| # taz.de -- Tag der Arbeit in Europa: Avanti Popolo | |
| > Die Griechen protestieren gegen die harte Sparpolitik. Die Spanier laufen | |
| > auf den Straßen gegen Massenentlassungen. In Bochum macht DGB für ein | |
| > „soziales Europa“ mobil. | |
| Bild: Zu viel verhandelt: Protest gegen Massenentlassungen in Spanien. (Arbeits… | |
| Trotz des immer wieder einsetzenden Nieselregens sind Zehntausende zum 1. | |
| Mai nach Madrid gekommen. Gerufen haben die beiden großen | |
| Gewerkschaftszentralen Spaniens, CCOO und UGT. Die Stimmung ist wie das | |
| Wetter: trübe. | |
| Vorbei sind die Zeiten, als von Vollbeschäftigung und Ausbau des | |
| Sozialstaats die Rede war. „Sie kennen keine Grenzen“, lautet das | |
| diesjährige Motto. Sie, das sind die Unternehmer, die Banken, die | |
| konservative Regierung – und Brüssel und Berlin, die die Sparpolitik | |
| diktieren. | |
| „Wir haben gedacht, dass der Kapitalismus friedlicher geworden ist. Doch | |
| das war ein Irrtum. Heute zeigt er sich in seiner ganzen Aggressivität“, | |
| schimpft Raquel Vega. Die 58-jährige Vorschullehrerin redet vom rapiden | |
| Zerfall des Sozialstaats, den Kürzungen bei Bildung und Gesundheit und von | |
| der ständig steigenden Arbeitslosigkeit. Über sechs Millionen – 26,7 | |
| Prozent – sind in Spanien ohne Job. | |
| Der konservative Regierungschef Mariano Rajoy gibt ganz offen zu, dass er | |
| bis Ende seiner Legislaturperiode im Herbst 2015 keine Chance sieht, daran | |
| etwas Wesentliches zu ändern. Doch an diese Alternativlosigkeit wollen die | |
| Demonstranten in Madrid nicht glauben. Ein „neues Wirtschaftsmodell für | |
| Beschäftigung und Sicherheit“ fordert CCOO-Chef Ignacio Fernández Toxo. | |
| „Sie haben nur eins im Sinn“, meint Vorschullehrerin Vega, „schnellen | |
| Gewinn für befreundete Unternehmer.“ Im Bildungsbereich wurden im | |
| vergangenen Jahr 90.000 Stellen an öffentlichen Schulen abgebaut, während | |
| die Privaten gefördert werden. Vega trägt ein grünes T-Shirt mit einem | |
| Slogan zur Unterstützung des öffentlichen Schulwesens. Es ist das Symbol | |
| der Lehrer, die zuerst in Madrid und mittlerweile in ganz Spanien | |
| protestieren. „Am 9. Mai werden wir erstmals im ganzen Land von der | |
| Vorschule bis zu den Hochschulen streiken“, berichtet Vega. | |
| ## Der Kampf ist verloren | |
| Auch Juan Carlos Arrieta ist einer von denen, der auf keiner Mai-Demo | |
| fehlt. Dieses Mal ist es für ihn und seine Kollegen des öffentlichen | |
| Regionalfernsehens ein trauriger Jahrestag. „Retten wir Telemadrid“ steht | |
| auf seinem Shirt. Seit einem Jahr sind sie fast täglich auf der Straße und | |
| haben den Kampf dennoch verloren. | |
| „829 Kollegen von knapp 1.200 wurden entlassen“, sagt der 53-jährige | |
| Regieassistent, der mit zu den Betroffenen gehört. Zwar hat das | |
| Arbeitsgericht die Entlassungen als nicht berechtigt eingestuft, doch | |
| Geschäftsführung und Regionalregierung lehnen die Wiedereinstellung ab. Das | |
| Verfahren geht in die nächste Runde. | |
| Dank eines neuen Arbeitsrechtes, das Erlassungen erleichtert, verloren in | |
