# taz.de -- Kolumne Das Schlagloch: Alles ist vurscht! | |
> Im Internet kursiert viel Quatsch, und es gibt kein Zaubergemüse gegen | |
> Krebs. Aber in der veganen Bewegung ist Platz für Dicke und Dünne, Glatte | |
> und Faltige. | |
Bild: Ja, auch Bio-Zitrusfrüchte können vurscht sein | |
Es gibt endlos viele Argumente für’s [1][Vegan-Sein]. Wir beenden unsere | |
Komplizenschaft mit einem System, das Tiere gnadenlos ausbeutet und | |
milliardenfach tötet; wir schonen die Umwelt; wir machen zumindest einen | |
kleinen Schritt in Richtung einer gerechteren Verteilung von Ressourcen – | |
Land, Wasser, Nahrung – zwischen allen Menschen. | |
Und auch ich persönlich glaube, wie viele andere, dass die vegane | |
Ernährungsweise gesünder ist. Aber ich schreibe nicht ohne Grund, dass | |
ich’s nur glaube. Denn nach allem, was so nach außen dringt, ist die | |
Ernährungswissenschaft eine ähnliche präzise Wissenschaft wie die | |
Wettervorhersage, sprich, es herrscht wildes Raten und Spekulieren. | |
Auf jeden, der meint, dass tierisches Protein die Calciumaufnahme hemmt und | |
dass somit bei Veganern das Osteoporoserisiko sinkt, kommt ein anderer, der | |
umgekehrt meint, man müsse Osteoporose mit Milch vorbeugen. | |
Sowie ein Dritter, der meint, Veganismus lasse blaue Punkte auf der Nase | |
sprießen. – Gut, dann laufe ich halt mit blauen Punkten herum. Aber unser | |
Hauptargument beruht doch zum Glück nicht auf der Bekömmlichkeit dieser | |
oder jener Nahrung! Klar ist Veganismus unheimlich gesund – aber bombenfest | |
erwiesen ist das eben erst für die Tiere, die wir nicht quälen und essen, | |
und nicht [2][für uns Menschen]. | |
## Überall Wundermittel | |
Dennoch gibt es Veganer, denen die erwähnten Vorzüge offenbar nicht genug | |
sind. Es reicht ihnen nicht, die Tiere, die Erde und die Hungernden zu | |
retten. Nein, sie wollen noch höher hinaus, möglichst bis zur | |
Unsterblichkeit. Sie schöpfen Hoffnung aus Fotos von [3][90-jährigen | |
Veganern, die aussehen wie 50]. Gut, die mag es geben, aber unter den fast | |
sieben oder sechs Milliarden Fleischessern wird’s wohl auch welche geben, | |
die mit 90 noch schöne Haut haben. Und wenn die sogar noch schönere Haut | |
haben, essen wir alle dann wieder tote Tiere? | |
Wenn ich rekapituliere, was [4][für Wundermittel] gegen Krebs mir in den | |
letzten Monaten auf veganen Facebook-Seiten angepriesen wurden, könnte man | |
meinen, dass Veganer überhaupt nie sterben. Denn irgendetwas, das sie | |
verzehren, wunderheilt doch immer. Gefrorene Zitronen („einfach nur | |
bisschen was übers Essen reiben“), aber auch alles, was aus dem heimischen | |
Garten kommt, was man von einem Baum abschneiden kann und irgendwie grün | |
ist. | |
Im Grunde muss man auch nur ganz wenig Zaubergemüse essen, es besitzt ja | |
unglaublich viel Nährwert. Neulich las ich, Gurken enthielten 50 Prozent | |
und Tomaten 40 Prozent Eiweiß. Da wagen es Schulmediziner doch tatsächlich | |
zu denken, Gurken bestünden vor allem aus Wasser! In den Delirien | |
rohköstlicher Esoterik weiß man es besser. | |
## Selbst schuld am Krebs? | |
Dieses Hochloben von Wundernahrung ist eine Frechheit angesichts von | |
Krebskranken, die sich tapfer von Chemotherapie zu Chemotherapie mühen und | |
damit einen Lebenswillen beweisen, von denen wir Gesunden nicht einmal | |
ahnen. Sind sie selbst schuld an ihrem Krebs, weil sie nicht immer | |
