# taz.de -- Kirchentag 2013: Keine Höhle des Löwen mehr | |
> Statt Protest, Wut oder Zorn gibt es kuscheliges Einvernehmen, zahnlose | |
> Podien und fast wellnesshafte Christlichkeit. Auch mit Merkel. | |
Bild: Kirchentagsbesucher in der Hamburger Hafencity beim Abendsegen | |
HAMBURG taz | So viel ist um 10.58 Uhr am Freitag gewiss: Zwei Minuten vor | |
Beginn ihrer Veranstaltung schritt Kanzlerin Angela Merkel in die Halle 5 | |
auf dem Hamburger Messegelände – und jede Fantasie, es könnte auf dieser | |
größten Laienversammlung des deutschen Protestantismus so etwas wie eine | |
politische Wechselstimmung registriert werden, war zerstoben. Das | |
Auditorium war bis auf den letzten Platz besetzt, wenn auch nicht so viele | |
Menschen draußen standen wie bei der früheren Bischöfin Margot Käßmann. | |
Sehr viele Männer und Frauen erhoben sich von ihren Plätzen, um so etwas | |
wie stehenden Applaus zu spendieren. So viel Lobpreis im öffentlichen Raum | |
bekommt die Kanzlerin sonst ja nicht mehr, aber auf dem 34. Evangelischen | |
Kirchentag ist sie eine Gleichgesinnte im Glauben und keineswegs eine | |
Figur, die sich in eine Art Höhle des Löwen begibt. | |
Kanzler Kohl hat sich nie zu einem Kirchentag getraut. Zu viel | |
Widerspruchsgeist – den Job der christdemokratischen Repräsentation hat | |
Bundespräsident Richard von Weizsäcker besser erfüllt. Aber die Kanzlerin | |
wird mit Beifall fast zugeweht. Und überhaupt: Wovor sollte sie Angst | |
haben? | |
Ihr zur Seite bei dieser Veranstaltung, die sich der | |
Weltentwicklungspolitik unter der Überschrift „Und siehe, es war sehr gut“ | |
widmete, war die frühere Premierministerin Neuseelands, Helen Clark, seit | |
2009 Chefin der UN-Abteilung für Entwicklung. | |
## Nicht hochmütig | |
Es war ein wohlfeiles Sprechen. Die Kanzlerin, verständnisvoll ihre Politik | |
und die der anderen erklärend, musste nur darauf hinweisen, als | |
Umweltministerin den Begriff Nachhaltigkeit auf die Agenda lanciert zu | |
haben; musste nur erwähnen, dass auch sie um das Problem von Ökostandards | |
weiß, aber doch entwicklungsbedürftigen Ländern nicht die ökonomische | |
Wohlstandsorganisation verwehren dürfe. | |
Nein, Deutschland dürfe nicht hochmütig sein – denn dieses Land habe die | |
Trias von Wachstum, Wohlstand und Nachhaltigkeit recht eigentlich längst | |
erfüllt. Da blieb der Neuseeländerin nichts weiter übrig, als beinah | |
politpredigerhaft darauf hinzuweisen, wirtschaftliche Entwicklung gerade | |
der ärmsten Länder sei ein Gebot globaler Solidarität. Beifall auch für | |
sie! | |
Doch Clark musste Staffage bleiben, die mit der Kanzlerin von den | |
Hochsitzen des globalen Politbusiness herab die Kompliziertheiten zu | |
erläutern bereit war. Steilster Satz von Merkel: Artikel 1 des | |
Grundgesetzes zur Würde des Menschen sei nicht nur für Deutschland gültig, | |
sondern für die ganze Welt, für jeden Menschen. | |
Ein Transparent von Stuttgart-21-Protestierern wurde entrollt, es nahm sich | |
wie ein erfrischend farbiges Dekorationselement in der kühlen Halle aus – | |
Protest bei Kirchentagen, Empörung, Wut, Zorn, Hitzigkeiten, das war einmal | |
und ist einer Erschöpfung gewichen. Vielleicht, so ließe sich sagen, die | |
sich aus dem Erfolg dieses Festivals selbst erklärt. | |
Auf Kirchentagen sind stets die Stichworte zur Zeit formuliert worden: | |
Frieden, Gerechtigkeit, Dritte Welt, Frauen. Alles ist aber ins | |
Gesellschaftliche eingesickert – es gibt niemanden mehr, bis auf die FDP, | |
der bestritte, dass ebendiese Worthülsen ins wahre Leben übertragen werden | |
müssten. | |
## Kastriertes Fest | |
Es fällt auf, im Vergleich zu den Kirchentagen der siebziger und achtziger | |
Jahre, als es um Frieden, Krieg oder Ökologie ging, wie zahnlos die meisten | |
Podien geworden sind – schon deshalb, weil es echte Opponenten nicht gibt. | |
Sie werden, so scheint es, nicht mehr gewünscht. Man darf stark vermuten, | |
das Kanzleramt wird sich ausbedungen haben: keine Kirchentagsveranstaltung, | |
auf der seine Vorsteherin nicht im Wahlkampfmodus glänzen kann. So aber | |
wird dieses Fest kastriert: Kirchentage, so war der Anspruch nach dem | |
Zweiten Weltkrieg, sollten Streit austragen – nicht kuscheliges | |
Einvernehmen zelebrieren. | |
Und Merkel war ja nicht die einzige Politikerin, die in der Wanne | |
öffentlicher Gewogenheit baden durfte. Linke, Grüne, Sozialdemokraten oder | |
Konservative: niemand von ihnen musste mit der hässlichen Erfahrung nach | |
Hause fahren, ausgebuht worden zu sein – auch diese Art ziviler | |
Flegeligkeit war auf Kirchentagen ein Mittel für den ungastlichen Notfall: | |
Wenn einer wie Helmut Schmidt dereinst allzu starkes Politsprech anklingen | |
ließ. | |
Merkel aber ließ man alles durchgehen – auch, dass sie auf eine Frage aus | |
dem Publikum nicht eingehen mochte. Wie es um die Würde der Menschen in | |
Europa bestellt sei – und ob die deutsche Politik nicht viel dazu | |
beigetragen habe, Länder zu verarmen und in die Krise weiter | |
hinabzustürzen: Gebe es da keine Anforderungen an Solidarität und | |
Schuldenübernahme? | |
1997 in Leipzig war bei den Auftritten von CDU-Politikern spürbar, wie sehr | |
der Kirchentag diese satthatte. Im Jahr darauf kam Rot-Grün. In Hamburg | |
trat die Kanzlerin auf, als erstatte sie aus den Weiten der Welt eine Art | |
Zwischenbericht – sie darf mit dem Segen dieser Christen weitermachen. | |
Könnte sein, dass der nächste Kirchentag schon ungemütlicher wird: In | |
Stuttgart geht es dann um den Bahnhof der Stadt, um die Wiederwahl | |
Kretschmanns. 2017 findet dieses Fest in Wittenberg statt, wo des 500. | |
Geburtstags der Reformation gedacht wird. In Hamburg buchstabiert sich | |
Christlichkeit fast wellnesshaft. Vermisst wird einer oder eine, der oder | |
die aufrüttelnde, dissidente, grundsätzliche Thesen von einem anderen Leben | |
anschlägt. | |
4 May 2013 | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
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