| # taz.de -- Schwule im Nationalsozialismus: Wenn alle tot sind, darf man das | |
| > Christine Lieberknecht (CDU) lud zu einem „Gedenkakt“ zum 100. Geburtstag | |
| > Rudolf Brazdas ein – der erste für ein schwules Opfer in der NS-Zeit. | |
| Bild: Vor knapp zwei Jahren starb der letzte Rosa-Winkel-Häftling Rudolf Brazd… | |
| WEIMAR taz | Nach flüchtigem Blick wirkte diese Einladung zumindest leicht | |
| bizarr: Christine Lieberknecht, Ministerpräsidentin von Thüringen, bittet | |
| zum 23. Juni um 17 Uhr zu einem Gedenkakt für Rudolf Brazda. | |
| Das war in dreierlei Hinsicht erstaunlich: Thüringen war das einzige der | |
| Nach-DDR-Bundesländer, das vor gut zehn Jahren an der Seite Bayerns und | |
| Baden-Württembergs mit stark konservativer Geste nach Karlsruhe zog, um das | |
| frisch beschlossene grün-rote Gesetz zur Eingetragenen Lebenspartnerschaft | |
| für grundgesetzwidrig erklären zu lassen. | |
| Zweitens fiel jüngst diese Ministerpräsidentin durch ein paar | |
| homofreundliche Worte in der Zeit auf. Und drittens ist der Ort nicht nur | |
| ein funktionierendes Theater in der Stadt deutscher Klassik, sondern auch | |
| jener, von dem die Weimarer Verfassung verkündet wurde. | |
| An einem, topografisch gesehen, der wichtigsten Erinnerungsorte des guten | |
| demokratischen Deutschlands wurde nun des letzten der Überlebenden des | |
| nationalsozialistischen Terrors gegen homosexuelle Männer gedacht. | |
| ## Traditionskonservative Stirnrunzeleien | |
| Woran es auch lag, dass die Ministerpäsidentin die traditionskonservativen | |
| Stirnrunzeleien ob des Gedenkens an einen schwulen, im Konzentrationslager | |
| Buchenwald inhaftierten Deutschen zur Seite schob: Die Idee muss ihr im | |
| Frühjahr vorigen Jahres gekommen sein, als Jörg Litwinschuh als Vorstand | |
| der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld in Lieberknechts Büro in Erfurt seine | |
| Aufwartung machte. | |
| Lieberknecht, die ihren Posten auch gegen die stramm konservative | |
| Nomenklatur um ihren Vorgänger Dieter Althaus gewann, wollte offenbar, was | |
| seit Jahrzehnten überfällig war. | |
| Ein Gedenken an jene Opfergruppe des Nationalsozialismus zu ermöglichen, | |
| die von allen Parteien wie von allen offiziellen Antifaorganisationen der | |
| Nachkriegszeit wie Schmuddelkinder nicht nur gemieden wurde. Nein, gegen | |
| CDU und CSU, gegen die SPD und auch gegen die Vereinigung der Verfolgten | |
| des Naziregimes und andere musste überhaupt erst die Erkenntnis | |
| durchgesetzt werden, dass schwule Männer im Nationalsozialismus nicht zu | |
| Recht verfolgt wurden. | |
| Es ist dieser Umstand, der während der knapp zweistündigen Feier als | |
| einziger unerwähnt blieb – es ist der wichtigste: Freiwillig hat sich, ehe | |
| sich die Grünen etablierten, niemand aus der politischen Elite der | |
| Bundesrepublik mit der schwulen Erbschaft des Landes befassen wollen. | |
| ## Schwule in der Vergangenheitspolitik | |
| Es fehlte, sowohl von der Ministerpräsidentin wie von der Justizministerin | |
| Sabine Leutheusser-Schnarrenberger als auch von Volkhard Knigge, Leiter der | |
| Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, dieser Befund: dass | |
| den schwulen Bürgern in diesem Land, gerade was die Vergangenheitspolitik | |
| anbetrifft, wirklich nichts geschenkt worden ist. | |
| Natürlich, wenn die Ministerpräsidentin ruft, bleibt sie nicht allein. Im | |
| Nationaltheater von Weimar begrüßte sie denn auch die | |