| 17 Monaten Regierung Rajoy weit mehr als eine Million Menschen ihren Job. | |
| Darunter Hunderttausende aus dem öffentlichen Dienst. „Die Rechte wird | |
| nicht eher ruhen, bis sie uns alles genommen hat. Sie wollen keine | |
| selbstbewussten Arbeiter, sondern Sklaven“, sagt Arrieta und hat dabei | |
| nicht nur Rajoy, sondern auch die deutsche Kanzlerin Merkel mit ihrer | |
| europäischen Austeritätspolitik im Visier. | |
| Sowohl Raquel Vega als auch Juan Carlos Arrieta haben mehr Disziplin als | |
| Moral, wenn es um ihr Gewerkschaftsbuch geht. „Sie haben zu viel verhandelt | |
| und zu wenig gehandelt“, beschwert sich Vega über die Gewerkschaftsführung. | |
| Arrieta vermisst die Solidarität auf europäischer Ebene: „Die | |
| Gewerkschaften schauen zu stark auf die nationale Realität, während die | |
| Politik in Brüssel global denkt und überall das gleiche neoliberale | |
| Programm umsetzt.“ | |
| Für die beiden steckt die Gewerkschaftsbewegung tief in der Krise. „Doch | |
| Gewerkschaften wird es geben, solange es Arbeiter gibt, wenn auch | |
| vielleicht nicht die Gewerkschaften, die wir heute haben“, gibt sich | |
| Arrieta nach kurzer Pause dennoch optimistisch, was die Zukunft der | |
| Arbeiterbewegung angeht. REINER WANDLER | |
| Ein paar Tausend Menschen haben sich zur Maikundgebung am zentral gelegenen | |
| Klavthmonos-Platz eingefunden, rote Fahnen werden hochgerissen – doch um | |
| die Demonstration herum tätigen gestylte Jugendliche ungestört ihren | |
| Einkauf. Ausnahmsweise fällt der 1. Mai in diesem Jahr in die orthodoxe | |
| Karwoche und wird deshalb ziemlich unorthodox zweigeteilt: Während die | |
| Beamten Griechenlands den Tag der Arbeit feiern, müssen alle anderen ihre | |
| Arbeit antreten und werden dafür mit einem Extraruhetag in der zweiten | |
| Maiwoche getröstet. | |
| Und dennoch trauen sich viele auf die Straße, etwa Sofia Skoularika. Seit | |
| 18 Jahren arbeitet die Frau aus Athen in einem Supermarkt. Nun droht ihr | |
| die Kündigung. Der Grund: „Seit Juni 2012 wurden unsere Gehälter um 50 | |
| Prozent gekürzt, nun drohen weitere Kürzungen, und wer nicht mitmacht, | |
| fliegt raus“, empört sich die 40-Jährige. „Die Firma expandiert doch gera… | |
| in Bulgarien, die können nicht im Ernst behaupten, sie hätten kein Geld | |
| mehr.“ | |
| Mit dabei ist auch Apostolos Bouras, ein kräftiger Mann, der sein halbes | |
| Leben in der Firma verbracht hat. Mit 22 sei er eingestiegen, mit 46 droht | |
| ihm heute die Arbeitslosigkeit. Er appelliert an die internationale | |
| Solidarität: „Wenn die Sparpolitik bei uns durchgesetzt wird, wird sie | |
| überall in Europa Nachahmer finden. Dann kommt Deutschland als nächstes | |
| dran“, warnt Bouras, einer von Tausenden Demonstranten am | |
| Klavthmonos-Platz. | |
| Der Platz ist ein symbolträchtiger Ort: Sein Name kommt vom altgriechischen | |
| „Klavthmos“, was so viel bedeutet wie „Heulen“. Im 19. Jahrhundert haben | |
| sich hier griechische Beamte nach jedem Regierungswechsel versammelt, um | |
| ihre Entlassung zu beweinen, denn es gab damals keine Staatsdiener auf | |
| Lebenszeit und jeder neu gewählte Regierungschef durfte sämtliche Beamte | |
