Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Gettoisierung in Kosice: Die Müllabfuhr kommt nicht mehr
> Stolz präsentiert sich die Kulturhauptstadt Kosice. Vergessen werden die
> dunklen Seiten. Die anhaltende Diskriminierung der Roma gehört dazu.
Bild: Gemeinsames Mittagessen im Kindergarten von Lunik IX.
Das Hilton in Kosice ist frisch renoviert. Bis vor Kurzem war es noch das
aus realsozialistischen Zeiten stammende betongraue Hotel Slovan. Bei Dusan
Simko lässt die Erinnerungen daran ein „Stalingradfeeling“ wach werden. Und
dass das neue Hotel jetzt das legendäre Café Slovan wieder eröffnet hat und
damit Gäste anlocken will, die die Atmosphäre der slowakischen Boheme
genießen soll, findet der Schriftsteller lächerlich. Dort hätten vor allem
Spitzel mit anderen internationalen Gästen ihren Kaffee getrunken.
Simko weiß viel von der Geschichte der Stadt zu erzählen. Auch das, was in
den offiziellen Prospekten der Kulturhauptstadt 2013 nicht zu finden ist.
So steht er beispielsweise vor dem Haus, in dem heute die Deutsche Telekom
sitzt und erzählt, dass hier früher die Gestapo untergebracht war.
Er weist daraufhin, dass am Bahnhof von Kosice nichts daran erinnert, dass
von hier aus 1944 fast die gesamte jüdischen Einwohner aus Kosice und
Umgebung (etwa 15.000) und 300.000 ungarische Juden ins Vernichtungslager
Auschwitz deportiert wurden.
Beim Empfang der Bürgermeisterin Renata Lenartova erklärt Jan Sudzina,
Leiter der Kulturhauptstadtgesellschaft, wie stolz die Stadt auf ihre
Multikulturalität sei, und verkündet das Motto von Kosice 2013: „Vorwärts
zu unseren Traditionen.“
Kosice entwickele sich als eine moderne Stadt, die aber ihre Traditionen
nicht zerstören wolle. Auf diesem Weg wurde aber vieles vergessen, was auch
zur Tradition der Stadt gehört. Wie zum Beispiel die Roma.
Nichts weist in der schmucken Altstadt darauf hin, dass hier zwischen den
1950er und 1980er Jahren Tausende Roma lebten, die von der kommunistischen
Regierung Wohnungen zugewiesen bekamen. Die Innenstadt hatte noch nicht so
hübsche Fassaden und kopfsteingeflasterte Gassen wie heute.
Dass sie die erhielt, dafür ist der ehemalige Bürgermeister von Kosice,
Rudolf Schuster, verantwortlich, der in den 1980er Jahren die Innenstadt
sanieren ließ.
Der Preis dafür war nicht nur finanziell sehr hoch. Auch die sozialen
Folgen waren und sind immens. Es war der liberale Schuster, zwischen 1999
und 2004 auch Präsident der Slowakei, der sämtliche Roma, die ihre Miete
nicht zahlen konnten, aus der Innenstadt evakuieren und in die Siedlung
Lunik IX umsiedeln ließ.
„Damals fanden wir die Idee gut. Anders wäre die Sanierung der Innenstadt
nicht möglich gewesen“, erzählt der Elder Statesman heute.
„Ich habe das schwerste Jahr meines Lebens hinter mir“, erzählt der Leiter
des Don Bosco Zentrums, einer katholische Einrichtung des Salesianerordens,
dessen zwölf Mitarbeiter mitten in Lunik IX seit fünf Jahren
Religionsunterricht, Schülernachhilfe und Seelsorge betreiben.
## Abriss statt Sanierung
„Das Projekt ist gescheitert“, konstatiert der Geistliche und macht dafür
unter anderem den Staat verantwortlich. Statt Wohnungen zu sanieren, wurden
drei Plattenbauten mit 100 Wohnungen abgerissen.
Die obdachlos gewordenen Bewohner mussten zu den anderen in die Wohnungen
ziehen. Die sozialistische Plattenbausiedlung war ursprünglich für knapp
2.000 Menschen konzipiert worden. Heute leben dort etwa 7.000.
Es sind mehrere riesige Betonriegel: völlig verrottet, fast alle Fenster
und Türen fehlen, Mauerstücke sind herausgebrochen, die Wände verrußt,
kleine Müllhaufen brennen, Jugendliche kauern vor den Eingängen, zerlumpte
Kinder laufen durch die kahlen Straßen.
