# taz.de -- Kulturhauptstadt 2011: Tallinn, Stadt in der Pubertät | |
> Man sagt über die Esten, sie seien künstlerisch veranlagt. Das sieht man | |
> vor allem in Tallinn. Die Kulturhauptstadt 2011 präsentiert sich als | |
> bunte Metropole. | |
Bild: Tallinn hieß früher Reval und war als Hansestadt an der Ostsee bekannt. | |
TALLINN taz | Vergänglich sollte es sein. So wie ein Besuch im Theater eben | |
vergänglich ist. Ein schöner Abend, der nachwirkt, der nach einigen Stunden | |
aber vorbei ist. Deshalb ist das Gebäude aus nichts außer Stroh gebaut. Es | |
ist das erste Theater der Welt, das ausschließlich aus natürlichen | |
Baustoffen besteht – einer der Höhepunkte des Kulturjahres 2011 in Tallinn. | |
Der schwarze Komplex thront auf einem kleinen Hügel nördlich des | |
historischen Altstadtkerns. In zwei Monaten wurde das Gebäude aus über 9000 | |
Strohwürfeln gebaut, mit schwarzer Farbe besprüht und gegen Brandgefahr | |
imprägniert. Grobe Steinstufen führen zum Eingang, vorbei an kleinen | |
Tischen und Eisenstühlen. | |
Innen riecht es süßlich und ein bisschen feucht, wie auf einem Bauernhof. | |
250 Menschen haben auf den Klappstühlen der steilen Tribüne Platz. Der Raum | |
erinnert an eine Schulaufführung, ein bisschen provisorisch fast, aber mit | |
dem Anspruch, höchst professionell zu sein. Die Besucher werden hier | |
Theateraufführungen verschiedener internationaler Künstler sehen, Raum- und | |
Lichtinstallationen. Junge Lyriker werden ihre Gedichte vortragen, Autoren | |
aus ihren Büchern vorlesen. Es sind auch Gastspiele deutscher Theater zu | |
sehen, Ende Juni ist die Volksbühne Berlin mit dem Stück „Am Beispiel des | |
Hummers“ mit Samuel Finzi in der Hauptrolle zu Besuch. | |
Die Videokünstlerin und Regisseurin Ene-Liis Semper hatte die Idee zu | |
diesem Strohtheater, dieser künstlerischen Installation, die mehr sei soll | |
als nur ein Ort für Theaterbesuche. Das Gebäude steht auf den Ruinen des | |
alten russischen Militärtheaters, die steinernen Reste sind auf dem Gelände | |
verstreut, Teile der Treppenstufen zeugen von der Vergangenheit. | |
„Früher war das hier ein abgeschotteter Ort“, erzählt Paul Aguraiuja. Der | |
30-Jährige ist Hauptproduzent des Theaters. „Man konnte sich kaum frei | |
bewegen.“ Das soll nun anders werden. „Das Gelände ist jetzt ein | |
öffentlicher Raum, das Theater soll ein Ort der Begegnung sein“, sagt er. | |
## Jung und flexibel | |
Auf der Wiese steht ein großer Sandkasten, auf den Wegen rund um den Bau | |
sind Straßenspiele gemalt. Kinder sollen hier herumtollen, Jugendliche auf | |
der Wiese sitzen, Erwachsene spazieren gehen. Und wenn das Jahr vorbei ist | |
und Tallinn den Titel als Europäische Kulturhauptstadt an Guimareas in | |
Portugal und Maribor in Slowenien weitergereicht hat, wird der Bau | |
zerstört. Man wird die Strohballen abtragen und im Meer versenken. | |
Tallinn hat sich viel vorgenommen in diesem Jahr. Mit einem kleinen Budget | |
von rund 16 Millionen Euro – es ist eines der niedrigsten Budgets, das je | |
einer Europäischen Kulturhauptstadt zur Verfügung – hat die Stadt 250 | |
Projekte gestartet, bis Oktober sind etwa 7000 Veranstaltungen zu sehen. | |
Die estische Hauptstadt will zeigen, dass sie mehr ist als der neue kleine | |
