# taz.de -- Kolumne Melodien aus Malmö #10: Die Unschuld vom dänischen Land | |
> Die Favoritin gewinnt verdient. Die Show war lustiger als üblich und | |
> trotz sparsamerer Inszenierung so glamourös und queer wie man sich | |
> wünschen darf. | |
Bild: So sehen Gewinner aus: Emmelie de Forest. | |
Ihr Kleid – nicht der Bühnenfummel – lag schon kurz nach Beginn des 58. | |
Eurovision Song Contests in jenem Raum vor dem Pressesaal, das nur der | |
Sieger des Abends betreten würde: Offenbar wussten die Manager des | |
schwedischen Fernsehens SVT schon vom Juryergebnis, das ja am Vorabend, am | |
Freitag, ermittelt wurde. | |
In diesem Sinne: War es nicht sonnenklar, dass die Dänin Emmelie de Forest | |
siegen würde? War es nicht vor allem sie, die seit ihrem Gewinn der | |
dänischen Vorentscheidung Ende Januar im jütländischen Herning als | |
allerfetteste Favoritin zu gelten hatte - und ja auch war? In den | |
europäischen Wettbüros und bei Fanclubs? | |
„Only Teardrops“ – das war eine fast kaltstählerne Inszenierung von | |
Tom-Ford-haftem Ausmaß: Alles sieht wahnsinnig stylish und makellos aus - | |
weshalb ja auch kein Wunder, dass diese Performance in 37 Ländern Punkte | |
erntete, nur bei der Großmacht des Pop San Marino keinen Blumenpott ernten | |
konnte? | |
„Only Teardrops“ – das war, das ist schon wieder ein ESC-Gewinner, der von | |
einer jungen Interpretin gewonnen wurde. Alexander Rybak, Lena | |
Meyer-Landrut und Loreen – junge Künstler, die irgendwie eine Aura von | |
Unschuld und Anmut verströmen. Emmelie de Forest, die Dänin, nicht minder. | |
Mit irgendwie keltischen Flötentönen fing es an, sacht in der Mitte des | |
Liedes von Trommelwirbeln begleitet zu einem Text, der von Liebeskummer | |
handeln könnte oder von mädchenhafter Schwermut als solcher? Man schaue | |
sich die [1][Show von Herning vom 26. Januar] mit dem ESC-Auftritt von | |
Sonnabend an: Jede Handbewegung identisch, jeder Augenaufschlag offenbar | |
sekundengenau vorher trainiert, bis alles wie spontan und natürlich | |
aussieht. Dieser dänische Siegestitel ist die Komposition nebst Darstellung | |
eines Stoßseufzers, das von einem eurokrisengeschüttelt ächzenden Europa | |
als der Seinige erkannt werden wollte. | |
[2][Das Ergebnis war eindeutig]: Dänemark bekam von allen Ländern Punkte, | |
ihre nächsten Konkurrenten aus Aserbaidschan (Farid Mammodov) und der | |
Ukraine (Zlata Ognevich) holten sich öfter die Höchstwertung von zwölf | |
Punkten, aber dies überwiegend im Nachbarschaftsbereich, in der kulturellen | |
Einflusssphäre der ehemaligen Sowjetunion. Aber sie verfehlten jede | |
zählbare Aufmerksamkeit in zehn bzw. neun Ländern. | |
Wer siegen will wie Emmelie de Forest muss nicht überall an der Spitze sein | |
– besser ist, überall ein paar Punkte zu ernten. Norwegen auf Platz vier, | |
Russland auf fünf und Griechenland auf sechs – Ost und West teilten sich | |
die ersten sechs Ränge, gleich dahinter Italien, Malta, Niederlande und | |
Ungarn. | |
Allerdings lässt sich auch dies resümieren: Die Blockwertungen waren noch | |
nie so ausgeprägt wie in diesem Jahr. Die Länder der früheren UdSSR (neun | |
von zehn waren am Grand Final beteiligt) bedachten zunächst sich selbst | |
großzügig; Skandinavien (alle fünf in der Endrunde dabei) nicht minder. 281 | |
Punkte bekam Dänemark am Ende, 234 Aserbaidschan, Ukraine 214, Norwegen | |
