Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Debatte Hawkings Israelboykott: Ein Fall von Heuchelei
> Dass viele britische Wissenschaftler zu einem akademischen Boykott
> Israels aufrufen, ist intellektuell unhaltbar. Ein offener Brief an
> Stephen Hawking.
Bild: Kritik sollte nicht auf schrillem Moralismus und simplem Schwarz-Weiß-De…
Lieber Professor Hawking, es gibt viele Gründe, warum sie als einer der
führenden Wissenschaftler der Welt gelten. Wie Sie wissen, ist einer der
Gründe für Ihre großen Leistungen, dass Sie einen unabhängigen Geist
behalten haben und sich weigern, dem Druck des Mainstreams nachzugeben.
Neue Wege kann man nur gehen, wenn man sich solchem Druck gegenüber immun
zeigt.
Aufgrund meines Respekts vor Ihren Leistungen bin ich überrascht und
betrübt über Ihre Entscheidung, Ihre Teilnahme an der diesjährigen
Presidential Conference in Jerusalem abzusagen; dass sie sich denen
angeschlossen haben, die zu einem akademischen Boykott Israels aufrufen.
Ich hätte erwartet, dass ein Mann Ihres Ansehens sich nicht von dem Druck
beeinflussen lassen würde, der Berichten zufolge auf Sie ausgeübt wurde,
Ihren Besuch in Israel abzusagen.
Ich trete seit Langem gegen die israelische Besatzung der
Palästinensergebiete ein und habe diese Opposition mit allen mir zur
Verfügung stehenden Mitteln zum Ausdruck gebracht. Ich bin der Ansicht,
dass die israelische Siedlungspolitik moralisch nicht legitimiert werden
kann, politisch dumm ist und strategisch unklug.
## Doppelte Standards
Dennoch halte ich es für moralisch verwerflich und intellektuell unhaltbar,
dass viele britische Wissenschaftler zu einem akademischen Boykott Israels
aufrufen. Ein solcher Aufruf basiert auf doppelten moralischen Standards,
die ich nicht von einer Gruppe erwartet hätte, deren Auftrag es ist,
intellektuelle Integrität zu unterstützen.
Ja, Israel begeht Menschenrechtsverletzungen in der Westbank. Aber diese
sind unbedeutend im Vergleich zu denen, die von einer Reihe anderer Staaten
begangen werden, angefangen mit dem Iran über Russland bis China, um nur
einige zu nennen.
Iran hängt Homosexuelle; China hält Tibet besetzt, und Russland hat in
Tschetschenien schreckliche Zerstörungen angerichtet. Ich habe weder von
Ihnen noch Ihren Kollegen, die einen akademischen Boykott gegen Israel
unterstützen, gehört, dass sie irgendeines dieser Länder boykottieren.
Lassen Sie mich einen Schritt weiter gehen: Israel wird angeklagt,
Palästinenser über Jahre ohne Gerichtsverfahren festzuhalten. Ebenso die
USA, die bis heute Guantánamo nicht geschlossen haben. Israel wird der
gezielten Tötungen von Palästinensern beschuldigt, die verdächtigt werden,
an Anschlägen beteiligt zu sein. Auch die USA praktizieren in vielen
Ländern gezielte Tötungen von Verdächtigen.
Die Frage, ob diese Internierungen und gezielten Tötungen gerechtfertigt
werden können, ist von erheblichem Gewicht, und es gibt keine einfachen
Antworten. Ich persönlich denke, dass Demokratien auch in einem Krieg gegen
den Terror jeden erdenklichen Versuch unternehmen müssen, die Gesetze
einzuhalten und Menschenrechtsverletzungen zu vermeiden.
## Die Traumata des Terrors
Lassen Sie uns dennoch nicht vergessen, dass sich sowohl Israel als auch
die Vereinigten Staaten in schwierigen Situationen befinden. Israel stand
an der Schwelle zu einem Friedensabkommen mit den Palästinensern, als die
Zweite Intifada ausbrach.
Täglich wurden Israelis von Selbstmordattentätern in Stücke gerissen;
seitdem ist es für israelische Politiker schwierig, ihre Wähler zu
überzeugen, Risiken für den Frieden einzugehen. Die USA leiden noch immer
unter dem Trauma des 11. September. Seitdem haben sie zwei Staaten,
Afghanistan und den Irak, besetzt. Ich denke, dass es ebenso falsch war,
den Irak anzugreifen, wie ich die israelische Siedlungspolitik in der
Westbank für falsch halte.
Professor Hawking: Wie können Sie und Ihre Kollegen, die für einen Boykott
eintreten, ihren doppelten Standard rechtfertigen (der eine Folge davon
ist, Israel als besonderen Fall darzustellen)? Sie bestreiten einfach, dass
Israel die längste Zeit seiner Existenz unter existenziellen Bedrohungen
gestanden hat.