| entlassen, um die eigenen Anhänger mit lukrativen Pöstchen zu versorgen. | |
| ## Weniger als 1.000 Euro im Monat | |
| Heute könnte es wieder soweit kommen, befürchtet Jannis, ein pensionierter | |
| Lehrer aus Kreta, der gemeinsam mit seiner Frau gegen den Sparwahn | |
| demonstriert. Die Regierung hätte ja beschlossen, dass 15.000 Beamte gehen | |
| und an anderer Stelle genauso viele neu eingestellt werden, gibt der | |
| 60-Jährige zu bedenken. Nach 32 Jahren im Dienst stünde ihm eigentlich eine | |
| Monatsrente in Höhe von 1.400 Euro zu, aber jetzt müsse er krisenbedingt | |
| mit weniger als 1.000 Euro auskommen, klagt Jannis. | |
| Seine Frau Anna betreibt einen Buchladen in der Nähe von Heraklion, der | |
| Hauptstadt Kretas. „Der läuft schlecht, wie alle Geschäfte in der | |
| Nachbarschaft“, meint die 46-Jährige. | |
| Er würde sich freuen, wenn die Menschen in Europa sich mit den Griechen | |
| solidarisieren, sagt Jannis. Ob es tatsächlich dazu kommt? „Machen wir uns | |
| nichts vor, wir können da nicht viel erwarten.“ JANNIS PAPADIMITRIOU | |
| Unter strahlend blauem Himmel geißelt Gewerkschaftsboss Carsten Burckhardt | |
| das große Geld. Mit Griechenland, Spanien und Portugal lägen „ganze | |
| Volkswirtschaften unter dem Beschuss der Finanzmärkte“, empört sich der | |
| Regionalleiter der IG Bau in Westfalen – nach beschlossener Schließung der | |
| Opel-Werke traut sich in Bochum am Mittag des 1. Mai kein Vertreter der IG | |
| Metall auf die Bühne des Deutschen Gewerkschaftsbunds vor dem Rathaus. | |
| Ein „gemeinsam finanzierter europäischer Marshallplan“ müsse her, fordert | |
| Burckhardt. Der Mann vom Bau wirbt für Solidarität mit den KollegInnen in | |
| Südeuropa, prangert die Rekordarbeitslosigkeit an, die die Statistikbehörde | |
| Eurostat am Tag zuvor verkündet hat. | |
| „In Griechenland und Portugal haben 26 Prozent keine Arbeit“, mahnt er. | |
| Fast flehentlich bittet Burckhardt seine Gewerkschafter, die es sich bei | |
| Bier und Würstchen gut gehen lassen, nicht „den verzerrten Bildern der | |
| Zeitung mit den vier großen Buchstaben“ zu glauben: Der Nationalismus der | |
| Bild gefährde langfristig den Frieden in Europa. | |
| Junge Gewerkschafter wie Lisa und Denis Wyszkowski bleiben trotzdem | |
| skeptisch. Die Geschwister lehnen an dem Lkw, mit dem die DGB-Jugend auf | |
| den Rathausplatz gerollt ist. „Ich sehe Europa eher als Falle“, sagt Lisa. | |
| Zwar will die 21-Jährige, die bei Thyssen-Krupp gerade eine Ausbildung zur | |
| Bürokauffrau macht und dort Vorsitzende der Jugendvertretung ist, | |
| „Solidarität“ demonstrieren – aber nicht mit griechischen KollegInnen, | |
| „sondern mit Opel“. | |
| Griechenland sei eben „ziemlich weit weg“, erklärt sie – und Probleme ge… | |
| es auch in Bochum genug: „Die Leute bei Opel, die kennen wir. Denen wollen | |
| wir helfen.“ Sie wisse, wie viel Angst Arbeitslosigkeit mache: „Meine Tante | |
| war bei Nokia.“ Nokia hat das Ruhrgebiet schon 2008 verlassen. | |
| ## Sorge um das Revier, nicht Südeuropa | |
| Auch ihr Bruder Denis sorgt sich um das Revier, nicht um Südeuropa. Wie | |