Bruder in der Europäischen Union. Ein bisschen erwachsen. Nicht mehr der | |
Teenager, für den selbst viele Esten ihr Land noch immer halten. | |
„Die Stadt ist jung, flexibel und entwickelt sich schnell“, sagt Marje | |
Josing, die Direktorin des estnischen Konjunkturinstituts. Und fügt mit | |
einem Lächeln hinzu: „Aber Tallinn ist auch unerfahren und oft genug ein | |
bisschen dumm.“ Wie ein pubertierender Jugendlicher eben. | |
Die Unerfahrenheit ist mancherorts spürbar, aber nicht uncharmant. Vielmehr | |
besticht Tallinn mit unverstellter Authentizität. In der Unesco-prämierten | |
Altstadt die mittelalterlichen Kneipen und grobes Kopfsteinpflaster, der | |
Domberg mit dem Blick auf das Meer, eine ehemaliges Fabrikviertel, das zum | |
Szene-Stadtteil wird, am Hafen kleine Designerläden, dazwischen winzige | |
Restaurants und ein großes Kunstmuseum. In einer kleinen Gasse ein | |
Literaturtreffpunkt, zu dem nur derjenige Einlass findet, der von | |
mindestens drei Kulturschaffenden der Stadt empfohlen und in Form einer | |
Mitgliedskarte für passend befunden wurde. | |
## Militärisches Sperrgebiet | |
„Geschichten am Meer“ – mit diesem Motto will sich die Stadt von seiner | |
kreativen, erwachsenen Seite zeigen. Ein Leitspruch, der auf den ersten | |
Blick nicht verwundert. Immerhin liegt die Stadt, die einst als Hansestadt | |
Raval bekannt wurde, direkt an der Ostsee. Kreuzfahrtschiffe legen hier | |
mehrmals am Tag an und spucken Touristen an Land, aus Helsinki kommen | |
hunderte Finnen, um in einem der großen Getränkemärkte am Hafen günstig | |
Alkohol zu kaufen. | |
Und obwohl das Wasser von jedem Kirchturm aus zu sehen ist, haben die | |
Tallinner nur wenig Bezug zum Meer. Es gibt keine Strandpromenade, keine | |
Cafés mit Meerblick und der Hafen ist nicht viel mehr als ein Parkplatz für | |
Schiffe. Ein Erbe aus der Zeit, als die Stadt noch militärisches | |
Sperrgebiet war. Während des Kalten Krieges reihten sich Zäune am Strand, | |
die verhindern sollten, dass die Menschen über das Meer in Richtung | |
Finnland oder Schweden flüchten. Das hat Spuren im Leben der Esten | |
hinterlassen. | |
Doch auch das soll nun anders werden. Die Stadt will sich als Europäische | |
Kulturmetropole dem Meer wieder neu öffnen. Die meisten der Veranstaltungen | |
finden deshalb am Kulturkilometer entlang der Küste statt. | |
Kajakwanderungen, Tanztheater, Kurzfilme, Mitte Juli wird die neue | |
Strandpromenade eröffnet. Die Organisatoren bauen darauf, dass die | |
Kreativität der Menschen und die Vielfalt der Veranstaltungen hilft, die | |
Tallinner wieder mit dem Meer zu verbinden. „Dann hätten wir eines unserer | |
Ziele erreicht“, sagt Maris Hellrand, Sprecherin der Stiftung Tallinn2011. | |
Ein anderes Ziel formuliert Paul Aguraiuja. Er steht vor dem Strohtheater | |
und schaut auf den schwarzen Komplex. „Ich hoffe, dass die Stadt das | |
Gelände des Strohtheaters auch am Ende dieses Kulturjahres auch weiterhin | |
als Kulturtreffpunkt nutzt.“ Und dann ein bisschen nachdenklicher: „Es wäre | |
schade, wenn dieser Ort wieder ein bedeutungsloser Platz im Herzen der | |
Stadt wird.“ | |
11 Aug 2011 | |
## AUTOREN | |
Steffi Dobmeier | |
Steffi Dobmeier | |
## TAGS | |
Slowakei | |
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