191, Russland 174, Griechenland 152 (und davon sechs aus Deutschland). | |
Das Typische beim ESC blieb gültig: Zypern gibt Griechenland wie immer | |
zwölf Punkte, Israel gibt seinem sicherheitspolitischen Partnerland | |
Aserbaidschan ebenso das meiste, die Niederlande und Belgien nehmen sich | |
auch nix beim Schenken von Bestnoten – dafür haben Armenien und | |
Aserbaidschan sich vollständig punktemäßig ignoriert: Was im Krieg | |
miteinander liegt, findet auch beim ESC keinen Frieden. | |
Das Sicherheitsaufgebot beim ESC war wie immer enorm. Überall Absperrungen. | |
Wer in die Halle wollte und sei es zum Arbeiten, musste Checks über sich | |
ergehen lassen, die einer Sicherheitskonferenz in München würdig wäre. Die | |
Polizei teilte vor dem Finale mit: Alles läuft gut, keine Unruhen, außerdem | |
ist Israel schon im Semifinale ausgeschieden, das wecke also den Zorn der | |
palästinensischen Bevölkerung von Malmö nicht mehr. | |
Zwei Tage zuvor hatte ein „Boykottiert Israel“-Protestzug in Malmös | |
Innenstadt für gewisse bad vibrations gesorgt. Pfingstsamstag spazierte ein | |
„Kippa-Walk“ durch Malmö – eine Art Solidaritätszug gegen antisemitische | |
Haltungen in Malmö. Diese Demonstration war besser gelaunt und etwas größer | |
als der für die Eliminierung Eurovisionslandes Israels. | |
Und die Show selbst? Wie immer. Durchschnittlich. Also ganz großes Kino. | |
Sentimental, kitschig, erhebend, gefühlsfreisetzend. Mit Unterschieden zu | |
anderen Jahren freilich. Schwedens SVT wollte billiger produzieren als die | |
Sender Aserbaidschans, Deutschlands und Russlands. Keine | |
summenverschlingenden LED-Lichtmeere, keine stadionhaften Bühnen, keine | |
Spinnenkameras, wie sie 2006 eingeführt wurden. Man wollte sparen. Aber sah | |
man das wirklich – dass der ESC etwas weniger Galerie Lafayette, dafür ein | |
bisschen ein normaler Delikatessenladen sein sollte? Kaum zu glauben. | |
## Deutlich lustiger als sonst | |
Die Details, auf die es ankam, waren konzis inszenieren. Allein für den | |
Einfall des SVT, alle Länder in den Minuten der Eröffnung über einen | |
Laufsteg auf halber Höhe der Arena catwalken zu lassen – das hatte | |
olympischen Spirit. Und die vielen Jokies, die Moderatorin Petra Mede | |
(alles am Körper – Jean-Paul Gaultier, wie immer für Menschen, die auf | |
innere Beigeheit halten, ein Affront) lieferte, die Comedian Sarah Dawn | |
Finer (sowohl mit ihrer Interpretation von Abbas „The Winner Takes It All“ | |
als auch in der Rolle der näselnd Englisch parlierenden Lynda Woodruff – | |
das war lustiger als sonst alles, was in einem gern staatstragend | |
inszenierten ESC so geboten wird – eine Spur selbstironischer noch als 2011 | |
Anke Engelke. | |
Die Künstler? Prima der Ungar ByeAlex mit „Kedvesem“, eine | |
Mitsummgeschichte, die in Kreuzkölln hätte erfunden sein können; ein | |
rockiger Isländer, der mit „Hell's Angels“-artigen Fingerringen starke | |
Gefühle heraus gröhlt; eine maltesische Formation, die einfach nur ein | |
freundliches, irgenwie loungiges Lied singt. Und ein Italiener, der, man | |
muss es offen sagen, bei den heterosexuellen Frauen hinter den ESC-Kulissen | |
sehr starke Resonanzen weckte; und eine minimalistisch orientierte | |
Niederländerin, die erstmals in zwei ESC-Wochen lächelte. Charmant, | |
gelegentlich rätselhaft, lustig auch – und extrem unterhaltend. | |
Der Rest umreißt das Übliche: viel Pyro, starker Einsatz von | |
