# taz.de -- Kulturhauptstadt 2011: Schräge Touren durch Tallinn | |
> Auf dem Flohmarkt, im Museum oder in Bunkern – in der estnischen | |
> Hauptstadt Tallinn ist noch der Umbruch vom Sowjetstaat zur | |
> postkommunistischen Ära zu spüren. | |
Bild: Das gehört zum modernen Tallinn: eine Installation über das frühe Punk… | |
Estlands Hauptstadt hat viele Gesichter. Die vorbildlich restaurierte, | |
komplett erhaltene Altstadt aus dem Mittelalter, ein Unesco-Weltkulturerbe, | |
zieht jedes Jahr mehr als eine Million Touristen an. Allein die | |
Kreuzfahrtschiffe bringen jährlich an die 400.000 Besucher ins historische | |
Reval. Doch jenseits der Stadtmauer finden sich viele Spuren der | |
untergegangenen Sowjetunion und manche Zeichen des Aufbruchs. | |
Die Sowjetunion beginnt hinter der Stadtmauer. An einem wuchtigen dunklen | |
Schreibtisch sitzt unter einem Lenin-Porträt ein schlaksiger Mann in | |
Fleecepulli und Jeans. Tanel Soosar blickt auf sein Werk. Eine alte | |
Lagerhalle voller Realsozialismus. | |
Zusammen mit zwei Freunden hat er die Sowjetunion zurück nach Tallinn | |
geholt: eine Ladeneinrichtung, alte Militärfahrzeuge der Roten Armee und | |
viele Skurrilitäten aus dem Alltag. | |
„Dieses Auto hat ein Este 1968 selbst gebaut“, erklärt Taner lachend und | |
klopft auf die Karosserie eines knallroten Flitzers: Fiberglas. Er habe | |
sich eine Gussform aus Ton gefertigt und diese mit dem Kunststoff gefüllt. | |
Innen: zwei Sitze, Lenkrad, Bremse, Armaturenbrett, Tacho, alles da. „Das | |
Auto war offiziell angemeldet. Er ist damit in den Urlaub bis ans Schwarze | |
Meer gefahren.“ | |
Das Museum Made in USSR zeigt den Alltag in der Sowjetunion, keinen KGB, | |
keinen Gulag, kein Gruseln. Das ganz normale Leben hinter dem „Eisernen | |
Vorhang“: eine komplett eingerichtete Wohnung mit wackeliger Schrankwand | |
aus furniertem Pressspan, Küchengeräte, ein Radio, ein Schlauchboot zum | |
Auseinanderbauen und ein Rasenmäher Marke Eigenbau. | |
„Der funktioniert“, verspricht Taner, ebenso wie die selbst gebaute | |
Motorsäge eines anderen estnischen Bastlers. Die sei sogar in die | |
Serienproduktion übernommen worden. | |
An viele Geschichten erinnert sich Taner, Jahrgang 1973, selbst noch genau: | |
„Wenn wir eine Schlange vor einem Laden gesehen haben, haben wir uns | |
angestellt. Erst nach dem Einkauf haben wir uns dann überlegt, was wir mit | |
dem Erworbenen anfangen.“ | |
Diese Zeiten sind seit 20 Jahren vorbei. Auf dem Russischen Markt hinter | |
dem Bahnhof gibt es alles. Aus Plastikkisten verkaufen die Händler Obst und | |
Gemüse. | |
An den verwitterten Fassaden alter Lagerhallen hängen bunte billige | |
Klamotten, dazwischen Stände mit Trödel, mehr oder minder versteuerten | |
Zigaretten aus ganz Europa. Hinten ein Kiosk: im Schaufenster ein Wecker | |
mit Stalin-Konterfei, sowjetische Orden, Naziabzeichen und | |
Wehrmachtstreichhölzer „für den deutschen Soldaten“. Hier wird verkauft, | |
was Geld bringt. | |
Ein junger Mann preist an einem Tapeziertisch auf Russisch seine | |
mechanischen Wecker an. „Die sind aus Polen, gute Ware“, verspricht er. | |
Solche Schnäppchen gibt es in der Innenstadt nicht mehr. Die Läden, | |
Galerien, Cafés und Restaurants sind fast so teuer wie in Westeuropa. Der | |
Staat spart. | |
## Schlechte Karten für Russen | |
„Die Leistung des estnischen Wohlfahrtsstaats kommt disproportional den | |
Wohlhabenden zugute“, kritisiert die internationale Organisation für | |
wirtschaftliche Zusammenarbeit OECD. Estland gibt nur etwa 12,5 Prozent | |
seines Bruttoinlandsprodukts für Sozialleistungen aus. Im europäischen | |
Durchschnitt sind es 27 Prozent. Die Arbeitslosenquote ist jedoch auf mehr | |
als 15 Prozent gestiegen. | |
Gute Jobs bekommen – wenn überhaupt – nur Bewerber, die Estnisch und | |
möglichst auch Englisch sprechen. Die meisten Russen, fast die Hälfte der | |
