# taz.de -- Erinnerungen an die Gorleben-Proteste: Von Wachseiern und Knotenbom… | |
> Nach Gorleben rollen keine Castoren mehr, zumindest bis 2031. Vier | |
> taz-Autoren erinnern sich an besoffene ZDF-Reporter und Waldspaziergänge. | |
Bild: So schön, schön war die Zeit: Sitzblockade 2001 in Splita bei Dannenber… | |
## Mit jungen Männern im Wald | |
Als die anderen nachts in der Scheune die Wachseier mit Unterbodenschutz | |
füllten, durfte ich leider nicht dabei sein. Unterbodenschutz ist klebriges | |
Zeug gegen Rost. Es sollte die Scheibenwischer der Wasserwerfer lahmlegen. | |
Wenn der Wasserwerferfahrer nichts mehr sah, konnte er uns auch nicht von | |
der Straße spritzen, so die Idee. | |
Aber das aufregende Befüllen von Wachseiern gemeinsam mit interessanten | |
jungen Männern blieb mir vorenthalten. Und nicht nur das. Am Morgen | |
beschloss meine Bezugsgruppe, sich nicht auf die Transportstrecke zu | |
setzen, sondern in den Wald zu gehen. Dort sollten wir die Polizei | |
beschäftigen. Blödsinn! In feuchter Kälte durch wendländischen Schonungen | |
zu stapfen! Die interessanten jungen Männer waren alle auf der | |
Transportstrecke! Doch die VeteranInnen hatten Vorrang. | |
Mein Gorlebenereignis drohte ein endloser Waldspaziergang zu werden, als | |
endlich zwischen den Bäumen ein Trupp Polizei auftauchte. Sollten die im | |
Wald DemonstrantInnen beschäftigen, um sie von der Strecke fernzuhalten? | |
Sie verlangten, dass wir uns entfernten. | |
Nein, sagten wir. Die waren etwa zu zwölft, wir waren etwa zu zwölft. Wir | |
sollten gehen, sagten sie, nein, sagten wir. Sie rannten auf uns zu und | |
hoben die Stöcke. Hinter den Visieren rissen sie die Augen auf – angstvoll? | |
Die Stöcke sausten nieder auf unsere wattierten Schultern. Verrückt: Das | |
tat gar nicht so weh, sie machten gar nicht ernst. Sie brüllten, wir | |
brüllten. Wir rannten auseinander. Ich setzte mich zur Transportstrecke ab. | |
Jetzt hatte ich ja sogar was zum Angeben. ULRIKE WINKELMANN | |
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## Es blieb nur noch die Sitzblockade | |
Das Warten hatte ein Ende. Plötzlich ging die Haustür auf und jemand | |
schaltete das Licht an. Erstmals seit Stunden konnte ich die Gesichter | |
meiner rund 100 Mitstreiter sehen, die meisten von uns eingelullt in | |
Kapuzenshirts und dunklen Tüchern um Hals und Mund. | |
War das unser Zeichen, mit Sägen und Wagenhebern auf die keine 30 Meter von | |
uns entfernten Schienen zu stürzen und den Transport zu verhindern? Nein, | |
war es nicht. Stattdessen lallte eine Männerstimme: „Oh, Tschuldigung, wir | |
haben uns in der Tür geirrt.“ | |
Seit dem späten Abend hatten wir uns in einem extra angemieteten Ferienhaus | |
eingeschanzt, unweit von Hitzacker an der Schienenstrecke zwischen Lüneburg | |
und Dannenberg. Der Castortransport sollte am frühen Morgen am | |
Verladebahnhof in Dannenberg ankommen – wenn er denn an uns vorbeikam. | |
Unser Plan: Mit Wagenhebern wollten wir erst die Schienen anheben und dann | |
so viel davon zersägen wie möglich. „No Pasaran“ – „Sie werden nicht | |
durchkommen“ verstanden wir nicht nur als Parole. | |
Doch der Fehlalarm entpuppte sich als ausgemachtes Problem. Ein paar | |
Minuten später knallte erneut die Eingangstür auf und die lallende | |
Männerstimme von vorhin klang nicht mehr ganz so lallend. „Das ist unser | |
Haus“, dröhnte es. Wir hatten uns im Haus geirrt. Das war die Unterkunft | |
eines ZDF-Reporterteams. | |
Aus allen Ecken und Nischen krochen wir hervor. „Plenum“, rief einer. Doch | |
wir hatten keine Chance, der ZDF-Reporter ließ sich einfach nicht | |
überzeugen. Über das Angebot, er könne uns ja exklusiv dabei filmen, wie | |
wir geschlossen auf die Schienen stürmen, hebeln und sägen, dachte er zwar | |
kurz nach. Dann fiel ihm aber leider ein, dass er sich ja damit strafbar | |
machen könne. | |
Das ZDF-Team schmiss uns raus – wo uns eine patrouillierende | |
Polizeihundertschaft ein wenig überrascht, aber freudig begrüßte. Einige | |
