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# taz.de -- RUHR.2010-KULTURHAUPTSTADT: "Komm und guck das Ruhrgebiet!"
> "Wandel durch Kultur" ist keine Erfindung der Macher von Ruhr.2010.
> Roland Günter erinnert an den Kampf der Bürger und der Internationalen
> Bauausstellung zum Erhalt der industriellen Schönheiten.
Bild: Als die Straße zur Festmeile wurde: Megaevent auf der Ruhrautobahn am So…
taz: Herr Günter, Sie gelten als scharfer Kritiker des
Kulturhauptstadtjahres Ruhr.2010 und sprechen in diesem Zusammenhang vom
"Jahrmarkt der Eitelkeiten" und vom "Feuerwerk der Nichtigkeiten".
Roland Günter: Ein bisschen Event kann ruhig sein, aber es darf nicht die
Substanz ausmachen. Denn die Kulturhauptstadt ist nur eine Station in einem
langen Prozess der Regionalentwicklung des Ruhrgebiets. Nach diesem
Feierjahr darf nicht Schluss sein.
Sondern?
Wir müssen auch die Geschichte davor und die Perspektiven danach
einbeziehen. Dass das Ruhrgebiet den Zuschlag als Europäische
Kulturhauptstadt 2010 bekam, verdanken wir letztlich dem Konzept des
Stadtplaners Karl Ganser für die Internationale Bauausstellung (IBA)
Emscher Park. Es basiert auf den Erfahrungen mit dem Landschaftsumbau des
nördlichen Ruhrgebiets der letzten zwanzig, dreißig Jahre. Die
EU-Kommission wollte für 2010 keine Residenzstadt oder mittelalterliche
Bürgerstadt zur Kulturhauptstadt küren, sondern eine Stadt anderen Typs,
eine Industriestadt, die auf Kohle und Stahl fußt. Daran sollten die Macher
sich ruhig erinnern.
Das Motto von Ruhr.2010 lautet "Wandel durch Kultur - Kultur durch Wandel".
Ist doch okay, oder?
"Wandel durch Kultur" ist keine Erfindung der Kulturhauptstadt-Manager. Das
Motto setzte die IBA bereits fantastisch gut um. Die großen Konzerne, die
für die Deindustrialisierung verantwortlich waren, zogen ihre Gewinne raus
und investierten sie woanders, anstatt sie in neue Arbeitsplätze in der
Region zu stecken. Um die negativen Folgen dieser Deindustrialisierung
abzumildern, pumpte die Landesregierung dann viel Geld in die Region, unter
anderem auch in die IBA, die gut mit Bürgerbewegungen und Intellektuellen
zusammenarbeitete. Es ist dieser Geist, der dafür gesorgt hat, dass sich
die Region vergleichsweise wieder rasch entwickelt hat.
Regt sich dieser Bürgergeist nicht auch im Kulturhauptstadtjahr?
Die Macher der Kulturhauptstadt sollten die Bürgerbewegungen und ihre
Leistungen nicht verschweigen, sondern verstärkt in ihr Programm
einbeziehen. Denn die Kultur der jüngeren Geschichte hierzulande zeichnete
sich durch viele Kontroversen aus, in der Widerstands- und Bürgerbewegungen
eine riesige Rolle gespielt haben.
Zum Beispiel?
In den Siebzigerjahren haben 50 Bürgerinitiativen im ganzen Ruhrgebiet
vehement dafür gekämpft, dass tausend Arbeitersiedlungen erhalten blieben.
Darin leben heute 500.000 Menschen. Dabei ging es um mehr als günstige
Mieten. Es ging um Heimat, um Nachbarschaft, um Kultur. Bürgerbewegungen
retteten viele Industriedenkmäler, zum Beispiel den Landschaftspark
Duisburg-Nord, den Gasometer in Oberhausen, die Lindenbrauerei in Unna.
Allerdings gibt es aktuell wieder eine kontraproduktive Entwicklung, die
man bekämpfen muss.
Welche?
Den Masterplan Ruhrgebiet des Frankfurter Stadtplanungsbüros Albert Speer.
Was sieht dieser Plan denn vor? Eine Zweiklassengesellschaft des
Ruhrgebiets. Für Speer gibt es nur eine Mitte, auf die man sich
konzentrieren soll, und marginalisierte Gebiete, die sich selbst überlassen
bleiben, wo man nicht mehr investieren muss. Also vor allem das nördliche
Ruhrgebiet mit Städten wie Gelsenkirchen, Oberhausen, Herten, Dinslaken.
Eine Idiotenvorstellung!
Warum?
Historisch entstand der Norden tatsächlich als Hinterhof der
Industrielandschaft. Dank der IBA ist der ehemalige Hinterhof heute keiner
mehr. Das Konzept von Speer mit dem alten Klassengeist würde die
Emscherzone wieder zum Hinterhof machen. Deshalb müssen wir Speer aus dem
Ruhrgebiet verjagen. Das Revier ist eine andere Metropole als New York oder
Paris. Es lebt von Gegensätzen, von dem sogenannten Siedlungsbrei, der
zersiedelten Stadtstruktur. Und jetzt stehen wir vor der gewaltigsten
produktiven Landschaftsveränderung auf der Welt.
Welche?
Der Emscherumbau. Ein gigantisches, 4 Milliarden teures Projekt. Die
Emscher, früher die größte Kloake der Welt, wird in drei, vier Jahrzehnten
in eine lebendige Flusslandschaft verwandelt. Und die Emscherinsel zwischen
Rhein-Herne-Kanal und Emscher, die sich von Oberhausen bis Castrop-Rauxel
erstreckt, ist eine wunderbare konkrete Utopie für das Ruhrgebiet.