Tallinner Bevölkerung, haben da schlechte Karten. | |
Sie selbst oder ihre Vorfahren sind als Arbeiter der sowjetischen Industrie | |
oder im Dienste des Militärs nach Estland gezogen. Bis zur Unabhängigkeit | |
1991 firmierte das kleine Land wider Willen als Estnische Sozialistische | |
Sowjetrepublik. 20 Jahre nach der Wende ist Estland mindestens so | |
marktwirtschaftlich wie der Westen. | |
Geld wird heute vor allem mit Dienstleistungen und Hightech verdient. Stark | |
sind Banken, Design-, Metall- und vor allem Software- und | |
Internetunternehmen. | |
## Internet für jeden | |
Skype zum Beispiel, Erfinder und weltweiter Anbieter von Internettelefonie, | |
sitzt in Tallinn. Fast das ganze Land ist online. „Wir erfahren im Internet | |
die Zeugnisnoten unserer Kinder“, schwärmt Stadtführerin Ole Kirs, „und d… | |
meisten Sitzungen unseres Parlaments können wir online verfolgen.“ | |
Der Staat garantiert allen Bürgern ein Recht auf Internetzugang. Fast alle | |
Cafés bieten ihren Gästen kostenloses W-LAN. | |
Definitiv offline ist man in Tallinn unter der Erde. Die Bauarbeiten für | |
einen neuen Uferradweg haben begonnen. Neben dem mächtigen | |
mittelalterlichen Wehrturm namens Kiek in die Kök (Blick in die Küche) mit | |
seinen zwei Meter dicken Mauern führt eine steile Treppe in die Tiefe. Mit | |
jeder Stufe wird es feuchter und kühler. | |
Im 17. Jahrhundert begannen die Schweden damit, die starke Stadtmauer | |
Tallinns zu untertunneln. So konnten sie hören, wenn Feinde versuchten, die | |
Stadtmauer zu untergraben oder selbst einen Tunnel unter die | |
Stadtbefestigung zu sprengen. | |
## Bomben unmd Granaten | |
Aus Lautsprechern heulen und pfeifen Granaten, dazwischen hört man immer | |
wieder Detonationen. Am Ende eines langen Gangs sitzt eine täuschend echt | |
aussehende Puppe in einem Holzregal: eine abgemagerte Frau in einem alten | |
Mantel. Auf den nackten Regalböden schliefen die Menschen, die hier | |
Zuflucht vor den Bomben suchten. | |
Nach 1945 diente der unterirdische Gang weiter für den Fall eines Krieges | |
als Luftschutzbunker. Eine Frauenfigur sitzt in sowjetischer Armeeuniform | |
an einem Tisch und hält Wache. In einem Regal liegen Gasmasken. | |
Estland fiel 1939 an die Sowjetunion, nachdem Hitler und Stalin Osteuropa | |
unter sich aufgeteilt hatten. 1941 marschierte dann doch die deutsche | |
Wehrmacht in Tallinn ein. Die Stadt hieß nun wieder Reval, bis sie die Rote | |
Armee 1944 zurückeroberte. Dabei verbrannten die meisten Holzhäuser in den | |
Tallinner Vorstädten. | |
Im mittelalterlichen Zentrum haben fast 90 Prozent der Gebäude den Krieg | |
überstanden. Heute gehört die komplett erhaltene Altstadt zum | |
Weltkulturerbe. | |
## Alternative Stadtführung | |
An ihrem Südrand ragt ein turmhohes gläsernes Kreuz in den klaren, blauen | |
Tallinner Sommerhimmel. Auf seinem Sockel liegen immer frische Blumen. „Das | |
Rote Kreuz ist wieder da“, lästern viele Tallinner über das angeblich 100 | |
Millionen Kronen (6,43 Millionen Euro) teure Monstrum. | |
Zwischen Glasplatten und Metallträger gedeihen rote Pilze. Bisher haben sie | |
alle Reinigungsversuche überstanden. Geschichten wie diese erzählt der | |
Student Denis Osmann. Er führt Touristen auf den alternativen | |
Stadtrundgängen eines Tallinner Jugendprojekts. | |
Nicht weit vom grauen, kahlen Freiheitsplatz mit dem gläsernen Kreuz | |
verkaufen junge Leute in einem Zelt Funky-Bike-Fahrradtouren und die | |
alternativen Stadtrundgänge. | |
Die Stadtführer des Projekts schicken ihre Gäste zum Einkaufen auf den | |
Russischen Markt. Wer das schönste Schnäppchen mitbringt, bekommt die | |
Souvenirs der anderen dazu. Eventshopping für wenige Cent. | |
Nicht minder ungewöhnliche Tallinnerfahrungen vermittelt Toomas Lelov auf | |
seinen Citybike-Radtouren. Von seinem Laden in der Altstadt geht es über | |
holpriges Kopfsteinpflaster in Tallinns fast vergessenes Viertel am Meer. | |
