| # taz.de -- Buchvorabdruck zu Fukushima: Lehrmeister Kernkraft | |
| > Am 11. März 2011 begann die Unfallserie im Atomkraftwerk Fukushima. Sie | |
| > beschleunigte, was längst evident war: das Ende der Atomkraft. | |
| Bild: Verspricht immer noch Wunder, diesmal aber als „Freizeitpark Wunderland… | |
| Wieder und wieder wird von Umweltschützern wie von Ökoskeptikern | |
| argwöhnisch gefragt: Ist diese unter der Regie einer schwarz-gelben | |
| Koalition durchgedrückte Energiewende ernst zu nehmen? Oder handelt es sich | |
| um einen populistischen Opportunismus unter dem frischen Eindruck der | |
| Reaktorkatastrophe von Fukushima? | |
| Nein, eine bloße Momentreaktion auf Fukushima ist die Energiewende nicht | |
| gewesen. Sie war nicht viel mehr als eine Rückkehr zu dem bis zum Jahr | |
| davor bestehenden Status quo, der unter der rot-grünen Regierung im Jahr | |
| 2000 vereinbart worden war. Teils offen, teils latent hat sich der Ausstieg | |
| aus der Kernenergie seit Jahrzehnten abgezeichnet. | |
| Bereits ab 1982 wurden wegen sinkender ökonomischer Attraktivität und | |
| unerwarteten Kraftwerksüberkapazitäten keine neuen Kernkraftwerke mehr | |
| bestellt. Das Drosseln des nuklearen Tempos war jedoch bei dem Gros der | |
| Energiewirtschaft mehr ein reaktiver als ein zielbewusst geplanter Prozess. | |
| ## „Grüne“ Führungsmacht | |
| Ein erneuter Ausstieg aus dem Ausstieg würde zu einem demoralisierenden | |
| Desaster führen: nicht nur zu einem ökologischen, sondern auch einem | |
| ökonomischen und politischen. Deutschland war seit einem Jahrhundert noch | |
| nie so geachtet in der Welt wie jetzt, wo es weithin als eine „grüne“ | |
| Führungsmacht gilt und innovatorische Geister in aller Welt die deutschen | |
| Entwicklungen mit Neugier und Bewunderung verfolgen. | |
| Am 12 März 2012 veröffentlichte der Economist einen Leitartikel, der weites | |
| Aufsehen erregte: „Nuclear power: A dream that failed“. Die Kernkraft hat | |
| das alte Charisma der unerschöpflichen Energie längst verloren; dieses | |
| Charisma ist auf die „Renewables“ übergesprungen. | |
| Seit der Energiewende von 2011 führen die neuen Perspektiven zu einem | |
| förmlichen Dammbruch technischer Kreativität und einem unablässigen Strom | |
| neuer Ideen. Gewiss werden Rückschläge und Enttäuschungen nicht ausbleiben; | |
| und doch erkennt man, wie die Aussicht auf Freiheit von der Kerntechnik zur | |
| Befreiung einer neuen Ingenieursgeneration führt. Die Fixierung auf die | |
| Kernkraft hatte den Erfindergeist seit Jahrzehnten gelähmt. | |
| Die Kritik an der neuen deutschen Energiepolitik ist dagegen allgemein, sie | |
| arbeitet sich an den Defiziten an durchdachter, weitsichtiger Planung und | |
| Koordination ab. Mittlerweile gibt es geradezu ein ganzes Literaturgenre, | |
| das unter aufrichtiger oder vorgespiegelter Berufung auf hohe | |
| Umweltschutzideale jede reale Umweltpolitik lächerlich macht. | |
| ## Neue Rechthaberei | |
| Wir erleben in der Literatur zu Politik und Ökonomie eine Welle neuer | |
| Rechthaberei, nach dem Muster: „Warum bisher dies oder das völlig falsch | |
| gemacht wurde und wie man es richtig macht“. Das ist ein Literaturgenre für | |
| große Kinder. Zukunftsorientierte Politik ist stets ein Spiel mit | |
| Unbekannten; und wenn sie intelligent betrieben wird, ist sie ein | |
| abwägendes Spiel mit mehreren Optionen, das streckenweise auch in einen | |
| Zickzackkurs münden kann. | |
| Für die neue Energiepolitik gilt das in besonderem Maße. Um alles perfekt | |
| koordinieren zu können – von der Energieproduktion bis zu neuen Netzen und | |
| Speicheranlagen –, müsste man bereits über vieles genau Bescheid wissen, | |
| was noch in der Schwebe ist. Wie weit hat es Sinn, Offshore-Windkraft oder | |
| Solaranlagen in der Sahara aufzubauen? Welche Potenziale birgt die | |
| Geothermie? Sind bei den Speichertechniken noch große Innovationen zu | |
| erwarten? | |
| Hier muss sich jeder Neuling klarmachen: Der Energiediskurs ist kein | |
| herrschaftsfreier Diskurs à la Jürgen Habermas. In Sachen Energie gibt es | |
| nur wenige unschuldige Informationen und schon gar keine unschuldigen | |
| Prognosen. Daher ist besonderes Misstrauen angebracht, wenn exakte | |
| Prognosen mit gar zu großer Sicherheit verkündet werden. | |
| ## Expertendilemma | |
| Bei alldem stoßen wir auf das Expertendilemma, das die gesamte Geschichte | |
| der Kerntechnik – gewiss nicht nur sie – begleitet: Die meisten Experten | |
| sind zugleich Partei. Diejenigen, die wirklich über Wissen aus erster Hand | |
| verfügen, sind in der Regel hochspezialisiert, während diejenigen, die in | |