| Lisa trägt er ein Shirt, mit dem die DGB-Jugend Mut machen will. „Pott in | |
| der Krise – dat pack’n wa“ steht darauf. „Ich will nicht rassistisch | |
| klingen“, sagt der Elektroniker für Betriebstechnik. Trotzdem fließe zu | |
| viel Geld nach Südeuropa, während in der Bundesrepublik Sozialstaat und | |
| Infrastruktur zerfielen. „Griechische Probleme“ müsste „die griechische | |
| Regierung lösen“, findet der 23-Jährige und nippt an seiner Flasche Radler. | |
| Ältere Gewerkschafter sind da nachdenklicher: Ja, er habe Verständnis für | |
| die Proteste gegen Austerität und massive Lohnkürzungen in Südeuropa, sagt | |
| etwa der Elektroingenieur Uwe Simokat. Doch auch er denkt schnell an die | |
| prekäre Lage vieler Arbeitsloser, die von Hartz IV leben müssen – dabei | |
| genieße er selbst als Rentner „relative soziale Sicherheit“. Trotzdem läs… | |
| Europa den massigen Mann ratlos zurück: „Die ökonomischen Unterschiede | |
| zwischen den gesellschaftlichen Gruppen, zwischen den Staaten, sind einfach | |
| zu groß“. ANDREAS WYPUTTA | |
| Quelle für die Arbeitslosenquoten der Bildunterzeilen: Eurostat. *Die | |
| Berechnung des EU-Statistikamts Eurostat unterscheidet sich von den Angaben | |
| der Bundesagentur für Arbeit, die von 7,1 Prozent ausgeht. | |
| 1 May 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Reiner Wandler | |
| ## TAGS | |
| Tag der Arbeit, Tag der Proteste | |
| Gewerkschaft | |
| Spanien | |
| Griechenland | |
| Opel | |
| EU | |
| Jugendarbeitslosigkeit | |
| Tag der Arbeit, Tag der Proteste | |
| Tag der Arbeit, Tag der Proteste | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Projekt „Soziales Europa“: Nur Mobilität ist förderwürdig | |
| Die Währungsunion soll sozialer werden. Sozialprojekte will Brüssel aber | |
| nicht. Nicht mal eine gemeinsame Arbeitslosenkasse. | |
| Kommentar Europas Jugend: Die Hoffnung stirbt zuerst | |
| Die europäische Krisenpolitik raubt den Menschen mehr als ihren Wohlstand: | |
| Es ist die Idee der Zukunft selbst, die zum umkämpften Gut geworden ist. | |
| Kommentar 1. Mai: Die neue Inhaltlichkeit | |
| Krawalle und 1. Mai - das war einmal. Offen bleibt, was den | |
| Autonomen-Protest damit noch von dem des Deutschen Gewerkschaftsbundes | |
| unterscheidet. | |
| Demos zum 1. Mai: Blumen für alle | |
| 6.000 Teilnehmer beim traditionellen Marsch des DGB, Pfefferspray beim | |
| Euromayday in Wilhelmsburg. Frauendemo in die Walpurgisnacht. | |
| Protest: Polizei lässt Nazis laufen | |
| Tausende demonstrieren in Schöneweide gegen den Aufmarsch der NPD. Polizei | |
| verhindert Blockaden. Nazis laufen weitgehend von der Öffentlichkeit | |
| abgeschottet. | |
| Walpurgisnacht in Berlin: Friedliches Vorspiel | |
| Im Wedding gabs zur Walpurgisnacht eine Demo gegen steigende Mieten, in | |
| Schöneweide gings schon mal gegen Nazis und im Mauerpark wurde friedlich | |
| gefeiert. | |
| +++ Ticker zum 1. Mai 2013 +++: Keine Lust auf Action | |
| Eine blockierte Nazidemo und eine die laufen durfte, zwei revolutionäre | |
| Mai-Demos ohne wirkliche Eskalation. Der 1. Mai 2013 war einer der | |
| friedlichsten seit Jahren. |