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# taz.de -- Kolumne Schlagloch: Der Wille zum Korrektiv
> NSA und NSU zeigen, wie unangebracht es ist, „unserem“ Staat zu
> vertrauen. Denn er schützt uns nicht mehr. Es gilt, auf Distanz zu gehen.
Bild: Im Schatten: All diese Beamten sind letztlich da, um die Bürger zu schü…
Nachdem ihm von den USA die Einreise verwehrt wurde, äußerte Ilja Trojanow
in einem [1][Interview die bemerkenswerten Sätze]: „Ich möchte mit dieser
Bundesregierung gar nichts zu tun haben. Sie ist so völlig unsensibel
gegenüber Bürgerrechten und Freiheitsrechten. Sie vertritt mich nicht, und
deswegen will ich sie auch zu nichts auffordern.“
Das Bemerkenswerte daran ist, dass Trojanow die Bundesregierung nicht nur
scharf kritisiert, sondern er wirft die Frage auf, ob sich unsere Regierung
nicht vielleicht so weit davon entfernt hat, ihre Verantwortung
wahrzunehmen, dass sie auch an Legitimation verloren hat. Zumindest laut
diesen Sätzen ist sie gar nicht mehr seine Regierung.
Ich habe in den letzten Monaten Ähnliches gedacht, aber nicht anlässlich
des NSA-, sondern des NSU-Skandals. In den letzten zwei Jahren haben wir
die größten Ungeheuerlichkeiten über den Umgang unseres Staates mit diesen
rechtsextremen Mördern erlebt; im Laufe des Prozesses werden sie nochmals
vor aller Augen aufgerollt.
Wir bekommen dabei nicht nur das völlige Versagen der
Verfassungsschutzbehörden vorgeführt, sondern auch der Kriminalpolizei, der
Staatsanwaltschaften, der Innenministerien etlicher Länder und des Bundes.
Der einzelne Kripobeamte hat nach Kräften Hinweise überhört und
Zusammenhänge übersehen, so wie der Verfassungsschutzbeamte V-Leute bezahlt
und Akten geschreddert hat. Auf jeder Ebene half jeder nach Kräften – nur
nicht den Angehörigen der Opfer.
All diese Beamten sind ja letztlich da, um uns, die Bürger, zu schützen.
Aber sie schützen uns nicht. Dass diese Erkenntnis bei vielen im Lande
anscheinend noch nicht mit voller Wucht angekommen ist, liegt vielleicht
daran, dass sie sich relativ sicher fühlen: Schließlich hat die NSU nur
„Ausländer“ umgebracht. Auch die im Dresdner Gerichtssaal erstochene Marwa
El Sherbini war „von woanders“, und sie trug Kopftuch. Solange ich nicht
Kopftuch trage und nicht Marwa, sondern Maria heiße, bin ich sicher – das
scheint ein verbreiteter Umkehrschluss.
Das ist erstens eine höchst egoistische Sicht auf die Sache, und zweitens
ist sie falsch. Die Kette von NSU-Skandalen betrifft uns alle ebenso wie
der Skandal, dass die NSA uns abhört. Denn jeder Einschnitt in die
Freiheitsrechte muss durch ein gewaltiges Plus an Sicherheit ausgeglichen
werden. Doch dieser Staat erlaubt nahezu alle NSA-Aktivitäten und bietet
kaum Anti-NSU-Aktivitäten auf. Das ganze Sicherheitssystem dieses Staates
ist völlig aus dem Gleichgewicht, der Staat hält sein Versprechen gegenüber
uns BürgerInnen nicht.