frisurverwehenden Windmaschinen, eine Menge Piff und Paff – da stimmte | |
grosso modo alles. MTV Music Award oder andere Pop-Events im (globalen oder | |
europäischen oder nationalen TV) – eine zum Gähnen anregende Veranstaltung | |
dagegen. | |
Vielleicht ist das das Beste an Emmelie de Forests Triumph, an ihrem Sieg | |
im Plünnentextil und leicht angeföhnter Löwenmähne: Dass sie sich einem | |
Sieg von Aserbaidschan, der Ukraine und Russland per Mikrofon in den Weg | |
stellte. Ein ESC, der nächstes Jahr wieder in Baku, in Kiew oder St. | |
Petersburg (so waren die russischen Pläne) stattfände, hätte die | |
Menschenrechtsdebatte vom vorigen Jahr aufgerührt. Gut wäre das gewesen. | |
Dann hätte man die den ESC veranstaltende European Broadcasting Union (EBU) | |
fragen können, ob sie nicht die Regeln verändern wolle: Mitmachen darf | |
jeder – da die Eurovision kein geopolitisches Netzwerk ist, sondern ein | |
televisionäres, dürften auch Länder wie Libanon, Ägypten, Algerien und | |
Tunesien teilnehmen –, aber veranstalten nur dann, wenn die gewöhnlichen | |
Menschenrechtsstandards eingehalten werden – und nicht nur in einem | |
zeitlichen Korridor der ESC-Wochen (von den Proben bis zur Abreise nach dem | |
Finale). | |
Ukraine, Russland, Aserbaidschan – finanziell hätten diese Länder alle | |
keine Probleme, anders als Spanien, Griechenland und Italien, aber ein ESC | |
in faktisch undemokratischen, autoritären Regimen? Sietse Bakker, ESC | |
Supervisor bei der EBU, beharrt: Der ESC sei ein TV-Event, kein | |
politisches. Das darf nicht naiv gelesen werden. Auch dieser Niederländer | |
weiß, dass das eine vom anderen kaum zu trennen ist – er setzt aber mit dem | |
ESC auf das Konzept von „Wandel durch Annäherung“. Wie einst bei der | |
Ostpolitik der sozialliberalen Koalition seit den späten sechziger Jahren. | |
Aber in Aserbaidschan, so sagen Experten, so bestätigten es mir Freunde aus | |
Baku hier in Malmö, hat der ESC nur die Fronten verhärtet: Das Regime der | |
Alijews lässt, was politische und rechtsstaatliche Freizügigkeit wie | |
Intensität angeht, nicht mit sich spaßen. | |
## Deutschland nicht everybody's darling | |
Und Cascada? Sängerin Natalie Horler war enttäuscht, sie konnte nicht | |
fassen, am Ende mit „Glorious“ nur auf dem 21. Platz gelandet zu sein. | |
Erstaunlich, fürwahr. 30 Millionen verkaufte Tonträger, in Großbritannien, | |
Skandinavien, Osteuropa - und trotzdem nur krümelige Punkte aus Albanien | |
(3), Österreich (6), der Schweiz (1), Israel (5) und Spanien (3): 18 Punkte | |
– das war zuletzt schlechter 2009 in Moskau mit dem 20. Rang durch den Act | |
„Alex Swings Oscar Sings“ - ein arschgeweihter Rang, und nicht zu vergessen | |
(oder eher doch) die No Angels, die 2008 nur den 23 Rang einfuhren. | |
Nächsten Freitag tritt Cascada – Natalie Horler und zwei Backing Vocals – | |
auf den Färöer Inseln auf. In einer Mehrzweckhalle wird sie das Archipel | |
zwischen Schottland und Island irgendwie rocken. Das kann sie, das konnten | |
sie auch in Malmö. Stärkster Applaus in der Halle. Aber 18 Punkte – das ist | |
eurovisionär gesehen ein Indiz in Punkten, dass Deutschland momentan in | |
Europa nicht so everybody's darling ist. | |
Man könnte argumentierten: Ein Act, der „Glorious“ heißt und von einer | |
absolut gutgelaunten Frau wie Horler performt wird – den will Europa nicht | |