Vor dem einzigen Wasserhahn des Viertels stehen Menschen, um Kanister zu
füllen. Die Stadt hat das Wasser für das gesamte Viertel abgestellt, die
Müllabfuhr kommt auch nicht mehr.
Auch in der blitzeblanken Wohnung von Eva Zigova fließt kein Wasser mehr
aus dem Hahn. In ihrer Wohnung sieht es aus wie in jeder durchschnittlichen
europäischen Kleinbürgerwohnung: penibel sauber, Einbauschränke,
Kuckucksuhren an der Wand. Die Wasserkanister stehen versteckt unter der
Küchenspüle.
## Kein Wasser, aber die Rechnung kommt
„Wir haben unsere Wasserrechnung immer bezahlt“, seufzt die kleine adrette
Frau in ihrem weißen Arbeitskittel. Obwohl es nicht mal einen Wasserzähler
gäbe, bekämen sie immer noch Rechnungen, auf denen der Wasserverbrauch
stehe.
Ihr Ehemann arbeitet bei US Steels, der größten Fabrik der Stadt, sie als
Putzfrau im städtischen Kindergarten von Lunik IX. Ihre Wohnung liegt in
dem Haus direkt daneben, es ist eines von zwei Hochhäusern, die nicht ganz
so verlottert wie die anderen aussehen. Es gibt Balkone, auf denen Wäsche
hängt, die Fenster sind intakt. Im Treppenhaus ist der durchdringenden
Uringestank aus dem Eingangsbereich allerdings kaum zu ertragen.
Warum zieht sie nicht weg?
„Wir können uns anderswo keine Wohnung leisten“, erläutert Zigova und zuc…
die Achseln.
Vor dem Kindergarten steht der ehemaligen Bürgermeister Josef Sanja. Er
trägt ein rotes Hemd, auf dem ein großer Löwe aufgedruckt ist, und eine
rosa Jogginghose, und er ist betrunken und wirkt so, als wäre er das recht
oft. „Ich bereite einen Streik vor“, erzählt er. „Die Verfassung garanti…
die Menschenrechte. Wenn wir Bürger dieses Staats sind, dann muss hier was
passieren.“
60 Prozent aller Roma in der Slowakei leben inzwischen in ihnen von Stadt
und Land zugewiesenen „Gettos“, Trabantensiedlungen am Rande der Städte,
die wie aufgelassene Dörfer wirken. Lunik IX ist das Paradebeispiel für die
„Gettoisierung“ der Roma in Europa. Man kann hier noch so betrunken sein
wie Sanja oder so organisiert wie Eva, hier leben möchte niemand.
## Frühstück im Kindergarten
Drinnen im städtischen Kindergarten ist es so blitzeblank wie in Eva
Zigovas Wohnung: die Tischchen, die Bettchen, das Spielzeug, die Köchinnen
und die über 60 Kinder. Gerade gibt es Frühstück: für jeden ein Butterbrot,
aber erst wird noch gemeinsam ein Lied gesungen. Im ersten Stock sitzen in
einem kleinen Raum sechs junge Mütter an einem Tisch und rollen aus
Zeitungspapierstreifen kleine Röhrchen, die sie in einen Behälter stellen.
Sie machen das für ein Kulturhauptstadtprojekt.
Was daraus genau werden soll, wissen sie nicht. Aber sie bekommen dafür
Geld, was sie brauchen, um den Aufenthalt ihrer Kinder im Kindergarten zu
bezahlen.
Die Mütter sind sauer. Auf die Bewohner des anderen Viertels, die sie als
„Kriminelle“ bezeichnen. Ihretwegen hätten sie keinen Strom und kein Wasser
mehr. Die wollten nicht arbeiten und würden allen anderen damit das Leben
schwer machen.
„Ich will hier weg und warte nur darauf, dass mein Onkel uns nach Belgien
holt“, empört sich eine der Mütter.
## Der Traum vom Ausland
Lunik IX ist nicht nur ein Slum der Pauperisierten. Es zeigt auch die
anhaltende Diskriminierung der Roma in der slowakischen Gesellschaft:
„Viele könnten sich eine Wohnung in einem anderen Stadtteil durchaus
leisten. Aber sie haben Angst.
