sowie Konflikte | |
wie in Syrien und Mali keinen Strich durch diese Rechnung machen. | |
Der Autor leitet das unabhängige Afghanistan Analysts Network, | |
Kabul/Berlin. | |
29 Jan 2013 | |
## LINKS | |
[1] /Selbstmordattentat-in-Afghanistan/!109400/ | |
[2] http://twitter.com/ISAFmedia | |
[3] http://csis.org/ | |
## AUTOREN | |
Thomas Ruttig | |
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