# taz.de -- Regionalismus in Europa – Vojvodina: Nur scheinbar autonom | |
> Die Vojvodina war einst eigenständig. Egal ob Ungar oder Serbe, viele | |
> dort wünschen den alten Status zurück. Selbst das Abitur feiert man nach | |
> Ethnien getrennt. | |
Bild: Schön anzusehen, wenig zu entscheiden: Rathaus in Subotica. | |
SUBOTICA taz | Bist du für Polygamie oder Monogamie, fragt ein Mann aus der | |
Vojvodina einen anderen. Für die Polygamie natürlich, antwortet der. So | |
würde die eine Frau immer glauben, er sei bei der jeweils anderen, und er | |
könne in aller Ruhe in der Scheune auf dem Stroh ausschlafen. | |
Der Witz aus dem ehemaligen Jugoslawien soll von der Gutmütigkeit und | |
Trägheit der Menschen in der Vojvodina zeugen, egal ob es sich um Serben, | |
Ungarn, Deutsche, Slowaken, Kroaten, Rumänen oder Ruthenen handelt. Der | |
gedehnte serbische Dialekt, den sie sprechen, ist unverkennbar und im | |
Einklang mit der Tiefebene, die sich dort, wo sich vor Millionen Jahren das | |
Pannonische Meer erstreckte, scheinbar endlos ausdehnt. Weit und breit kein | |
einziger Hügel, wenn man durch die fruchtbaren Ackerfelder des Banats, der | |
Batschka und des Srem fährt: Die monotone Landschaft wirkt sich auf das | |
Gemüt der Menschen aus. | |
Zum Stereotyp des Landes der reichen Bauern gehören auch ausgiebige, | |
fettige, kalorienreiche Mahlzeiten, die in Liedern verewigt sind: | |
Ganslsuppe, Gänsebraten und gestopfte Gänseleber, Schweinernes in jeder | |
Form, möglichst von der Mangalitza-Sorte, Grammelpogatschen, Nudeln mit | |
Mohn, Zwetschkenknödel, dazu selbstverständlich Schnaps (Aprikose, Birne, | |
Quitte oder Maulbeere) und Wein, zum Beispiel ein Banater Riesling. Darauf | |
folgt ein Mittagsschläfchen. Auch dieses Stereotyp erweist sich als wahr: | |
In der Stadt Subotica an der Grenze zu Ungarn lässt sich an einem Werktag | |
zwischen 15 und 17 Uhr kaum ein Gesprächspartner finden. | |
Die sezessionistische Architektur in Subotica mit dem großen Markt, auf dem | |
das Stadthaus dominiert, hat das typische Flair einer | |
kaiserlich-königlichen Provinzstadt. Seit Januar ist Subotica Mitglied der | |
Städteorganisation Reseau Art Nouveau Network, wie auch Wien, Budapest oder | |
Barcelona. Schon auf den ersten Blick ist der historische und kulturelle | |
Unterschied zu Zentral- oder Südserbien sichtbar. Dass man fast „da | |
drüben“, fast in „Österreich/ Ungarn“ ist, merkt man noch im kleinsten … | |
der Vojvodina, in dem typischerweise das ummauerte Haus durch einen Graben | |
von der schnurgeraden Straße getrennt wird. | |
## „Die Stadt entgleitet“ | |
Kaum eine andere Stadt in Serbien ist so multiethnisch geprägt wie | |
Subotica. Etwa 35 Prozent Ungarn, 26 Prozent Serben und etwa 10 Prozent | |
Bunjewatzen leben dort heute, der Rest der 100.000-Einwohner-Stadt verteilt | |
sich auf viele weitere Volksgruppen. Die turbulente Geschichte Suboticas | |
ist typisch für die Vojvodina: Infolge des blutigen Zerfalls des | |
sozialistischen Jugoslawien hob der damalige Präsident Serbiens, Slobodan | |
Milosevic, 1989 die Autonomie der Provinz auf. | |
„Früher haben hier alle nationalen Gemeinschaften gleichermaßen | |
Verantwortung für die Stadt übernommen“, sagt Bosko Krstic, Chefredakteur | |
der Literaturzeitschrift Rukovet, die in Subotica erscheint. Doch weil | |
selbst nach der demokratischen Wende im Jahr 2000 die Vojvodina ihren | |
Autonomiestatus bis heute nicht wirklich zurückerhalten habe, hätten sich | |
die Volksgruppen in sich selbst zurückgezogen. „Jetzt befassen sich die | |
einzelnen Nationalitäten mit ihren eigenen existenziellen und kulturellen | |
