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# taz.de -- "Gateways"- Ausstellung in Tallinn: Digital ist besser
> In Estland ist der elektronische Staat Realität. Man bezahlt per Handy,
> wählt online. Tallinn ist der ideale Ort für die Ausstellung "Gateways -
> Kunst und vernetzte Kultur".
Bild: Der neue estländische Staat baute auf ein medientechnisches Fundament.
Wohl kein europäisches Land hat den schon klassischen Satz des
Medientheoretikers Marshall McLuhan, das Medium sei die Botschaft,
kompromissloser zum realpolitischen Imperativ gemacht als Estland. Nachdem
das Land 1991 im Zuge des Zusammenbruchs der Sowjetunion seine
nationalstaatliche Souveränität wiedererlangte, sah sich Estland wie viele
andere ehemalige sozialistische Bruderstaaten vor der Aufgabe, eine neue,
nationale Identität erfinden zu müssen.
Der neue estländische Staat baute auf ein medientechnisches Fundament. Mit
Hilfe jener Medien, die in den 1990er Jahren wie keine anderen für eine
Zukunft in Freiheit und Gleichheit standen - die mobilen
Kommunikationsmittel und das Internet. "Tiger-Sprung-Programm" nannte sich
eines der Elemente der estnischen Medienrevolution, in der die Qualität der
schulischen Bildung durch die Einführung von modernen Informations- und
Kommunikationsmedien gesichert werden und sukzessive der "eRiik" - der
elektronische Staat - entstehen sollte. Auf seinem Portal sammeln nun
sämtliche staatlichen Einrichtungen und Verwaltungsbehörden die Daten der
Bürger, die mit einem individuellen Code einsehbar sind, sowie alle
Informationen in anderen internationalen netzbasierten Datenbanken.
## Digital ist besser, finden die Esten
Die positiv gedeutete Dystopie von Orwells "1984" brachte eine neue
estnische nationale Identität hervor: bezahlen mit dem Handy, politische
Wahlen im Netz - digital ist besser, finden die Esten. Mit der Folge, dass
Estland den freien Zugang zum Internet als Grundrecht in der Verfassung
verankert hat und der Legendenbildung zufolge nunmehr eine größere Dichte
an Mobiltelefonen hat als an Einwohnern.
Gut begründet ist also die Ortswahl der Ausstellung "Gateways - Kunst und
vernetzte Kultur", die im Rahmen des Europäischen Kulturhauptstadtprogramms
2011 im Kumu-Kunstmuseum für Medienkunst in Tallinn zu sehen ist. Sabine
Himmelsbach, Leiterin des Edith-Ruß-Hauses für Medienkunst in Oldenburg,
kuratierte die Schau für das Goethe-Institut. Sie versammelte zentrale
Positionen, in denen die ästhetischen und gesellschaftlichen Veränderungen
durch mobile Kommunikationsmittel, Internet und Web 2.0 reflektiert werden.
Das Ausmaß des gespeicherten Wissens im Netz macht der estnische Künstler
Timo Toots in "Memopol-II" transparent. Wer seinen Personalausweis in diese
"soziale Apparatur" einscannen lässt, bekommt genauso Informationen über
sein Einkommen, seine Krankheiten, seine Parteizugehörigkeit wie seine
globalen Freundschaftsvernetzungen. Während dieser Output im Museum eine
Art kirmesmäßige Attraktion für die estnischen Besucher ist, ständen dem
bayerischen Vorgartenhüter, der das Google-Street-View-Auto mit der
Unkrautharke angriff, sicher längst die Haare zu Berge.
##
## Von wegen World wide...
Wie hier ist der Modus des Gros der gezeigten Werke das sehr didaktische
Sichtbarmachen von Phänomenen und Prozessen, die dem bloßen Ohr oder Auge
des Menschen der "Netzwerkgesellschaft" abgehen. Ob als Visualisierung der
WLAN-Hot-Spot-Topografie Tallinns in der Installation "Observatorio" von
Clara Boj und Diago Diaz oder in Form von Ingo Günthers modifizierten
Globen ("Worldprocessor"), die die wirtschaftlichen Vernetzungen und
hegemonialen Verhältnisse genauso abbilden wie die Regionen, in denen
Internetzugang verfügbar ist. Wobei sich einmal mehr zeigt, dass das World
Wide Web gar nicht weltweit zugänglich ist, sondern die Mitgliedschaft im
Verein der Industrienationen Voraussetzung ist.
Die britischen Künstler Thomson & Craighead beschäftigen sich dagegen mit
dem internetimmanenten Phänomen der Echtzeit. Sie übertragen in ihrer
Arbeit "Beacon" die weltweit in Suchmaschinen eingetippten Begriffe in den
Museumsraum, was ein Abbild des Onlinebewusstseinsstroms ergibt: "Pictures
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Ähnlich ihre Arbeit "Tallinn Walls", die sich mit den im
10-Kilometer-Umkreis gesendeten Twitter-Nachrichten befasst. Ein Großteil
dieser Nachrichten ist in kyrillischen Schriftzeichen verfasst - und damit
ein digitaler Fußabdruck der starken russischen Minderheit in Tallinn, die
knapp 50 Prozent beträgt.
Ohne die Bedeutung der sogenannten sozialen Netzwerke hinsichtlich der
politischen Mobilisierung, wie sie sich in den arabischen Ländern seit
einiger Zeit ereignet, schmälern zu wollen, bestätigt sich hier der oft
gehegte Verdacht, dass man es häufig gar nicht so genau wissen will, was so
getwittert und gepostet wird, ob nun jemand lieber Kaffee oder Tee trinkt
oder in 17,3 Stunden in Urlaub fährt.
Unverhüllte Skepsis gegenüber den Möglichkeiten politischen Engagements im
Netz belegt dann die Arbeit des italienischen Künstlerduos Les Liens
Invisibles: "Repetitionr", eine Persiflage auf das vorgebliche
partizipatorische Potenzial des Web 2.0, erstellt Petitionen mit einem
Klick und sammelt automatisch die erforderliche Unterschrift. Das
Versprechen von mehr Demokratie und Teilhabe an politischen Entwicklungen
entpuppt sich in der "One-click-democracy" als Illusion durch Manipulation.
## Werbeflächen ausradiert
Gerade in der jungen Generation schätzt man die netzfreundliche Politik
Estlands, sieht allerdings auch die rhetorischen Kniffe des digital
nationbuilding und die problematische Monopolstellungen von Konzernen wie
etwa Google.
Die Installation "Dont be evil extended" der estnischen Künstler Karel
Koplimets und Ivar Veermäe imitiert Google-Street-View-Aufnahmen von
Tallinn - mit dem Unterschied, dass alle Werbeflächen ausradiert sind. Wenn
der Besucher nun aufgefordert ist, mithilfe eines Laser-Taggin-Systems sich
diese Flächen durch Beschriftung rückzuerobern und den Stadtraum von der
Vormachtstellung der Werbung zu erlösen, dann ist das eine didaktische
Handreichung für die "digital natives", die eine Ahnung von möglichem
Engagement vermittelt.
Ganz im Funktionssinne eines Gateways weist die Arbeit den Weg nach
"draußen" und trägt in sich einen Link zum realen Aktionismus. Diese und
andere Übersetzungen ermöglicht die instruktive Ausstellung - zumindest in
Gedanken.
22 Jun 2011
## AUTOREN
Philipp Goll
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