| Bundesjustizministerin, Staatssekretäre ihres Landes, Abgeordnete und eben | |
| Knigge – selbstverständlich musste sie nicht erwähnen, dass in ihrem | |
| Erfurter Regierungsgehege nicht alle damit einverstanden waren, | |
| ausgerechnet für die warmen Brüder einen Gedenkakt auszurichten. | |
| Das, um es einmal so zu bezeichnen, herzlose Mittelelitengesindel in der | |
| thüringischen Hauptstadt war nicht einmal, dem Vernehmen nach, bereit, | |
| Stolz zu zeigen: dass Thüringen den ersten Staatsakt überhaupt in der | |
| bundesdeutschen Geschichte auszurichten bereit war für seine schwulen | |
| Bürger, für ihre Vorfahren, die bis 1969 (bundesdeutsch) nach Nazirecht | |
| verfolgt wurden und bis 1945 unter steter Drohung leben mussten, in einem | |
| Konzentrationslager zu Tode gebracht zu werden. | |
| ## Irritierendes Empowerment | |
| Womöglich kommt es auf die Perspektive an: Soll man schon erfreut sein, | |
| dass Thüringen mit seiner Ministerpräsidentin die Chance zum modernen | |
| bürgerlichen Selbstbewusstsein ergriff – Schwule, die gehören zu uns, klar! | |
| –, dass die Justizministerin Gutes gelobte, dass der Gedenkstättenleiter | |
| Knigge den schönen Satz sagte: „Es bleibt beschädigte Gerechtigkeit, und | |
| das sollte uns anstacheln“? | |
| Ist diese Form des Empowerments nicht auch deshalb unangenehm irritierend, | |
| da mit Rudolf Brazda vor knapp zwei Jahren der letzte der | |
| Rosa-Winkel-Häftlinge starb? | |
| Die Ministerpräsidentin bedankte sich bei den Familienangehörigen Brazdas, | |
| die eigens nach Weimar gekommen waren, bei Jean-Luc Schwab von der | |
| elsässischen Initiative der vergessenen NS-Opfer, bei Alexander Zinn, der | |
| sich um den lebensfrohen Rudolf Brazda bis zu dessen Tode kümmerte und eine | |
| Biografie über ihn verfasste, ja, sie machte auf ihre Art alles richtig. | |
| 500 Leute saßen im Nationaltheater – und den fettesten Beifall spendeten | |
| sie für Verfassungsrichterin Susanne Baer, die extra gekommen war: Das war | |
| Beifall für die Repräsentantin des Grundgesetzes – Karlsruhe hat | |
| wesentliche Teile der Entdiskriminierung Homosexueller in den vergangenen | |
| Jahren stark befördert. | |
| ## Altmaier kam dann doch nicht | |
| Nichts also lief falsch. Die Staatskapelle Weimar spielte drei Stücke, | |
| eines von Beethoven und zweimal Mozart, auf der Bühne prunkte es | |
| Schwarz-Rot-Gold von deutscher Flagge, die thüringische gleich daneben, | |
| ebenso die der Europäischen Union. Es hatte seine Würde, wenn man so will – | |
| wenn alle, um die es geht, tot sind, darf, böse gesprochen, fein gewürdelt | |
| werden. Aber, Knigges Wort ernst genommen, diese Feier soll auch der | |
| Anstachelung nützlich sein. | |
| Nur, für was? Lieberknecht sagte nichts darüber, dass ihre Partei nun | |
| gewiss alle letzten Hürden zur Ungleichbehandlung homosexueller Paare | |
| beseitigen werde. Und: Wird es an thüringischen Schulen nun Unterricht zum | |
| Tyrannei der Homophoben geben? | |
| Und schließlich: Lieberknecht war schon eine Gute. Aber weshalb hat | |
| eigentlich Angela Merkel nicht gesprochen? Und warum war erst | |
| Umweltminister Peter Altmaier seitens des Unionsteils der Bundesregierung | |
| angekündigt – und kam dann doch nicht? | |
| Noch liegt allzu viel konservierender Mehltau auf den Gemütern so vieler. | |
| Denn: Wo war, von Volker Beck abgesehen, die Politprominenz aus Berlin? | |
| 25 Jun 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Jan Feddersen | |
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