Problemen. Die Stadt entgleitet dabei irgendwie.“ Und das gilt für ganz | |
Vojvodina, bekräftigt Krstic. | |
Im Gegensatz zu früher bewegten sich die jungen Menschen heute innerhalb | |
der eigenen Volksgruppe: Serben gehen in serbische, Ungarn in ungarische | |
Lokale, selbst das Abitur feiert man getrennt. Früher sprachen alle beide | |
Sprachen, heute sei das nicht mehr der Fall. | |
In Subotica, wie in ganz Vojvodina, kommt es immer wieder zu ethnisch | |
motivierten Krawallen unter den Jugendlichen, so dass der | |
Parlamentspräsident der Vojvodina, Istvan Pasztor, von einer | |
„Lynchstimmung“ sprach und an die Regierung in Belgrad appellierte, etwas | |
gegen die rechts-extremistische Szene zu unternehmen. | |
## Die „Joghurt-Revolution“ | |
Sie ist in diesem multikulturellen Zentrum besonders stark, die serbischen | |
neofaschistischen Organisationen wollen die Teilautonomie der Vojvodina | |
ganz abschaffen. Als Gegenreaktion erscheinen in der Provinzhauptstadt Novi | |
Sad immer wieder Plakate, auf denen steht: „Vojvodina Republik“. | |
„Wenn die Vojvodina ihren früheren Autonomiestatus zurückerhält und sich | |
von der Bevormundung Belgrads lösen könnte“, glaubt Krstic, „würden die | |
verschiedenen Ethnien wieder gemeinsam mehr Verantwortung für die Provinz | |
übernehmen. Und das könnte dazu beitragen, dass die Existenzangst einzelner | |
Volksgruppen geringer wird und sie sich wieder einander zuwenden.“ | |
Nach der Verfassungsreform 1974 bekam die Vojvodina wie auch der Kosovo den | |
Status einer autonomen Provinz innerhalb der jugoslawischen sozialistischen | |
Föderation. Ihre kulturellen und historischen Besonderheiten wurden | |
anerkannt, Novi Sad entwickelte sich in ein richtiges Verwaltungszentrum | |
mit großen Befugnissen. 1989 hob Milosevic die Autonomie der Vojvodina und | |
des Kosovo auf, Serbien wurde zentralisiert. | |
„Joghurt-Revolution“ nennt man in Subotica den „Volksaufstand“ gegen die | |
damaligen Autonomiebehörden, weil die aus Belgrad dirigierten „erwachten“ | |
serbischen Volksmassen die Regierungsgebäude der Vojvodina belagerten und | |
mit Joghurt beschmissen. Die von Belgrad kontrollierten Sicherheitskräfte | |
mischten sich nicht ein, die Funktionäre der autonomen Provinz traten | |
„unter dem Druck des Volkes“ zurück und wurden durch Milosevic’ | |
Gefolgsleute ersetzt. | |
„Das war kein ethnischer Konflikt, sondern eine Auseinandersetzung zwischen | |
alteingesessenen Autonomiebefürwortern und den von Belgrad gesteuerten | |
Ankömmlingen um die Kontrolle der Ressourcen der Vojvodina“, sagt dazu | |
Atila Sam, Professor im Ruhestand, der in Subotica lebt. Der ehemalige | |
Vizepremier der Vojvodina, zuständig für Wissenschaft und Kultur, erklärt, | |
dass die Autonomiebestrebung in der Vojvodina – im Gegensatz zum Kosovo – | |
nie auch nur das leiseste Anzeichen einer Sezession beinhaltete und dass | |
sie, im Gegensatz zu anderen europäischen Regionen wie Südtirol oder | |
Katalonien, auch nicht ethnisch motiviert sei. In der Autonomiebewegung | |
sind gleichermaßen Serben und Ungarn aktiv. | |
## Dieses „Glücksgefühl“ | |
Die serbischen „Ankömmlinge“ aus armen Gegenden, die das fruchtbare Land | |
der Vojvodina vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg massenhaft besiedelten | |
und in die verlassen Häuser der geflüchteten, vertriebenen oder | |
umgebrachten Donauschwaben einzogen, betrachteten – und betrachten – die | |
Einheimischen als einen „anderen Menschenschlag“ und als die eigentlichen | |
Unruhestifter in der Region. | |
Die Wurzeln der Zugezogenen liegen im kargen Süden Serbiens, im Kosovo oder | |