## Illegaler Radiosender | |
Das ehemalige Elektrizitätswerk zwischen Altstadt und Ostsee steht leer. | |
Auf einer Bank vor dem alten Gebäude sitzen unter der Feuerwehrtreppe zwei | |
junge Männer bei einem Bier. | |
Raul, einer von beiden, nennt sich Radiokünstler. Schräge Töne, | |
Soundinstallationen, die sich nicht jedem Hörer erschließen. „Illegal“, | |
meint Raul. | |
Eigentlich bräuchten die Radiomacher vom alternativen Emil Karrida | |
Kunstimuuseum eine Lizenz für ihren Sender. Weil sie die nicht bekommen, | |
senden sie heimlich. Drinnen im ehemaligen E-Werk ist es stockfinster. Eine | |
Videoinstallation zeigt verschwommene, undefinierbare Bilder. | |
Die Stadt hat das Potenzial der freien Kunstszene inzwischen entdeckt. Das | |
ehemalige E-Werk wird zum Kulturzentrum umgebaut. Schließlich ist man 2011 | |
Kulturhauptstadt Europas und die hat im Brachland am Westmeer, wie die | |
Ostsee hier heißt, einiges vor. | |
„Geschichten von der Meeresküste“ wollen die Kulturhauptstadtmacher | |
erzählen und so Tallinner und Gäste daran erinnern, dass die Stadt | |
jahrhundertelang vom und mit dem Meer gelebt hat. | |
## Knast mit Meerblick | |
Zu Sowjetzeiten war das Gebiet zwischen Altstadt und Wasser gesperrt. Jetzt | |
nutzen junge Leute die Freiräume, Ruinen und Brachflächen für Experimente: | |
ein Kunstmuseum im stillgelegten Elektrizitätswerk, Konzerte, Partys, | |
Ausstellungen und Workshops im leer stehenden Gefängnis Patarei. | |
Bis 2004 diente die ehemalige Festung mit Meerblick als Knast. Seitdem | |
steht das Gemäuer leer. Die Zellen sind offen. Auf der Rückseite des | |
Bauwerks haben junge Leute eine Strandbar eröffnet. | |
Erst allmählich holen sich die Tallinner ihr Meeresufer zurück. Am alten | |
Hafen entsteht in einem ehemaligen Wasserflugzeug-Hangar ein Kulturzentrum, | |
ein italienischer Investor hat auf einer Brachfläche ein neues Wohnviertel | |
gebaut, und die Preise für die alten Holzhäuser im einstigen | |
„Glasscherbenviertel“ nebenan steigen rapide. | |
Die Frage, was im neuen Tallinn von den Freiräumen am Meeresufer bleiben | |
wird, kann noch niemand beantworten. | |
16 Jul 2011 | |
## AUTOREN | |
Robert B. Fishman | |
## TAGS | |
Slowakei | |
Reiseland Finnland | |
Reiseland Deutschland | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Gettoisierung in Kosice: Die Müllabfuhr kommt nicht mehr | |
Stolz präsentiert sich die Kulturhauptstadt Kosice. Vergessen werden die | |
dunklen Seiten. Die anhaltende Diskriminierung der Roma gehört dazu. | |
Stadt und Kunst: Für ein Jahr Europäische Kulturstadt | |
Was ist das? Mit Athen, der Kulturstadt Europas 1985, fing der bunte Reigen | |
an. Seit einigen Jahren gibt es sogar jedes Jahr zwei Kulturhauptstädte. | |
Kulturhauptstadt 2011: Tallinn, Stadt in der Pubertät | |
Man sagt über die Esten, sie seien künstlerisch veranlagt. Das sieht man | |
vor allem in Tallinn. Die Kulturhauptstadt 2011 präsentiert sich als bunte | |
Metropole. | |
Kulturhauptstadt 2011: Schrille Klamotten | |
Unter dem Motto „Kultur tut gut“ feiert Turku, Finnlands älteste Stadt, das | |
Kulturjahr 2011. Die Stadt an der Ostsee war schon immer das Tor zum | |
anderen Europa. | |
"Gateways"- Ausstellung in Tallinn: Digital ist besser | |
In Estland ist der elektronische Staat Realität. Man bezahlt per Handy, | |
wählt online. Tallinn ist der ideale Ort für die Ausstellung "Gateways - | |
Kunst und vernetzte Kultur". | |
Weltkulturerbe in Gefahr: Historisches Istanbul verwahrlost | |
Istanbul pflegt seine historischen Bauten nicht gut genug und läuft Gefahr, | |
von der Weltkulturerbe-Liste der Unesco gestrichen zu werden. | |
RUHR.2010-KULTURHAUPTSTADT: "Komm und guck das Ruhrgebiet!" | |
"Wandel durch Kultur" ist keine Erfindung der Macher von Ruhr.2010. Roland | |
Günter erinnert an den Kampf der Bürger und der Internationalen | |
Bauausstellung zum Erhalt der industriellen Schönheiten. |