Bis heute ruft die Hamas, eine der beiden großen Parteien in Palästina, zur
Zerstörung Israels auf. Bis heute vergeht kaum eine Woche, in der nicht der
Iran und dessen libanesischer Verbündeter, die Hisbollah, damit drohen,
Israel auszulöschen.
Sich Israel für einen akademischen Boykott herauszugreifen, ist, wie ich
glaube, ein Fall schwerer Heuchelei. Es ist eine Gelegenheit, seine
Empörung über die Ungerechtigkeiten der Welt dort loszuwerden, wo die dafür
zu zahlenden Kosten gering sind. Ich warte immer noch auf einen britischen
Wissenschaftler, der nicht mit amerikanischen Institutionen kooperieren
will, solange Guantánamo in Betrieb ist oder solange die USA gezielte
Tötungen durchführen.
## Das einfachste Ziel
Hinzu kommt: Sich Israels akademische Kreise für einen Boykott
herauszugreifen, ist auch unklug, um es vorsichtig auszudrücken. Israels
Wissenschaftler sind weitgehend linksliberal, viele haben sich seit
Jahrzehnten gegen die Siedlungspolitik ausgesprochen. Einmal mehr haben
sich die britischen Wissenschaftler daher das einfachste Ziel ausgesucht.
Israel kann ebenso wie jedes andere Land kritisiert werden. Aber solche
Kritik sollte nicht auf schrillem Moralismus und simplem
Schwarz-Weiß-Denken basieren. Die Welt ist leider ein chaotischer,
schwieriger Ort. Ian McEwan soll Folgendes geantwortet haben, als er dafür
kritisiert wurde, 2010 nach Israel zur Verleihung des Jerusalemer
Literaturpreises gefahren zu sein: „Wenn ich nur in Länder fahren würde,
mit deren Politik ich übereinstimme, dann würde ich wahrscheinlich nicht
mehr das Bett verlassen. Es ist nicht gut, wenn man aufhört, miteinander zu
reden.“
Da ist sicherlich etwas dran. Den Standards der Menschenrechte und den
Idealen der Demokratie in einer unvollkommenen Welt gerecht zu werden, ist
schwierig. Autoren wie Philip Bobbitt und Michael Ignatieff haben lange
darüber nachgedacht, wie man Menschenrechte in einer Welt des Terrorismus
bewahren kann.
Professor Hawking, von einem Mann Ihres intellektuellen Formats erwarte ich
eigentlich, sich mit diesen schwierigen Fragen auseinanderzusetzen. Der
einfache Weg, Israel für einen Boykott herauszugreifen, steht Ihnen weder
intellektuell noch moralisch gut an.
Mit freundlichen Grüßen
Carlo Strenger.
13 May 2013
## AUTOREN
Carlo Strenger
## TAGS
Boykott
Israel
Stephen Hawking
Antisemitismus
Palästina
Carlo Strenger
Israel
Israel
Homosexualität
Israel
Israel
## ARTIKEL ZUM THEMA
Nachruf auf Carlo Strenger: Stimme der aufgeklärten Vernunft
Verteidiger der Freiheit: Zum Tod des großen Psychoanalytikers und
Globalisierungstheoretikers Carlo Strenger.
EU-Forschungskooperation mit Israel: Kein Geld für besetzte Gebiete
Die Netanjahu-Regierung steckt in der Zwickmühle. Soll Israel weiter mit
der EU zusammen forschen, muss es die EU-Position zur Siedlungspolitik
anerkennen.
Starphysiker Stephen Hawking: Absage an Israel
Wegen der Siedlungspolitik will Hawking nicht an einer von Präsident Peres
veranstalteten Konferenz teilnehmen. Die Organisatoren sind enttäuscht, im
Netz wird getobt.
Kinder in Israels Regenbogenfamilien: Adoption mit Hindernissen
Schwule Paare mit Kinderwunsch haben ein Problem mit Leihmüttern. Die
müssen auch jüdisch sein, laut orthodoxen Regeln, die dazu Homosexualität
verdammen.
Israel/Palästina-Debatte: Keine Kosmetik mehr aus Israel
Ist es richtig, den Boykott israelischer Produkte zu fordern, um mehr
Rechte für Palästinenser zu erwirken? Eine Debatte im taz-Café verlief
überraschend sachlich.
EU erhöht Druck auf Israel: Nicht mehr „Made in Israel“
Stagnation prägt Gaza und das Westjordanland: EU-Diplomaten schlagen eine
Kennzeichnung von Waren und Boykottmaßnahmen vor.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.