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# taz.de -- Regionalismus in Europa - Flandern: Der Gordel’sche Knoten
> Kampfgebiet „Gordel“: Einmal im Jahr radeln Tausende Flamen rund um
> Brüssel. Sie wollen zeigen, dass dieses Gebiet flämisch ist und flämisch
> bleiben soll.
Bild: Der Löwe radelt mit: Der flämische Löwe ist das Symbol der Separatiste…
BRÜSSEL taz | Es ist ein riesiges Menschenmeer in bunten Trikots, das sich
durchs Stadtzentrum des flämischen Städtchens Sint-Genesius-Rhode quält.
Die Radfahrer passen nicht so recht durch die engen, von Backsteinhäusern
gesäumten Straßen. Plötzlich bleiben gleich fünf Radler auf einmal abrupt
stehen. Sie haben einen Platten. „Das waren die Frankofonen“, schimpft
einer, bevor er sein Rad an den Straßenrand schiebt und auf die Pannenhilfe
wartet.
Jedes Jahr Anfang September werden die Gemeinden rund um Brüssel zum
Kampfgebiet. Mehrere tausend Flamen radeln rund hundert Kilometer um die
belgische Hauptstadt. „De Gordel“, was übersetzt „der Gürtel“ heißt,…
kein sportliches Rennen. Es ist eine politische Demonstration. Die
Teilnehmer wollen beweisen: Dies ist ihr Gebiet, dies ist Flandern.
Frankofone Bürger versuchen das zu verhindern: indem sie Nägel auf die
Straße streuen, Wegweiser verdrehen, Straßen sperren. Klamauk oder bitterer
Ernst?
Guido Andries trainiert regelmäßig für den Gordel, auch zu dieser
Jahreszeit. Der 56-Jährige steht vor seinem kleinen Backsteinhäuschen in
Dillbeek und pumpt sein Hinterrad auf. „Die Gegend ist ziemlich schön hier,
auch ein bisschen hügelig. Das ist unser Territorium“, sagt er und schwingt
sich aufs Rad. Heute will er nur eine kleine Runde fahren. Noch ist es
kühl. Beim Gordel wird er wieder dabei sein: „Die Frankofonen fühlen sich
uns überlegen. Sie wollen, dass wir ihre Sprache sprechen. Sie passen sich
nicht an. Wir müssen sie in ihre Schranken weisen.“
## Sechs Gemeinden, sechs Fremdkörper
So sehen das viele in Flandern. Seit über 30 Jahren gibt es den Gordel.
Vorletztes Jahr nahmen noch 80.000 Menschen teil, im vergangenen Jahr waren
es deutlich weniger – aber da war auch das Wetter grottenschlecht.
Dass der Gordel rund um Brüssel stattfindet, ist kein Zufall. Obwohl das
Gebiet zu Flandern gehört, gibt es sechs Gemeinden, in denen inzwischen
mehr Frankofone als Flamen leben. Deshalb haben sie einige Sonderrechte,
zum Beispiel dürfen sie ihre offiziellen Dokumente in französischer Sprache
beantragen. Die Schilder in den Dörfern sind in der Regel zweisprachig.
Immer mehr Frankofone ziehen aus der belgischen Hauptstadt raus aufs Land.
Den Flamen sind diese Privilegien seit Jahren ein Dorn im Auge. „In Berlin
gibt es schließlich auch keine Schilder in russischer Sprache. Warum
sollten wir zweisprachige Schilder in Flandern haben?“, fragt Guido
Andries, auf dessen T-Shirt der flämische Löwe prangt. Die Idee zu dem
politischen Radrennen hatte André Lerminiaux. Während des Rennens sitzt er
in der Organisationszentrale. Der 69-Jährige arbeitet als Arzt in
Drogenbos, einer weiteren Gordel-Gemeinde. Jahrzehntelang hat er dort auch
gelebt. Nun hat er sich ein Häuschen im Nachbarort Beersel gebaut. Hier
wohnen noch immer mehr Flamen als Frankofone. Hier fühlt er sich wohl, sagt
er und lächelt.
Wenn André Lerminiaux vom Gordel erzählt, überschlägt sich seine Stimme vor
Eifer. „Der Gordel, das ist mein Baby. Nun sehe ich es wachsen“, sagt er
und schaltet den Fernseher an. Besuchern zeigt er gern eine Reportage über
die Geschichte des Radrennens.
Über den Flachbildschirm flackern Bilder von 1981, dem ersten Gordel-Jahr.
Die Teilnehmer stecken in orangefarbenen Trikots. Manche haben sich die
gelbe flämische Fahne mit dem Löwen ans Rad gesteckt. „Der Gordel ist klar
ein Protest gegen den frankofonen Imperialismus. Wir wollen nicht, dass
sich Brüssel weiter ausbreitet und unsere Gemeinden schluckt“, sagt André
Lerminiaux.
## Soziales Gefälle im ganzen Land
Der Radler Giudo Andries sieht das genauso. Er war mal Bürgermeister von
Wemmel, einer der anderen flämisch-frankofonen Gemeinden. Mittlerweile ist
er von seiner Tour zurück und sitzt in der Dorfkneipe von Dilbeek vor einem
kühlen Bier. „Palm“ heißt das und kommt selbstverständlich aus Flandern.…
bemüht noch einmal den Vergleich mit Russland und Deutschland: „Stellen Sie
sich ein Dorf in Ostdeutschland vor, in das immer mehr Russen kommen.