dem wilden Elend Bosniens, sie brachten ihre kriegerischen Heldensagen mit | |
in die fruchtbare Tiefebene. „Weit weg von zu Hause“, fühlten sie sich | |
besonders von Belgrad angezogen, erzählt man sich in den „alteingesessenen“ | |
Familien der Vojvodina. Die „Neuen“ würden das „Glücksgefühl“ nicht | |
verstehen, dass die richtige Autonomie mit sich bringen würde: die | |
Möglichkeit, selbst über sein Leben, das eigene Territorium zu bestimmen | |
–damit ihnen niemand in der fernen Hauptstadt den lokalen Polizisten oder | |
Schuldirektor verordnen kann. | |
Nach dem Ende des Milosevic-Regimes und der demokratischen Wende ging es | |
mit dem Autonomiestatus der Vojvodina auf und ab – die Eigenständigkeit von | |
1974 erreichte die Vojvodina jedoch nicht mehr. 2012 erklärte das serbische | |
Verfassungsgericht rund 20 Verordnungen, die den Provinzbehörden mehr | |
Befugnisse gewährleisteten, für verfassungswidrig. Selbst die Vertretung | |
der Vojvodina in Brüssel wurde abgeschafft. Die Autonomiebefürworter | |
schrien empört auf, die serbisch-nationalistischen Organisationen in der | |
Vojvodina jubelten. | |
## Die Hand auf den Pfründen | |
„Das alles hat mit Ideologie gar nichts zu tun“, sagt Jozsef Miskolczi, | |
ehemaliger Abgeordneter im Provinzparlament und einer der Gründer des | |
Bundes der Ungarn der Vojvodina (SVM), der heute wichtigsten ungarischen | |
Partei. Es gehe einfach um die Kontrolle der Ressourcen, in welchem Maße | |
Belgrad oder Novi Sad über das Geld der Vojvodina, den reichsten Teil | |
Serbiens, verfügten und wie und wo sie es einsetzten. Im Augenblick | |
verhandelt zum Beispiel die Regierung in Belgrad über den Verkauf oder die | |
Verpachtung riesiger Ländereien in der Vojvodina an die Vereinigten | |
Arabischen Emirate, ohne die Verwaltung in Novi Sad auch nur dazu zu | |
befragen. Ähnlich verhielt es sich mit der Privatisierung staatlicher | |
Unternehmen. „Es gibt wohl nichts Schöneres, als die Hand in die Tasche des | |
anderen zu stecken“, kommentiert Miskolczi höhnisch. | |
Die Mehrheit der Bürger in der Vojvodina sind Serben (65 Prozent), gefolgt | |
von Ungarn mit etwa 14 Prozent und Slowaken mit 3 Prozent, der Rest teilt | |
sich auf mehr als ein Dutzend Nationalitäten auf. Auch wegen der großen | |
Überzahl der Serben war in der Vojvodina nie von einer Abspaltung von | |
Serbien die Rede, wie das im Kosovo geschehen ist, wo die Albaner die | |
absolute Mehrheit stellen. Zwar gibt es einzelne nationalistisch-ungarische | |
Organisationen wie die „64 Komitate“ („64 Vármegye“), die eine Sezessi… | |
anstreben, doch sie sind schwach und haben nur wenige Anhänger. Dennoch ist | |
allein die Tatsache, dass es sie überhaupt gibt, Munition für serbische | |
Zentralisten, die nach der Loslösung des Kosovo, „dem nationalen Trauma der | |
Serben“, in den Autonomiebestrebungen der Vojvodina die Sezession wittern. | |
Eine Sichtweise, die auch nach der demokratischen Wende in Belgrad gültig | |
blieb. Dort glaubte man, dass sich alle Serben um einen „starken nationalen | |
Staat“ versammeln sollten, erklärt der bekannte Publizist Mita Boarov aus | |
Novi Sad. Man reagierte „allergisch auf die Institution der bürgerlichen | |
Autonomie innerhalb des serbischen Staates“. Dieser Zentralismus habe | |
letztlich die serbischen Interessen im Kosovo beschädigt, die Nachbarn | |
Serbiens abgestoßen und den nationalen Minderheiten Angst eingejagt, meint | |
Boarov. Die historische Vojvodina habe im heutigen Serbien ihre politische | |
Subjektivität verloren. | |
28 Feb 2013 | |
## AUTOREN | |
Andrej Ivanji | |
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