mussten ihre Personalien abgeben, der Großteil konnte durchschlüpfen. | |
Für den weiteren Protestverlauf blieb uns nur noch die Sitzblockade. Denn | |
Wagenheber und Sägen hatten wir im ZDF-Haus vergessen. FELIX LEE | |
## Mit dem Megafon im Gesicht | |
Als das Wendland 1984 noch gegen die ersten Transporte von radioaktiven | |
Müll symbolisch abgesperrt wurde, setzen die Wendländer mithilfe von | |
Räucherstäbchen Dutzende Baumaschinen von Firmen in Brand, die sich am Bau | |
des Gorlebener Zwischenlagers beteiligten. Ein langes taz-Interview mit | |
mehreren anonymen Brandstiftern wurde damals in weiten Teilen wörtlich in | |
den niedersächsischen Verfassungsschutzbericht übernommen – ohne | |
Nachdruckgenehmigung und Honorierung. | |
Überhaupt war der Umgang der Staatsmacht mit der Presse und natürlich auch | |
mit den Demonstranten im Wendland zunächst doch sehr grob. Bei einer | |
Wendlandblockade ließ die Polizei die Luft aus meinen Autoreifen. Da es in | |
der Nähe keine Telefonzelle gab und Handys noch unbekannt waren, erschwerte | |
dies die Berichterstattung. Als ich den Presseausweis zückte und mich | |
beschwerte, schlug mir der Einsatzleiter mit dem Megafon ins Gesicht und | |
schubste mich auf die Motorhaube des stillgelegten Autos. | |
Später bei den Castortransporten legte sich die Polizei allerdings auch | |
schon mal für die taz richtig ins Zeug. Als tanzende Frauen eine Kreuzung | |
bei Dannenberg blockierten, wollte ein Zivilpolizist mir die freie | |
Durchfahrt ermöglichen. Der Beamte sprang auf die Straße, warf vor meinem | |
Auto eine Blockiererin zu Boden, zog seine Dienstpistole und richtete sie | |
auf die Frau. JÜRGEN VOGES | |
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## Ganz verliebt in Helmut Debus | |
Am Freitag gab es den Rundruf: Morgen geht’s los. Nicht nach Brokdorf, | |
sondern ins Wendland. Nach Gorleben. Ausweislich der | |
[1][Erinnerungsfotobücher] war es der 22. Februar 1977, überall in der | |
Szene erste Zeichen dessen, was als Deutscher Herbst bekannt wurde. | |
Aber man genoss diesen Rummel, ehrlich gesagt, sehr. Diese Akte der | |
Konspiration – bloß keine Namen am Telefon!, am besten ein Tuch zur Demo | |
mitbringen! –, die so streng, so sehr Wichtigkeit atmeten und | |
durchsetzungswillige Zeitgenossenschaft beanspruchten. Dabei ahnte man ja | |
gar nicht, dass das mit Gorleben mal echt eine Rolle spielen würde, ein | |
Name als Kristallisationspunkt der neuen Ökobewegung. Öko? Hatte man doch | |
keine Ahnung. | |
Die Fahrt nach Gorleben, wenn das Gedächtnis keinen Streich spielt, fand im | |
Sonnenschein statt, es wurde noch nicht geschottert und geprügelt – aber an | |
den Straßen zur vermuteten Wiederaufarbeitungsanlage standen Polizisten. | |
Keinen Schimmer von alternativer Energie, aber alles im Milieu verschwamm: | |
Anti-AKW, Frauen-Hälfte-des-Himmels-Aspirationen, die Auftritte der ersten | |
Schwulen in der linksalternativen Bewegung, Kampf gegen rechts, | |
Faschisierung von Staat und Gesellschaft – und in Hamburg mobilisierte man | |
plötzlich für Gorleben, das lange nicht so attraktiv war wie Brokdorf, das | |
des Bauzauns wegen mehr hermachte. | |
Man war dagegen, man war guter Dinge, man trug natürlich | |
Palästinensertücher, wobei die Distinktesten unter allen solche mit echten | |
Knotenbommeln trugen. Gorleben war eine schöne Demo. | |
Helmut Debus, eigentlich der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) nah, | |
sang liedermacherisch auf einer ganz kurzfristig gebretterten Bühne, ich | |
himmelte den plattdeutschen Musiker an und wusste im bewussten Sinne vom | |
erotischen, vielleicht gar sexuellen Appeal des Politischen als | |
Bewegungsraum. Abends ging es zurück in die Metropole – und ich dachte: Wie | |
schön die Landschaft war im späten, sonnigen Winter: Sollte man da nicht | |
besser leben? Träume von Ökodörfern? Die ersten sollten schon bald dorthin | |
ziehen, in die deutsche Toskana unserer Kreise. JAN FEDDERSEN | |
16 Apr 2013 | |
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