Plötzlich wollen die alles zweisprachig haben. Dann gründen sie eine Partei
und sagen: Jetzt sind wir in Russland. So machen das die Frankofonen.“
Als „Bedrohung“ nehme man die Frankofonen wahr, sagt auch Lerminiaux, der
auf seinem Sofa sitzt und mit Mija De Greef plaudert. Die Flämin ist
Gordel-Mitbegründerin. In den ersten Jahren war viel Improvisation dabei,
mittlerweile hat die flämische Regionalregierung die Organisation
übernommen. Alles ist professioneller, aber das Ziel ist das gleiche
geblieben: die flämische Kultur gegen die Frankofonen verteidigen.
Für André Lerminiaux ist das nicht nur eine Frage der Sprache. „Es ist ein
sozialer Streit“, sagt er. Er hat damit seine ganz persönlichen Erfahrungen
gemacht, als er in den 60er Jahren in der flämischen Stadt Leuven Medizin
studierte. Damals gab es dort noch eine flämische und eine
französischsprachige Universität. „Die frankophonen Professoren sprachen
kein Wort Flämisch. Sie behandelten ihre flämischen Patienten wie Tiere,
weil sie sich nicht verständigen konnten“, erinnert er sich. Deshalb hat er
heute an seine Praxistür zwar ein rein flämisches Schild hängen, spricht
aber mit seinen frankofonen Patienten ihre Sprache.
## Für die Frankofonen "eine echte Provokation"
Die Unabhängigkeit Flanderns will er nicht unbedingt – allerdings mehr
Freiheiten für die flämische Regionalregierung und eine Beschränkung der
Rechte der Frankofonen in den flämischen Gemeinden. Das sieht der
Bürgermeister des Städtchens Linkebeek am Rand Brüssels ganz anders. Damien
Thierry ist ein Frankofoner - aus Leidenschaft. Seit Jahren ist er Mitglied
der Partei FdF, die die Interessen der Frankofonen in Flandern vertritt.
Er sitzt in seinem Büro im Erdgeschoss des Linkebeeker Rathauses. Hinter
dem blonden Mann, etwa Ende 40, hängt ein Stadtplan seiner
5.000-Einwohner-Gemeinde. Damien Thierry dreht sich kurz um, zeigt darauf.
„Wir sind zwar in Flandern, aber bei uns sind über 80 Prozent der
Bevölkerung frankofon. Für uns ist der Gordel eine echte Provokation.“
Bisher hat er den Radlern die Durchfahrt durch seine Gemeinde erlaubt –
allerdings unter der Auflage, keine politischen Symbole zu tragen, nicht
mal den flämischen Löwen. „Bis jetzt hat mich die Polizei unterstützt. Aber
jetzt hat man mir gesagt, man könne mir nicht mehr helfen. Es herrsche
schließlich Meinungsfreiheit“, sagt Thierry und schüttelt den Kopf. Die
Auseinandersetzung mit den Flamen ist ihm lästig.
## Bestätigung im Amt verweigert
Er hat drängendere Probleme. Noch immer wartet er darauf, offiziell im Amt
bestätigt zu werden. Im vergangenen Oktober hat er bei den Kommunalwahlen
die Mehrheit in Linkebeek bekommen. Aber der zuständige flämische Minister
verweigert ihm die Ernennung. Man wirft ihm vor, die flämische Identität
seiner Gemeinde nicht zu respektieren. „Ich bin von der Mehrheit gewählt
worden. So funktioniert Demokratie. Alles andere ist Quatsch“, sagt
Thierry. Einen Monat lang hat er nun Zeit, beim Staatsrat, einer Art
Verfassungsgericht in Belgien, gegen die Entscheidung Einspruch einzulegen.
Immerhin, sagt Damien Thierry, habe sich der flämische Separatismus etwas
beruhigt. „Zurzeit stehen einfach die sozialen und wirtschaftlichen
Probleme des Landes im Vordergrund.“ Belgien muss neben der allgemeinen
Finanzkrise die Schließung von mehreren großen Firmen verkraften: Der
Autohersteller Ford macht sein Werk im flämischen Genk dicht. In Lüttich
will Arclor Mittal die Stahlproduktion einstellen. „Da ziehen wir dann doch
an einem Strang“, sagt Thierry.
Das ist selten. Gerade die wirtschaftliche Entwicklung spaltet die beiden
Landesteile: Flandern hat das einst so wohlhabende Wallonien mit seiner
Stahlindustrie in den vergangenen Jahrzehnten überflügelt. Im Norden des
Landes ist die Arbeitslosenquote viel geringer. Die Flamen überweisen
Wallonien jedes Jahr mehrere Millionen Euro zum Finanzausgleich. Vielen
Flamen ist das ein Dorn im Auge. Sie wollen ihre wirtschaftliche
Überlegenheit auch politisch ausspielen.
## Schon einmal gesiegt
Auch in diesem Jahr soll es wieder einen Gordel geben. In neuer Form. Zwei
Monate lang wollen die flämischen Gemeinden Konzerte, Sportevents,
Theateraufführungen veranstalten, die – das ist geblieben – den „flämis…
Charakter“ repräsentieren sollen. Und zum Abschluss werden dann auch wieder
die Fahrräder rollen.
Ganz so freundlich und pazifistisch, wie Lerminiaux den Gordel darstellt,
verhält es sich damit aber nicht. Spätestens wenn der Erfinder der
Rundfahrt die Zahl der Teilnehmer vor 32 Jahren mit genau 1.302 beziffert,
wird das klar: Im Jahr 1302 kam es bei der belgischen Stadt Kortrijk zur
Goldenen-Sporen-Schlacht zwischen Flamen und Franzosen. Die Franzosen
wollten sich die Tuchindustrie Flanderns sichern. Gesiegt haben damals die
Flamen.
4 Mar 2013
## AUTOREN
Ruth Reichstein
Ruth Reichstein
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Belgien
Separatismus
Bayern
Autonomie
Spanien
Regionalismus
Südtirol
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