Wer kann, zieht aus Lunik IX weg. Aber meistens ins Ausland“, erzählt
Jarmila Vanova, Journalistin und Direktorin des Roma-Medienzentrums Mecem.
„Sie haben Angst davor, in einer anderen Wohngegend als Aussätzige
behandelt zu werden und woanders keinen Job zu finden.“
Der Verein Mecem, der unter anderem die mehrfach ausgezeichnete Roma Press
Agency betreibt, bildet Journalisten aus, betreibt eigene
Nachrichtensendungen in der Rom-Sprache im öffentlichen Rundfunk und
Fernsehen und unterstützt zahlreiche Projekte zur Selbstverwaltung und
Selbstermächtigung der Roma. Mecem erhält aber weder vom slowakischen Staat
noch vom Kulturhauptstadtfonds finanzielle Unterstützung.
## Kein Interesse an Menschenrechte
Auch Vanova glaubt, dass Lunik IX nicht mehr zu retten ist. Sie ist sauer,
auch auf die NGOs. Obwohl das Roma-Problem ein boomendes Business sei,
kümmere sich niemand nachhaltig um die Roma: „Alle sprechen hier von
nachhaltigen Kulturprojekten, aber für ein nachhaltiges Projekt, dass die
Menschenrechte für die Roma sichert interessiert sich niemand.“
Dass sich ausgerechnet die katholische Kirche in Lunik IX eingerichtet
habe, werde von verschiedenen Seiten kritisiert. Aber es sei in all den
Jahren nun mal keine einzige NGO aufgetaucht, die sich als Lobbyisten für
die Bewohner des Viertels eingesetzt hätte, und dann sei das eben das
Ergebnis.
„Was sind die sieben Wunder der Slowakei? Montag, Dienstag, Mittwoch …,“
erzählen drei Jungs in einer Bar in Kosice. „Hier ändert sich nichts, außer
den Fassadenfarben“.
In Lunik IX sind die Fassaden längst abgefallen und der Kulturhauptstadt
Kosice, die so stolz auf ihre Minderheitenvielfalt ist, ist es
offensichtlich völlig egal, dass sich mitten in ihrer Stadt eine Tragödie
abspielt, die das ganze Kulturmarketing von Kosice als den eigentlichen
Schandfleck erscheinen lässt.
23 Mar 2013
## AUTOREN
Doris Akrap
## TAGS
Slowakei
Kulturhauptstadt
Kosice
Roma
Reiseland Slowakei
Slowakei
Reiseland Frankreich
Reiseland Belgien
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Kulturhauptstadt im fernen Osten: Zurück ins heimische Kosice
Zusammen mit Marseille ist Kosice europäische Kulturhauptstadt 2013. In der
Altstadt ist noch immer das Flair der ehemaligen K-u.-k-Monarchie zu
spüren.
Ladislaus Csatarys Nazi-Verbrechen: Der Massenmord von Košice
Ladislaus Csizsik-Csatary soll für die Deportationen aus der slowakischen
Stadt Košice verantwortlich sein. Etwa 15.700 Menschen wurden ermordet.
Französische Kulturhauptstadt: Das alte Marseille verschwindet
Marseille wird umgekrempelt. Am ehemaligen Industriehafen entstehen Büros,
Wohnungen, Einkaufstempel, Promenaden und Museen.
Kulturhauptstadt Mons: Drachen im Hochzeitssaal
Im Bergbauland: Die belgische Drachenstadt Mons, eine wenig beachtete
wallonische Provinzmetropole, darf sich 2015 als Europas Kulturhauptstadt
bezeichnen.
Kulturhauptstadt 2011: Tallinn, Stadt in der Pubertät
Man sagt über die Esten, sie seien künstlerisch veranlagt. Das sieht man
vor allem in Tallinn. Die Kulturhauptstadt 2011 präsentiert sich als bunte
Metropole.
Kulturhauptstadt 2011: Schräge Touren durch Tallinn
Auf dem Flohmarkt, im Museum oder in Bunkern – in der estnischen Hauptstadt
Tallinn ist noch der Umbruch vom Sowjetstaat zur postkommunistischen Ära zu
spüren.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.