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# taz.de -- Papst und Medien: Billig, billig, billig
> Wie lange braucht das Netz, um alle Gags durchzuziehen? Circa 45 Minuten.
> Und die klassischen Medien? Die kriegen's gar nicht gebacken.
Bild: Ätsch, das Netz ist schneller als der Papst erlaubt.
Der deutsche Papst ist zurückgetreten. Kaboom! Und während sich noch
Stunden nach Verkündung des pontifikalen Rückzugs Millionen
Qualitätsjournalisten weltweit um eine angemessen schnippische Grundhaltung
und fantasievoll herbeiinterpretierte Hintergrundinformationen bemühen,
sind socialnetworkmäßig nach fünfundvierzig Minuten bereits alle geilen
Gags bis in die allerletzte Metaebene gemacht.
Die petersdomhohe Papstpointenkillerwelle aus den sozialen Netzwerken
bricht in Sekundenschnelle über Deutschlands halbambitioniert betriebenen
Redaktionsblogs: Im Kampf gegen die gnadenlose Contentmaschine Internet
bleibt da selbst den pfiffigsten Communityknechten spontan nur die Flucht
in die übergeordnete Betrachtung des [1][Witzspektakels auf Facebook und
Twitter].
Das Ergebnis gestern: Ein leicht [2][überfordertes Zitieren der lustigsten
Tweets], galligsten Facebookkommentare und frechsten Benedetto-Oneliner all
überall. Ratzinger könne jetzt ja nun endlich mal mehr Zeit mit Frau und
Kindern verbringen, juxen die einen. Wahrscheinlich hat Johannes Ponader
dem Heiligen Vater die Nerven zersägt und ihn in den Rücktritt getrieben,
kichern ehemalige #aufschrei-Aktivistinnen. Möglicherweise habe Benedikt
bei Gebeten und Messen auch bloß aus der Bibel zitiert, ohne die Quelle
wissenschaftlich korrekt kenntlich zu machen, mutmaßen Witzbolde aus dem
entfernteren Bekanntenkreis von Annette Schavan.
## Typisch Print
Digital Natives wissen: Das reflexhafte Abfeuern billiger Netz-Lachraketen
ins postbenediktinische spirituelle Vakuum soll von der Unfähigkeit
deutscher Analogmedien ablenken, professionell mit der ersten
überraschenden vatikanischen Personalbewegung seit siebenhundert Jahren
umzugehen. Billig, billig, billig. Typisch Print und Konsorten!
Selbst die stets stramm papsttreuen Vatikanmaniacs des Springer-Verlages
installieren sich zur Zeit anscheinend lieber gegenseitig im Silicon Valley
die neueste Version von Angry Birds Space auf die Smartphones, als sich um
rezipientenorientierte Faktenanalyse zu kümmern. „Wir sind Papst“ war mal.
Und jetzt: „Keine Kraft mehr“? Im Ernst, BILD?
Hilflos angesichts brillanter Witzvorlagen aus dem WWW muss auch die
zuverlässige Titelseitenspaßfabrik der Tageszeitung mit einem sarkastischen
„Gott sei Dank“ in „dümmste Verlogenenheit“ ausweichen, konstatiert ein
Webmaster der ersten Stunde namens @claudiusseidl bei Twitter [3][ehrlich
wütend]. Logisch, dass sich da die sonst so alerte Hauptstadt-Society am
Abend des Papstrücktritts aus Angst vor der eigenen diffusen Meinung nicht
die Bohne für die Horrormeldung aus Rom interessiert.
## Durchaus seriöse Ansätze
Stattdessen widmet man sich zwischen Grill Royal und Berlinale Palast
seichten Substitutionsgesprächen: Wie schlimm verrückt auf einer Skala von
1 bis 20 ist Dieter Kosslick eigentlich jetzt genau? Wer hat wo George
Clooney in den letzten Wochen in der Stadt gesehen? Und wieso strahlt und
funkelt Wowi in letzter Zeit irgendwie nicht mehr so sehr wie sonst, ist
ihm eventuell die ganze Nummer mit dem Flughafen doch ein wenig aufs Gemüt
geschlagen?
Dabei bietet das Worldwideweb, im Gegensatz zur etablierten Presse,
durchaus seriöse Erklärungsansätze, wieso das Pontifikat des edlen
Theologen Ratzinger nur unwesentlich länger währte als die Traumehe der Van
der Vaarts. Als offenes Geheimnis gilt in der Community, dass
ARD-Politpitbull Günther Jauch die katholische Kirche seit nunmehr zwei
Wochen auf dem Kieker hat.
