# taz.de -- Stiller Protest in türkischen Städten: Bis hierher und nicht weit… | |
> Die Regierung bezeichnet sie als „Terroristen“. Die reagieren mit | |
> schweigendem Protest: Sie bleiben einfach stehen – stumm, reglos, | |
> stundenlang. | |
Bild: Stiller Protest auf dem Taksim-Platz in Istanbul. | |
ISTANBUL taz | Es ist acht Uhr abends in einem kleinen Park am Bosporus. | |
Ungefähr zehn Menschen, die Zahl wechselt in den kommenden Stunden immer | |
wieder, stehen stumm und regungslos da und schauen aufs Wasser. Sie haben | |
keine Plakate in der Hand, sie rufen keine Slogans, und doch weiß sofort | |
jeder, worum es geht. | |
Sie sind die „duran adam“, stehende Menschen im stillen Protest gegen die | |
Polizeigewalt, die Repression und Ignoranz einer Regierung, die sich nicht | |
entblödet, einen „Sieg“ über die Protestbewegung der letzten drei Wochen … | |
verkünden, nur weil es ihrer Polizei gelungen ist, lautstarke | |
Demonstrationen vorerst zu unterdrücken. | |
Sie machen aus der von oben verordneten Stille ein neues Programm. Tausende | |
Menschen in Istanbul, in Ankara, in Izmir bevölkern tagsüber, vor allem | |
aber am Abend die Plätze des Landes im stummen Protest. Allein auf dem | |
Taksimplatz, dem zuvor so erbittert umkämpften Zentrum Istanbuls, waren es | |
Hunderte. | |
## Atatürk im Blick | |
Sie stehen still nebeneinander, das Gesicht einem großen Transparent des | |
Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk zugewandt, das von der Fassade des | |
Atatürk-Kulturzentrums hängt – jenem Kulturzentrum, das die Polizei bei | |
ihrem Sturm des Taksimplatzes am Mittwoch letzter Woche gewaltsam von | |
Künstlern geräumt hatte. | |
Einer dieser Künstler, der Tänzer und Choreograf Erdem Gündüz, hatte am | |
Montag mit dem stummen Protest begonnen. Die Hände in den Hosentaschen, | |
einen kleinen Rucksack auf dem Rücken, stand er Stunde um Stunde auf dem | |
Taksimplatz und schaute auf das Atatürk-Transparent, das ironischerweise | |
von der Polizei dort aufgehängt worden war. | |
Am Anfang fiel er niemandem auf, schließlich wurden aber mehr und mehr | |
Menschen auf den „duran adam“, den stehenden Menschen, aufmerksam. Die | |
Polizei kam, zerrte an seinem Rucksack, konnte aber außer ein paar Papieren | |
nichts entdecken, was „polizeiliche Maßnahmen“ gerechtfertigt hätte. Der | |
„stehenden Mann“ wurde in kürzester Zeit zum Hit in den sozialen | |
Netzwerken. Per Livestream war bald zu sehen, wie sich immer mehr Menschen | |
zu ihm stellten, alle im stillen Protest. | |
## Da war „duran adam“ schon in der Welt | |
Bis die Polizei dann doch um 2 Uhr morgens eingriff und 15 stumme | |
Protestler vorübergehend festnahm. Aber da war Erdem Gündüz schon gegangen. | |
Seine Idee war in der Welt. Der Hashtag „duranadam“ wurde weltweit 1,5 | |
Millionen Mal angeklickt. | |
Die Regierung ist gegen diese neue Form des Protestes zunächst einmal | |
hilflos. Die Festgenommenen mussten bald wieder freigelassen werden. „Noch | |
ist still und stumm Stehen nicht verboten“, sagte der Vorsitzende der | |
türkische Rechtsanwaltskammer, Metin Feyzioglu. „Man kann schwerlich eine | |
humanere und demokratischere Form des Protests finden, als still und stumm | |
zu stehen.“ | |
Auch Innenminister Muammar Güler musste in einem etwas gequälten Statement | |
zugeben, dass alle Aufrüstung der Polizei, die sein Chef, Ministerpräsident | |
Erdogan, gerade angekündigt hatte, nichts dagegen ausrichten kann. „Solange | |
der Verkehr nicht behindert wird und die Bewegungsfreiheit anderer an | |
öffentlichen Plätzen nicht eingeschränkt wird, können wir nichts machen“, | |
sagte er. | |
Doch der stille Protest ist nicht alles, mit dem die türkische | |
Demokratiebewegung zeigt, dass Erdogan sie keinesfalls „besiegt“ hat. Seit | |
Montag finden täglich ab 21 Uhr in verschiedenen Parks Istanbuls | |
Bürgerversammlungen, sogenannte Foren statt, auf denen über die Zukunft des | |
Protests beraten wird. | |
## Demokratie im Amphitheater | |
Am Dienstagabend hatten sich in einem kleinen Park in Besiktas, einem | |
Stadtteil, der neben dem Taksimplatz über Tage im Zentrum des Protests | |
stand, um die 2.000 Menschen versammelt. Der Park liegt mitten in einem | |
Wohngebiet an einem Hang. In den Hang ist ein kleines Amphitheater gebaut, | |
in dem zu normalen Zeiten vielleicht 500 Leute Platz finden. | |
Jetzt ist der gesamte Park voller Leute, viele können die Redner am Grund | |
des Theaters gar nicht sehen. Trotz des Gedränges ist es so still, dass es | |
gelingt, sich ohne Mikrofon zu verständigen. Einer plädiert dafür, endlich | |
etwas gegen die Homosexuellenphobie zu tun, ein anderer will die | |
Protestbewegung besser in den weltweiten antikapitalistischen Kampf | |
einordnen. | |
Am meisten Beifall erhält eine Frau, die fordert, man solle über praktische | |
Boykottmaßnahmen nachdenken. Beifall bedeutet hocherhobene Arme, Ablehnung | |
gekreuzte Arme. So muss Demokratie im alten Athen ausgesehen haben, nur | |
dass im Park in Besiktas mehr als die Hälfte der Teilnehmer am Forum Frauen | |
sind. | |
19 Jun 2013 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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