# taz.de -- Estland führt neue Währung ein: Wenig Euro-Begeisterung in Tallinn | |
> Mitten in der Eurokrise führt Estland zum 1. Januar die Währung ein. Das | |
> ist im Land umstritten: Um die Kriterien zu erfüllen, fuhr Tallinn einen | |
> harten Sparkurs. | |
Bild: Der Euro klimpert ab Januar auch in estnischen Portemonnaies. | |
STOCKHOLM taz | In den Alkoholläden am Hafen von Tallinn freut man sich auf | |
den Euro. Nun müssten seine finnischen KundInnen auf dem Weg von der Fähre | |
zu ihm nicht mehr erst ihr Geld wechseln, meint Riho Mauer von der | |
Spirituosenkette Superalko. Da werde der Verkauf von Hochprozentigem noch | |
besser laufen. Die Preise sind bei ihm wie in allen Geschäften seit einem | |
halben Jahr doppelt ausgezeichnet: in estnischer Kroon und in Euro. Das hat | |
das Parlament gesetzlich vorgeschrieben. Zum einen sollen sich die EstInnen | |
schon mal an die neue Währung gewöhnen. Zum anderen hofft die Regierung, | |
auf diese Weise plötzliche Preisaufschläge zu verhindern. | |
Zum 1. Januar führt Estland den Euro ein. Und nach außen hin lässt die | |
Regierung keine Zweifel an der Klugheit dieses Beschlusses aufkommen - auch | |
wenn manche Ökonomen schon die Sterbeglocke für die Gemeinschaftswährung | |
läuten. "Unser Problem in der Wirtschaftskrise war, dass wir den Euro nicht | |
hatten", erklärte Staatspräsident Toomas Hendrik Ilves kürzlich bei einem | |
Staatsbesuch in Österreich. Und auch die Aussicht, dass Estland als eines | |
der ärmeren Länder der EU künftig womöglich wohlhabenderen Staaten wie | |
Irland oder Portugal im Rahmen von Rettungspaketen unter die Arme greifen | |
muss, stört Ilves nicht: "Das sind ja Darlehen." | |
Tatsächlich hat Estland vor allem gar keine Wahl. EU-Länder müssen die | |
Gemeinschaftswährung einführen, wenn sie die Kriterien dafür erfüllen. | |
Damit Estland das schafft, hat sich die Regierung in Tallinn unter nicht | |
geringen haushaltspolitischen Opfern jahrelang ins Zeug gelegt. Heute hat | |
das Land eine Staatsverschuldung von gerade einmal 7,5 und ein | |
Haushaltsdefizit von 1,7 Prozent. Das sind Kennzahlen, von denen die | |
Herrschenden in vielen Euroländern derzeit nicht einmal zu träumen wagen. | |
Im Juni hatten die EU-Staats- und Regierungschefs bei ihrem Gipfeltreffen | |
deshalb grünes Licht für den Beitritt des 17. Euromitgliedsland gegeben - | |
ausdrücklich auch in Würdigung der "langjährigen Festlegung auf eine | |
umsichtige Politik". | |
Die EU-Kommission spendierte jedem der 560.000 estnischen Haushalte einen | |
Währungsumrechner aus Plastik mit dem Gruß "Tere Euro!" ("Hallo, Euro!") | |
auf der Rückseite. Auch ihr Startpaket haben die EstInnen schon, und für | |
die Ausgabe ab 1. Januar liegen bei den Banken 45 Millionen Banknoten und | |
194 Millionen Münzen bereit. | |
Doch das Eurofest könnte mit einem ausgiebigen Kater enden, warnt der | |
Ökonom Ivar Raig. Eigentlich sei der Eurobeitritt nie wirklich diskutiert | |
worden. Die Gemeinschaftswährung werde nicht eingeführt, weil sie | |
wirtschaftlich sinnvoll oder zwingend sei, sondern aus symbolischen | |
Gründen: Speziell gegenüber Moskau wolle man demonstrieren, nun ganz zu | |
Europa zu gehören. Raig: "Der Preis ist, dass wir demnächst für griechische | |
Pensionen zahlen müssen." | |
Auch von den baltischen Nachbarn, die einen Eurobeitritt für 2014 anpeilen, | |
kommen warnende Stimmen. Estland mache einen fürchterlichen Fehler, sagt | |
Ruta Vainiene, Präsidentin des neoliberalen litauischen Free Market | |
Institute. Sie hoffe, dass ihr Land die Möglichkeiten einer eigenen Währung | |
und eines flexiblen Wechselkurses nicht so einfach aus der Hand gebe. | |
Und was sagen die EstInnen selbst? Eine knappe Mehrheit ist dafür oder | |
dagegen, je nachdem, ob Befürworter oder Gegner die Umfrage in Auftrag | |
gegeben haben. Finanzminister Jurgen Ligi hat es jedenfalls nicht | |
geschafft, die Unterstützerrate wie angekündigt bis Jahresende auf 65 | |
Prozent hochzupushen - trotz Jubelbroschüren und Werbespots. | |
Am wenigsten Rückhalt hat der Euro in sozial schwachen Gruppen und in der | |
russischstämmigen Bevölkerung. Um die Budgetdefizitvorgaben erfüllen zu | |
können, fuhr die Regierung einen harten Sanierungskurs, kürzte bei den | |
Renten, dem Arbeitslosen- und dem Kindergeld. Bei der Arbeitslosigkeit | |
liegt Estland mit 15 Prozent schon an der EU-Spitze. Und die RentnerInnen | |
werden bald erfahren, wie weit ihre Durchschnittsrente von dann 304 Euro | |
reicht: Angesichts der Euroeinführung sind die Preise für Konsumgüter schon | |
jetzt um 6 Prozent geklettert. | |
24 Dec 2010 | |
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