| der Öffentlichkeit als „Experten“ auftreten, in Wahrheit oft mindestens so | |
| sehr Lobbyisten und PR-Leute sind. | |
| Immer wieder stellt sich heraus, dass es wesentlich auf Erfahrungslernen, | |
| auf learning by doing ankommt und die physikalische Theorie allein die | |
| Zukunft nicht zu antizipieren vermag. Ironie der Geschichte: Ganz die | |
| gleiche Erfahrung musste man einst bei der Kerntechnik machen – um doch | |
| daraus bemerkenswert wenig Konsequenzen zu ziehen. | |
| Bei den Erneuerbaren allerdings kann man sich Experimente leisten. Wenn | |
| sich Windparks auf Schwarzwaldhöhen als energetisch nicht lohnend | |
| herausstellen und auch noch nach Jahren als Landschaftsverschandelung | |
| empfunden werden, montiert man sie eben wieder ab. | |
| Wenn freilich heute von Protagonisten der erneuerbaren Energien | |
| argumentiert wird, dass diese einen Anspruch auf hohe Subventionen hätten, | |
| da auch die Kernenergie einst vom Staat mit Milliardenbeträgen gefördert | |
| worden sei, ist diese Logik mit Vorsicht zu genießen. | |
| Entscheidend für den Durchbruch der Kerntechnik war die vom Staat verfügte | |
| Haftungsbegrenzung im Falle eines Atomunfalls. Von den Milliarden an | |
| Steuergeldern, die in die Kernforschungszentren und die vermeintlichen | |
| Zukunftsreaktoren gesteckt wurden, hat die Atomwirtschaft – von lukrativen | |
| Aufträgen abgesehen – nicht viel gehabt. Nicht ein einziges dieser | |
| Reaktorprojekte hat auch nur den geringsten Erfolg erzielt. | |
| Und doch wäre ein Hohelied auf das Allheilmittel „freie Wirtschaft“ | |
| angesichts der von gigantischen Machtkonzentrationen dominierten | |
| Energiewirtschaft naiv. Da muss ein Machtmonopol gebrochen und mit Hilfe | |
| des Staates eine Gegenmacht aufgebaut werden. Gerade dies steht sogar in | |
| bester Ludwig-Erhard-Tradition; der predigte bei seinen unablässigen | |
| Feldzügen gegen die Kartelle seine historisch wohlbegründete Überzeugung, | |
| dass der Staat gefordert sei, damit ein wirklich freier Markt mit einer | |
| Vielfalt von konkurrierenden Anbietern entsteht. | |
| Das unterschlagen jene, die unter Berufung auf die Erhard-Tradition die | |
| sofortige unbeschränkte Konkurrenz auf dem Energiemarkt fordern: nach | |
| heutiger Lage der Dinge ein bloßer Trick, um die Alleinherrschaft der | |
| Dinosaurier in der Energiewirtschaft zu erhalten. | |
| Bei der Energiewende ist eine Pluralität schon in der Technik selbst | |
| angelegt: Darin liegt eine große Chance für Ingenieure und Manager, die mit | |
| neuen Ideen und neuem Schwung an Energiefragen herangehen. Aber genau | |
| dieser Umstand macht es den Energiepolitikern nicht leicht. Das erkennt man | |
| besonders im Kontrast zur Atompolitik: Da sahen sich die Politiker einer | |
| Community gegenüber, wo vor allem in der Frühzeit jeder jeden kannte und | |
| man glauben konnte, dass die atomaren Dinge zügig in Fluss kommen würden. | |
| ## Keine einige Community | |
| Bei den erneuerbaren Energien gibt es jedoch keine allumfassende | |
| handlungsfähige Community: Solare Energie, Windkraft – beide in zentral und | |
| dezentral gespalten, Bioenergien unterschiedlichster Art, Geothermie, | |
| Speichertechniken, Kraft-Wärme-Kopplung, Wärmedämmung der Häuser –, all d… | |
| bietet eine kunterbunte Szene. Wie nicht anders zu erwarten, geht es auch | |
| hier menschlich zu, mit Scheuklappen und Grabenkämpfen. | |
| Aus einer rein technischen Kompetenz und Rationalität heraus kann diese | |
| Szene unmöglich zu einer koordiniert handlungsfähigen Einheit gelangen; | |
| hier sind neue Mediatoren und Managertypen gefordert. Die befinden sich | |
| nicht in den Chefetagen der bisherigen Energiewirtschaft. | |
| Wer noch in der Ära der großen Kraftwerke aufgewachsen und durch diese auch | |
| emotional geprägt worden ist, hat es nicht leicht, sich auf die Chancen der | |
| elektronischen und solaren Revolution umzustellen, intellektuell wie | |
| emotional. Das wissen die Autoren dieses Textes aus eigener Erfahrung. | |
| Man verstehe das nicht als pathetische Schwärmerei für einen neuen idealen | |
| Menschen und für die Vision eines solaren Zeitalters, das mühelos mitsamt | |
| den ökologischen nebenbei auch die sozialen Probleme der Menschheit löst! | |
| Die Albernheiten der alten Atomeuphorie müssen sich nicht im Zeichen der | |
| Alternativenergien wiederholen; der Fanatismus, der sich oft mit allzu | |
| abstrusen Visionen verbindet, hat kaum je etwas Gutes bewirkt. | |
| 10 Mar 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| J. Radkau | |
| L. Hahn | |
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