Perverse Sexpriester, barbarische Arbeitsbedingungen im Konzern Kirche,
Bischofsgehälter aus dem Steuersäckel – Jauch nimmt kein Blatt vor den Mund
und macht massiven Druck! Und irgendwann fällt selbst die dickste Eiche.
Möglich, dass sich der Pontifex Maximus angesichts des heißen Volkszorns,
den der bescheidene Top-Journalist Jauch mit den beiden quotenstarken
sonntäglichen Anti-Kirche-Talkrunden entfachte, zum Handeln genötigt sah.
Papst-Killer Jauch – why not? Wer schon den unsterblich geglaubten Thomas
Gottschalk hat kommen und gehen sehen, hätte die Power, auch die
römisch-katholische Kirche endgültig zu beerdigen, meint das Netz.
Betrachtet man den Rücktritt des Papstes gezielt als Reaktion auf die
gebührenfinanzierte heidnische Stimmungsmache Jauchs, muss man Benedikt
danken, dass er erst so spät die Reißleine gezogen hat. Sympathischen
katholischen Integrationsfiguren wie Martin Lohmann (Journalist, Katholik,
Befürworter einer vielschichtigen Selbstbestimmung der Frau) hat er durch
sein Zögern einen mannshohen Haufen spektakulärer Zuschauerpost beschert.
## Ironischer Rücktritt?
Hobbyexperten aus dem Internet haben allerdings auch eine noch einfachere
Erklärung für den Rückzug des erzkonservativen Obergeistlichen parat.
Eventuell, munkelt man bei Twitter, seien dem 85jährigen Vollblutkatholiken
Joseph Ratzinger mit der Zeit ein paar kleinere programmatische Schwächen
des Systems Kirche aufgegangen. Und tatsächlich: Wer den Autoren der
christlichen Basislektüre auch nur ein winzig kleines Augenzwinkern
unterstellt, erliegt schnell dem Eindruck, dass die ganze biblische
Geschichte ja eventuell auch irgendwie lediglich bloß ironisch gemeint sein
könnte, zumindest stellenweise.
Dass, in der Tat, Ironie kein Phänomen der Neuzeit, schon gar keine
Erfindung der Digitalen Generation ist, gilt wissenschaftlich längst als
erwiesen: Schon die Ägypter vor vielen tausend Jahren kannten und bedienten
sich der Ironie (siehe: Pyramiden). Mit der Ironiebrille gelesen, kommen
selbst die bedeutsamsten Psalme und Bildnisse, diplomatisch formuliert,
recht quatschig rüber.
Möglich, dass Benedikt XVI. folgerichtig auch die possierlichen
Verkleidungen, spaßigen Kopfbedeckungen und zwerchfellerschütternden
Rituale, die sein Job als Nachfolger Petri mit sich brachten, mit der Zeit
als ein wenig überkandidelt und albern empfunden haben mag. Der Unfehlbare
gefangen in der Ironiefalle? Ein Rücktritt aus diesem Grund wäre
nachvollziehbar, hätte dann aber gerne papstseitig etwas pointenreicher
ausfallen dürfen.
Comme ci, comme ça: In puncto Berichterstattung zur Jahrtausendmeldung
Papstrücktritt war das Digitalmedium Internet dem medialen Establishment
Lichtjahre voraus – agaaaaain! Q.E.D.! Selbst wenn sich alles am Ende als
cleverer PR-Gag herausstellt, hat unser deutscher Papst allen eine lange
Nase gezeigt, mal wieder. Die richtigen journalistischen Fragen samt
Millionen möglicher, seriöser Antworten gab es wie immer nur im Cyberspace.
Ehrliche Fragen wie: Der Papst gibt freiwillig auf – was ist nur aus der
Hitlerjugend geworden? Gut gemacht, Internet. Und bis zum nächsten Mal.
12 Feb 2013
## LINKS
[1] http://www.spiegel.de/netzwelt/web/web-reaktionen-auf-papst-ruecktritt-ratz…
[2] /Twitterschau-Papstruecktritt/!110774/
[3] http://twitter.com/Claudiusseidl/status/301239777640996865
## AUTOREN
Jan Böhmermann
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