## Auf der Liste der Verluste
Man sollte sich auch erinnern, dass das Versprechen dieses Schutzes exakt
das ist, was das staatliche Gewaltmonopol überhaupt erst begründet:
BürgerInnen verpflichten sich, nicht selbst zur Waffe zu greifen, weil die
Einhaltung der Gesetze von den staatlichen Justiz- und Exekutivorganen
gewährt oder wenigstens ihre Verletzung verfolgt wird. Genau darauf können
wir uns aber leider nicht verlassen: dass rassistisch motivierten
Gewaltverbrechen auch nur ansatzweise unvoreingenommen, sorgfältig
nachgegangen wird. Eher können wir uns darauf verlassen, dass die Täter als
V-Männer durch Gelder aus einem Landeshaushalt unterstützt werden.
Ein zweiter legitimatorischer Pfeiler dieser Demokratie hat übrigens
ebenfalls an Kraft verloren: Der Sozialstaat, der einen Ausgleich für die
Macht der Wirtschaft schaffen soll, ist der achselzuckenden Erkenntnis
gewichen, dass sich jeder um seine Rente und die Qualität seiner
Gesundheitsversorgung selbst kümmern muss. Zusatzversicherungen sind das
Gebot der Stunde. Vielleicht werden bald auch Zusatzversicherungen für die
Aufklärung von Gewaltverbrechen angeboten: „Ihr Sohn wurde erschossen, und
die Polizei arbeitet nicht ordentlich? Wir übernehmen Ihre Detektivkosten!“
Drittens: Das Wahlrecht, das im besten republikanischen Sinne gewährleisten
soll, dass diejenigen, die von den Gesetzen regiert werden, diese auch
mitverfassen, ist nach wie vor 6 bis 8 Prozent der hier dauerhaft
ansässigen, aber nicht hier geborenen Menschen vorenthalten. Hier ist
Demokratie nicht einmal im formalen Sinne voll verwirklicht (von weiteren
Problemen wie dem Lobbyismus ganz abgesehen).
## Zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Möglicherweise werden einige Grüne nun nicken und denken: Prima, wir haben
ja die Abschaffung des Verfassungsschutzes in unser Programm aufgenommen
und immerhin auch das kommunale Ausländerwahlrecht. Aber es geht nicht nur
um das, was im Programm steht; es geht auch um die Nähe oder Distanz, die
man zu diesem Staat und seinen Institutionen annimmt.
Zugegeben: Es gibt keine perfekte Demokratie; jede real existierende
Demokratie ist nur eine Station auf der weiten Skala zwischen Anspruch und
Wirklichkeit. Aber wenn sich die Wirklichkeit eines Staates zu weit von
seinem Anspruch entfernt, handelt er sich Legitimationsverluste ein. Und
die Bundesrepublik im Jahr 2013 leidet unter deutlichen
Legitimationsdefiziten. Wie Trojanow sagt: Diese Regierung – nein,
überhaupt viele staatliche Institutionen dürfen gar nicht mehr mit vollem
Recht behaupten, unsere Regierungs- und Staatsorgane zu sein.
Vor diesem Hintergrund sollten die Grünen aufhören, mit einer
Regierungsbeteiligung zu liebäugeln. Es reicht nicht, sich darauf
auszuruhen, was in den eigenen Programmen steht; sondern es geht darum, wie
viel Vertrauen man haben darf, dass das bisherige System trotz aller Fehler
irgendwie funktioniert. In den letzten Jahren haben sich viele Grüne und
Alternative dem Establishment dieses Landes angenähert in der nicht
unberechtigten Hoffnung, am Regieren teilzuhaben und auf diesem Wege etwas
zu verändern.
Meiner Meinung nach tut momentan weniger der Wunsch zum Mitmachen Not,
sondern der Willen zum Korrektiv und eine Opposition, die diese Bezeichnung
verdient, sind wichtig. Hinterfragen, enthüllen, herausfordern, stören: Die
Zeit des Dazugehörens mag wiederkommen; aber erst einmal ist sie zu Ende.
9 Oct 2013
## LINKS
[1] http://www.zeit.de/kultur/literatur/2013-10/Trojanow-Einreise-USA-Verbot
## AUTOREN
Hilal Sezgin
## TAGS
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