gefrorene Zitrone parat hatten? Oder müssen wir nicht letztlich alle | |
dieselbe bittere Pille schlucken: Wir Menschen sind verletzliche und | |
potentiell gebrechliche Wesen. | |
Auch noch gesunde Veganer werden Knieschmerzen haben, Hüftoperationen, | |
Schlaganfälle, Herzinfarkte. Irgendwelche körperlichen Funktionen lassen | |
bei jedem mit dem Alter nach, und an irgendetwas werden wir schließlich | |
sterben. Keine schöne Vorstellung. | |
Aber warum können wir nicht schon jetzt eingestehen, dass auch wir | |
selbstverständlich nicht die volle Kontrolle über unsere Körper haben – | |
ganz gleich, was wir essen, ganz gleich, wie wir turnen? Lebewesen kommen | |
auf die Welt, wachsen heran, siechen und sterben. | |
Es ist doch nicht Ablehnung der Biologie um uns herum und der eigenen | |
Körper, die uns hat vegan werden lassen, sondern gerade die Verbundenheit | |
mit anderen Tieren. Wir sind mit ihnen verwandt und teilen mit ihnen, dass | |
wir körperliche Wesen sind und Körper eben verletzlich und vergänglich. | |
Übrigens: Diese Körper werden auch runder. Weicher. Ach was, ich trau mich, | |
das böse Wort auszusprechen: dicker! Jawohl, nicht alle, aber viele | |
menschliche Körper legen bei guter Ernährungslage und zunehmendem Alter | |
Fettreserven an. Fett ist der neue Dracula: Manche Leute müssen sich eine | |
Fettzelle nur vorstellen und fangen schon an, sich zu fürchten! | |
Aber es ist nicht böse, dick zu sein. Ich zum Beispiel bin gerne so | |
großzügig gepolstert; ich mag, wie es aussieht und wie es sich anfühlt. | |
Ganz nebenbei laufe ich damit als Werbung für das leckere vegane Essen | |
durch die Gegend, und immerhin sind es ja ehrlich erworbene Pfunde. | |
## Veganismus für alle | |
Womit ich nicht sagen will, dass sich jetzt alle mehr anfuttern sollen – | |
sondern dass es schlicht wurscht ist, welches äußere Format Veganer haben. | |
Vurscht! In der veganen Bewegung (und auch sonst) ist Platz für Dicke und | |
Dünne, Glatte und Faltige, Bewegliche und Couch-Potatoes – auch für | |
Zitronen und proteinreiche Tomaten natürlich. Nur halt nicht für Lookism | |
und Ageism! Die, nebenbei bemerkt, in perfektem Einklang mit der | |
kapitalistischen Logik stehen, die die Ausbeutung der Tiere perfektioniert | |
hat. | |
Mit das Schönste am ethischen Veganismus ist für mich, dass sich in ihm so | |
viele progressive Anliegen kreuzen: Veganismus ist eben nicht Engagement | |
für’s Tier – und dabei gegen den Menschen. Oder nur für ein paar Menschen, | |
dann aber auf Kosten der Umwelt. Oder nur zum Schutz der Umwelt, aber zu | |
Ungunsten mancher Tiere (die angeblich zu dieser Umwelt nicht passen). | |
Beim Veganismus kommt alles zusammen, und während man das eine tut, muss | |
man sich das andere nicht vorwerfen. Wieso sollten wir diese schier | |
einmalige Position verlassen? Wieso sich in unnötige Komplizenschaft mit | |
anderen Formen des Ausschlusses – von Älteren, Dickeren, Kränkeren – | |
begeben? Wieso nicht bei der Grundaussage bleiben: Wir Menschen sind auch | |
Tiere. Wir wollen mit anderen Tieren möglichst verträglich und gewaltfrei | |
leben. Wir wollen leben und leben lassen. | |
5 Jun 2013 | |
## LINKS | |
[1] /!78704/ | |
[2] /!100760/ | |
[3] http://youtu.be/VdeC3OJJIzA | |
[4] http://veganraw.wordpress.com/die-breuss-kur-eine-saftkur-gegen-krebs/ | |
## AUTOREN | |
Hilal Sezgin | |
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