# taz.de -- Diskussion um Zuzug von Roma: Falsche Könige | |
> Roma stehlen. Roma betteln. Was steckt dahinter? Eine Mafia? Oder eine | |
> Überlebensstrategie von Langzeitarbeitslosen? | |
Bild: Letztlich geht es um Armut, egal ob in Deutschland oder – so wie hier �… | |
In Ungarn, der Slowakei und Bulgarien ist „Zigeunerkriminalität“ schon | |
lange ein Dauerbrenner. Jetzt hält das Thema Einzug in seriöse deutsche | |
Printmedien. Dabei wird nicht direkt die alte Gewissheit bedient, dass | |
Zigeuner klauen. In Features und Reportagen entsteht vielmehr das Bild | |
einer großen, geheimen, den Kontinent umspannenden Organisation, die mit | |
Prostitution, Bettelei und Diebstahl einem kleinen Kreis von reichen | |
Hintermännern dient. Die Elendsgestalten, die einem in deutschen Städten | |
begegnen, sind in diesem Bild zwar auch Opfer, zugleich aber Agenten einer | |
bedrohlichen Macht. | |
Das Bild ist farbig und kontrastreich, und vor allem kommt es der | |
moralischen Verwirrung, der wir liberal empfindenden Städter beim Anblick | |
elender Bettler aus Südosteuropa erliegen, maximal entgegen. Wir wollen ein | |
Verbrechen oder wenigstens eine schwere Ungerechtigkeit darin sehen, dass | |
da wer in Lumpen auf dem Pflaster sitzt, Kinder zum Betteln schickt oder | |
sich prostituiert. Aber wir begehren, nicht schuld daran zu sein. | |
Solch ein Tableau ist stimmig, aber es bildet die Wirklichkeit nicht ab. | |
Die rumänische Justiz bekommt dutzendweise Rechtshilfeersuchen aus dem | |
Westen, vor allem aus Frankreich, und soll die Hintermänner von | |
Bettelbanden ausfindig machen. So gut wie nie kommt etwas dabei heraus, | |
sagt der Menschenrechtsbeauftragte der rumänischen Polizei. | |
In der Regel sind es einfach verwahrloste Familien, die mit Kindern | |
betteln, und der Zuhälter ist der Bruder oder der Schwager. Ein Paar, dem | |
es ein bisschen besser geht, lebt vielleicht in Rom oder Lyon im | |
Abbruchhaus und holt von der Schwester oder Schwägerin die Kinder nach. | |
Vielleicht kommt das Paar auf den Geschmack und lässt sich von den Kindern | |
aushalten. | |
So trivial, ja familiär ist jedenfalls das Entstehungsmuster der beiden | |
einzigen Fälle von organisiertem Roma-Menschenhandel, in denen es zu | |
Verurteilungen gekommen ist – einer in London, bei dem es um eine große | |
Zahl stehlender Kinder ging, der andere in Wien, wo eine Familie sich | |
gezielt wehrlose Behinderte aus Rumänien schicken ließ und aufs Pflaster | |
setzte. | |
## Die Unterwelt als GmbH | |
Verbrechen organisiert sich in jeder Gesellschaft im Prinzip so wie das | |
normale Geschäftsleben auch: Wo oben die GmbH vorherrscht, tut sie es auch | |
in der Unterwelt, und wo man im Alltag verwandt sein muss, um einander | |
vertrauen zu können, muss man es in der Welt der Dunkelmänner erst recht. | |
Vor allem Roma tun alles familienweise: Sie leben, arbeiten, reisen, | |
siedeln zusammen, und auch wenn sie stehlen, tun sie es als Familie. | |
Natürlich gestalten die Ermittlungen sich damit immer schwierig. Sowohl in | |
dem Londoner als auch in dem Wiener Fall mussten die Richter tief in | |
verwandtschaftliche und nachbarliche Beziehungen eindringen: Wer war von | |
wem abhängig? Wer hat wem Geld bezahlt und warum? Es gibt ja keine Konten, | |
deren Bewegungen man nachvollziehen könnte. Nur mit dem Polizeiblick wird | |
die Tante eines bettelnden Kindes zur „Aufpasserin“, die die „Beute“ | |
absammelt. | |
Man versuche einmal, das Geschehen in einer beliebigen Familie mit den | |
Kriterien des Strafrechts zu erfassen. Allein für den Tatbestand der | |
Nötigung hätte wohl viele ein beachtliches Strafregister. | |
## Paläste aus Gips | |
In einem Text der taz vom 9. Februar wurde als Hintermann der Diebs- und | |
Bettelbanden Kiril Raschkow vorgestellt, ein Mafioso, der als „Zar Kiro“ in | |
Bulgarien in der Tat große Bekanntheit genießt. So, wie er in der Zeitung | |
stand, stellt sich Raschkow selbst gern dar: als Herr über Tausende | |
willenlose Anhänger, über ein europaweites Netzwerk. Wenn er nur berühmt | |
und mächtig ist, ist er nach bulgarischer Logik auch unberührbar. Er muss | |
aufschneiden, um sich zu schützen. | |
Als er 2011 verhaftet wurde, drohte der „Zar“, er werde eine „Armee aus | |
2.000 Zigeunern“ aufstellen. Niemand rührte sich. Sein „Hoheitsgebiet“ g… | |
es gar nicht. Ausgerechnet im Viertel Stolipinowo in Plowdiw, das angeblich | |
dazugehört, verurteilte eine Art Weisenrat Kiro Raschkow sogar symbolisch | |
zum Tode. | |
Man sollte allerdings auch umgekehrt nicht den Fehler machen, nun den | |