auch noch belohnt wissen. Es ließe sich sagen: Horler sang – auch, ohne es | |
zu wissen, gegen einen Widerstand namens Angela Merkel an. Das war einfach | |
zuviel – für drei Minuten und für einen Dancetrack, der ohnehin ein | |
Evergreen wird! | |
## Populärstes Unterhaltungsformat | |
Bis zu zehn Millionen Zuschauer guckten den ESC in der ARD, einschließlich | |
aller Grand-Prix-Partys war das eine Menge, die diese Show zum wichtigsten, | |
populärsten Unterhaltungsformat der ARD macht. Mit anderen Worten: Einen | |
glamouröseren Zirkus mit sportlich-olympischen Appeal gibt es nicht. Dass | |
er in den Kreisen der aufgeklärten Mittelschichten nicht so geschätzt wird | |
– geschenkt. Mein Kollege Peter-Philipp Schmitt hat das [3][in einem | |
schönen Text ausgedrückt], was die Crux eigentlich ist. | |
Das ließe sich als Kritik am Hass auf die Kultur der Massen noch fortsetzen | |
– auch als Aversion gegen eine traditionssatte Show, die durch keinen | |
Expertismus überlebte, sondern vor allem und zunächst (über-)lebt durch den | |
Fundus an Queerem, durch das Interesse von, sozusagen, nicht nur national | |
orientierten schwulen Männern und lesbischen Frauen und Transmenschen und | |
ihrer heterosexuellen Freunde (wie etwa [4][Grünenchefin Claudia Roth]). | |
Malmö 2013 – das war mal wieder die queerste Show des | |
Eurovisionskontinents. Alles dabei. In Malmö hat es drei Stunden nach Ende | |
der Sendung angefangen, kühl zu werden - und zu regnen: „Only Teardrops“. | |
19 May 2013 | |
## LINKS | |
[1] http://www.youtube.com/watch?v=VL17Pdghdvo | |
[2] http://www.eurovision.tv/page/history/by-year/contest?event=1773 | |
[3] http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/eurovision-song-contest/eurovision-… | |
[4] http://www.eurovision.de/auf_ein_wort/claudiaroth107.html | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Eurovision Song Contest | |
Malmö | |
Eurovision | |
Schwerpunkt Eurovision Song Contest | |
Dänemark | |
Schwerpunkt Eurovision Song Contest | |
Schwerpunkt Eurovision Song Contest | |
Schwerpunkt Eurovision Song Contest | |
Schwerpunkt Eurovision Song Contest | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
ESC-Kolumne #Queerjungfrauen I: Die allerletzte Ecke | |
„Industrial Chic“: Für den ESC wurde in Kopenhagen eine alte Werfthalle | |
TV-tauglich renoviert. Auch das umliegende Ödland wird tüchtig aufgemöbelt. | |
Nachwehen des Eurovision Song Contest: Wenn Trällern zur Staatsaffäre wird | |
Russland fühlt sich um die Stimmen aus Aserbaidschan betrogen - der | |
Aussenminister tobt. Kritiker mokieren sich über das Engagement des Kremls. | |
Ticker ESC 2013: Dänen lügen nicht | |
Ach ja, Dänemark siegt. Wie erwartet. Die barfüßige Emilie De Forest | |
gewinnt den Eurovision Song Contest. Schön war's. Gute Nacht. | |
Natalie Horler über den ESC: „Wie ’ne türkische Hochzeit hier“ | |
Natalie Horler singt am Samstag Abend beim Eurovision Song Contest für | |
Deutschland. Ein Gespräch über Nervosität und Figurprobleme. | |
Kolumne Melodien aus Malmö #9: Hoffnung mal 26 | |
Es kann nur einen geben, aber 26 wollen dieser eine sein. Hinter- und | |
Vordergründe aller AspirantInnen im Grand Final des Eurovision Song | |
Contest. | |
Kolumne Melodien aus Malmö #8: We are not one | |
In Malmö demonstrieren Menschen gegen das Motto des ESC. Leider etwas | |
links-übellaunig. Und leider am falschen Tag. |