"Die Identität dieser Metropole ist nicht mehr geprägt von Arbeit, sondern
von Kultur", heißt es in einem Faltblatt zu Ruhr.2010. Richtig?
Nein, hier wird nach wie vor sehr viel gearbeitet. Die Entgegensetzung ist
falsch. Auch Arbeit kann und soll Kultur sein, und Kultur kann und soll
auch Arbeit sein. Auch die Aussage "Kohle und Stahl ist vorbei" ist
gefährlich.
Warum?
Es gab großartige Leistungen von Kohle und Stahl und auch der Chemie in der
Region. Wir haben also keine Veranlassung, uns davon zu distanzieren. Dies
ist ein Gebiet eigener Art, da schremmt es, da knirscht es, hier können wir
unsere eigene Industrieepoche erleben. Im Übrigen: Kein Toskaner käme auf
die Idee, seine Identität aufzugeben und von der Renaissance abzurücken.
Die Ruhrkohle AG, die RAG, nennt sich jetzt Evonik.
Schon der Name ist purer Blödsinn. Das Unternehmen will die Identifizierung
mit der Region abstreifen. Das ist hochgradig unanständig, weil diese
Region noch unter den Folgen des Bergbaus leidet, den Bergsenkungen, den
sogenannten Ewigkeitslasten. Die RAG wollte Hauptsponsor von Ruhr.2010 sein
und sprang in dem Moment ab, als der ehemalige Wirtschaftsminister Werner
Müller aus dem Vorstand ausschied.
Sind die regionalen Kräfte und Potenziale bei Ruhr.2010 ausgeschöpft
worden?
Ich finde ungerecht, dass so wenige einheimische Künstler zum Beispiel bei
der Emscherkunst …
… dem größten und teuersten Projekt von Ruhr.2010 …
… berücksichtigt wurden. Viele Künstler sind eingeflogen worden. Ich habe
nichts gegen auswärtige Künstler, aber man muss doch auch die endogenen
Potenziale fördern. Außerdem gingen die großen Aufträge an Hamburger
PR-Agenturen. Aber die wissen doch nichts vom Ruhrgebiet und schwafeln nur
darüber.
Jede der 53 Kommunen des Ruhrgebiets darf jetzt eine Woche kulturell den
"Local Hero" spielen.
Aber auch das läuft nicht besonders gut. Die Veranstaltungen sind viel zu
sehr mit den Stadtverwaltungen und Kulturämtern verbandelt und werden von
oben herab organisiert.
Das Ruhrgebiet leidet viel weniger an seiner Wirklichkeit als an seinem
Image, hat Fritz Pleitgen, vorsitzender Geschäftsführer von Ruhr.2010,
festgestellt.
Das ist die Fantasie von Herrn Pleitgen. Uns ist das Image völlig wurscht,
das, was andere Leute von uns denken. Wir sind wir, und das durchaus
selbstbewusst. Wir brauchen auch keinen Imagewandel, das ist Quatsch.
Nochmals O-Ton Pleitgen: Noch nie hatte das Ruhrgebiet eine so große
Wahrnehmung in den Medien wie zurzeit.
Nein, das ist eine völlige Überschätzung der medialen Wahrnehmung. Das
Schlimme daran ist, dass man die Medien für so bedeutend hält, dass sie
unsere Landschaft hier formen sollen. Das sind immer nur Ausrufezeichen,
die durch die Welt geistern, aber allein von diesen Ausrufezeichen haben
wir nichts.
Ein wichtiger Nebeneffekt von Ruhr.2010 ist der Kulturtourismus als
Wirtschaftsfaktor. Die Zwischenbilanz sieht rosig aus. Der Geschäftsführer
der Ruhrgebietstouristik rechnet für 2010 mit 10 bis 15 Prozent mehr
Übernachtungen.
Natürlich bringt Tourismus Geld in die Region und schafft Arbeitsplätze.
Aber den Protagonisten geht es nur darum, die Betten zu verwalten und mit
tollen Zahlen anzugeben. Schon die IBA hat mit ihren kulturellen Leistungen
und der Route der Industriekultur gezeigt, wie man eine Industrieepoche
besichtigen kann, und einen regen Studientourismus hervorgebracht. Damit
hat sie die Basis für den jetzigen Tourismus im Ruhrgebiet gelegt.
Zeche Zollverein im Essener Norden, Weltkulturerbe der Unesco, Wahrzeichen
des Ruhrgebiets, ist mit dem neuen Ruhrmuseum der touristische Renner von
Ruhr.2010.
Zollverein sollte eine Bauschuttdeponie werden! Wer weiß das heute noch?
Der damalige Städtebauminister von NRW, Christoph Zöpel, geht an
Heiligabend 1986 über das Gelände. In der sogenannten Ministeranrufung muss
er entscheiden, ob Zollverein als Baudenkmal erhalten bleibt oder nicht,
wie es die Ruhrkohle AG und die Stadtverwaltung Essen vorhatten. Christoph
Zöpel konnte den Daumen nach oben oder nach unten strecken. Er streckte ihn
nach oben, wofür er später übrigens viele Schläge einsteckte. Warum tat er
das? Wegen der Schönheit dieses Ensembles. Wahnsinn, nicht?!
21 Jul 2010
## AUTOREN
Günter Ermlich
## TAGS
Reiseland Deutschland
Harz
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