Weisenrat für den eigentlichen Mächtigen zu halten. In bulgarischen | |
Roma-Siedlungen gibt es keine festen Macht- und schon gar keine | |
staatsförmigen Strukturen. Der österreichische Stromkonzern EVN, der in | |
Stolipinowo das Netz gekauft hat, hat vergeblich nach „Anführern“ gesucht, | |
mit denen er über die Strompreise hätte verhandeln können. Stattdessen | |
haben die Österreicher schließlich Roma eingestellt, die ihnen erklären | |
konnten, dass sich hier jeder selbst der Nächste ist. | |
Es gibt Ansehenshierarchien in den Roma-Quartieren, landesüblichen | |
Klientelismus, auch Abhängigkeiten, meistens durch den informellen | |
Geldverleih. Aber Strukturen von Befehl und Gehorsam sind den zahlreichen | |
Sozialarbeitern, Anthropologen, Mitarbeitern von Hilfsorganisationen, die | |
in Roma-Slums arbeiten und manchmal auch leben, bisher nicht aufgefallen. | |
## Suggerierter Reichtum | |
Auf die angeberisch vorgespiegelte Macht darf man ebenso wenig hereinfallen | |
wie auf den ostentativen Konsum, der Reichtum suggerieren soll. Die | |
„prunkvollen Paläste“, die man in manchen Roma-Dörfern besichtigen kann, | |
sind schon auf einen flüchtigen Blick meistens Kulissen aus falschem | |
Marmor, Gips und Messing; manche haben nicht einmal fließendes Wasser. | |
Die wenigen Roma, die wirklich reich sind, haben ihr Geld meistens mit | |
Schrott- oder Buntmetallhandel gemacht, und sie leben auch nicht in | |
Roma-Vierteln, sondern unter ihresgleichen in wenigen Dörfern, deren Namen | |
in Rumänien und Bulgarien jeder kennt: Sintesti, Buzescu, Katuniza. Funk | |
und Fernsehen lieben Reportagen von hier. Von den Roma-„Königen“ aus einer | |
Reportage der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 24. Februar, die | |
ihre Elendsviertel „wie einen Staat“ regieren würden, kann keine Rede sein. | |
Falsch ist auch der Eindruck, dass Menschenhandel, Verbrechen und Betteln | |
mit Kindern unter den Armutszuwanderern aus Bulgarien und Rumänien die | |
Regel seien. Betteln mit Kindern etwa ist überall in Europa verboten und im | |
Grunde selten, denn es spielt sich seiner Natur nach in der größtmöglichen | |
Öffentlichkeit ab. | |
## Gelegenheitsjobs, Transferleistungen, Geschäfte | |
Die meisten südosteuropäischen Roma puzzeln sich ihre Existenz aus | |
Gelegenheitsjobs, Transferleistungen, kleinen Geschäften, Schrottsammeln | |
zusammen, in Deutschland wie auf dem Balkan, nur dass dort noch ein | |
bisschen Ackerbau im Brachland dazukommt. | |
Das ist nicht „Kultur“ oder „Lebensweise“, sondern die Überlebensstrat… | |
von Langzeitarbeitslosen. Nicht-Roma in Armutsvierteln und Armutsregionen | |
machen es genauso. Der Unterschied zwischen armen Roma auf der einen und | |
armen ethnischen Rumänen und Bulgaren auf der anderen Seite liegt darin, | |
dass Letztere bei der Restitution verstaatlichten Eigentums meistens das | |
Häuschen der Oma auf dem Lande und einen halben Hektar Land bekommen haben. | |
Deshalb bleiben sie. | |
Die kulturellen Charakteristika, die wir uns gern als ursächlich für das | |
sogenannte Roma-Problem zurechtlegen, lösen sich bei näherem Hinsehen auf. | |
Die Verachtung gegenüber den „Gadsche“, den Nicht-Roma, das extrem frühe | |
Heiratsalter, die selbstbewusste Bildungsfeindschaft, den engen, | |
einengenden Familienzusammenhalt, von denen man gern liest, finden sich vor | |
allem in der Minderheit der traditionalistischen Familien. Sie leben aber | |
nicht in den Roma-Vierteln von Bukarest, Plowdiw oder Skopje, sie gehen | |
klassischen Geschäften oder Handwerken nach und haben es nicht nötig, in | |
ein Abbruchhaus in Duisburg zu ziehen. | |
Was wir lieber für Kultur oder das Werk einer kontinentalen Organisation | |
halten würden, ist in Wirklichkeit einfach Armut oder ihre mittelbare | |
Folge. „Nicht der Armen Schlechtigkeit hast du mir gezeigt“, sagt Brechts | |
Heilige Johanna der Schlachthöfe zu dem Makler Slift, „sondern der Armen | |
Armut.“ | |
Armut macht in der Tat nicht edel und auch nicht sympathisch. Aber perfekte | |
Organisation und „unermesslichen Reichtum“ bringt sie nicht hervor, auch | |
nicht bei den sogenannten Hintermännern. Wer das Verhalten der | |
Armutswanderer Roma verstehen will, muss kein Kriminologe sein und braucht | |
auch keine ethnologischen Werke zu studieren. Es genügt im Wesentlichen, | |
sich vorzustellen, wie man selbst leben würde, wenn man kein Geld, keine | |
Arbeit, keine Wohnung hätte. Das ist allerdings keine schöne Vorstellung, | |
und wer nicht muss, setzt sich ihr ungern aus. | |
4 Mar 2013 | |
## AUTOREN | |
Norbert Mappes-Niediek | |
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