| # taz.de -- Dancefloor von Kalabrese und Coma: Retro kann auch prekär sein | |
| > Ob geschichtsbewusst cool oder jugendlich ungestüm: Neue House-Entwürfe | |
| > aus Zürich von Kalabrese und aus Köln von Coma zeigen den Willen zum | |
| > Weiterfeiern. | |
| Bild: Hat in den richtigen Second-Hand-Plattenkisten gewühlt: Kalabrese. | |
| Es ist kompliziert auf dem Dancefloor der Jetztzeit. Auf unzähligen Tumblr- | |
| und Soundcloud-Accounts wird eine Art von Zukunft zwischen digitaler | |
| Vielfältigkeit, Videospielnostalgie und den glatten Zukunftsentwürfen der | |
| jüngeren Vergangenheit erträumt. Nur auf den Tanzflächen kommt davon selten | |
| etwas an. | |
| Stattdessen herrscht gut 25 Jahre nach dem „Summer of Love“ und der | |
| Erfindung von Acid der Respekt vor der Vergangenheit vor. Retro? Klar. | |
| Manie? Vielleicht. Denn wenn die Archive voll sind, lässt sich kaum | |
| verhindern, dass sich Musiker dort bedienen. | |
| Auch der Schweizer Produzent und DJ Sacha Winkler hat viel Zeit mit dem | |
| Wühlen in überfüllten Plattenkisten verbracht. „Ich habe viele schöne | |
| Ideen“, singt er im reinsten Schwyzerdütsch auf „Independent Dancer“, dem | |
| neuen Album seines Projekts Kalabrese, und dass diese nicht aus dem Nichts | |
| gekommen sind, versteht sich von selbst. Mal spielt Winkler ein gedämpftes | |
| Jazz-Piano, mal zwitschert eine 303-Drum-Machine sanft im Hintergrund, dann | |
| ertönt eine Afrofunk-Gitarre. | |
| Und immer wieder fällt Winkler in die Rhythmen der Zeit zurück, in der | |
| Disco gerade dabei war, sich von der Tanzfläche zu lösen und Anschluss an | |
| Jazz und Post-Punk suchte. | |
| ## Geschichtsbewusst cool | |
| Der „Independent Dancer“ kennt seine Dancefloorgeschichte. Aber anstatt | |
| althipsterlich einen unterkühlten „Ich war dabei“-Gestus an den Tag zu | |
| legen, der ja doch eher ein „Ich habe gelesen, wie das Dabeigewesensein | |
| gewesen sein muss“-Gestus ist, kümmert sich Kalabrese nur wenig um | |
| Chronologien und das fehlerfreie Geheimwissen aus dem | |
| Second-Hand-Plattenladen. | |
| Stattdessen wandelt er mit routiniertem Understatement und ohne Angst vor | |
| Fehltritten auf dem schmalen Grat irgendwo zwischen „Ich bin der König der | |
| Welt“ und der Angst, beim Bierholen ein paar Tropfen über eine fremde Jacke | |
| zu verschütten: Retro kann halt auch eine prekäre Angelegenheit sein. Aber | |
| „Independent Dancer“ ist ein Housealbum aus dem nie geschriebenen Lehrbuch. | |
| Eine entspannte Rekonstruktion afroamerikanischer Musik, die den Dancefloor | |
| nie vergisst, aber nicht angestrengt „deep“ daherkommen will. Wie ein guter | |
| Mix pendelt die Musik zwischen den Stilen, aber kommt niemals | |
| detailversessen daher. | |
| ## Ungestüm und gradlinig | |
| Ungestümer und gradliniger preschen dagegen die beiden jungen Kölner Marius | |
| Bubat und Georg Conrad alias Coma vor. Gut fünf Jahre sind seit ihrem | |
| Livedebüt vergangen und so richtig scheinen sie mit dem Feiern seitdem | |
| nicht aufgehört zu haben. Das könnte man zumindest meinen, wenn man ihr | |
| Debütalbum „In Technicolor“ zum ersten Mal auflegt. „Feeling – alright… | |
| tönt es da aus den Boxen, als wäre der Sommer der Liebe niemals zu Ende | |
| gegangen. Und so geht es weiter. | |
| An einer Stelle erklingen Discofanfaren, an der anderen ein balearisches | |
| Synthesizersäuseln – grenzenloses Wohlgefühl dank hohem | |
| Wiedererkennungswert. Wenn da nicht ein wenig Unschärfe wäre. Schon beim | |
| ersten Durchgang hört man dem Debüt der beiden ihre Indievergangenheit an – | |
| und das darf man ausnahmsweise als Kompliment verstehen. | |
| Strophen und Refrains ihrer Instrumentals tarnen sich zwar als Dancetracks, | |
| können aber niemals verbergen, dass sie später einmal als Popsongs in die | |
| weite Welt hinausmöchten. Die Synthesizer spielen kleine Melodien, die | |
| Bassdrum ist nicht nur auf der Eins, zwischendurch wird ins Mikro gehaucht. | |
| Ein Gemischtwarenhandel aus Stilistiken ist „In Technicolor“ geworden, wenn | |
| man mit dem strengen Ohr des Plattenfachsortierers zuhört. | |
| Aber die Unfertigkeit ist der eigentliche Charme dieses Albums. Anstatt | |
| ihre Loops messerscharf in das Diktat der Software einzupassen, lassen Coma | |
| diese aus dem Ruder laufen und erzeugen so den eigentümlichen Groove, den | |
| man vom alten Post-Punk aus jener Zeit kennt, als Post-Punk noch anders | |
| hieß – nämlich „Fühlt sich super an!“ | |
| Kalabrese: „Independent Dancer“ (Rumpelmusig/Groove Attack) | |
| Coma: „In Technicolor“ (Kompakt) | |
| 24 May 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Werthschulte | |
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