# taz.de -- Yael Bartanas Kunstaktion in Köln: Holocaust für alle | |
> Vertriebene Schlesier, bedrohte Migranten: Die Aktion „Zwei Minuten | |
> Stillstand“ verwandelt Holocaust-Gedenken in ein europäisches | |
> Wohlfühlprojekt. | |
Bild: Yael Bartanas „Trembling Time“ in Köln | |
Zwei Minuten lang heult die Sirene, und ebenso lange kommt das öffentliche | |
Leben vollständig zum Erliegen. Autofahrer halten mitten auf der Straße an | |
und verlassen ihre Fahrzeuge, Fußgänger bleiben stehen, wo sie sich gerade | |
befinden. Das ganze Land hält inne für einen Moment der Introspektion und | |
der Erinnerung an die Toten. | |
Seit 1959 wird in Israel der Jom HaSchoah, der Holocaust-Gedenktag, | |
begangen, der dem Modell des Gedenktags für die gefallenen Soldaten folgt. | |
Im Zentrum beider Gedenktage, die seitens der arabischen und der | |
jüdisch-orthodoxen Israelis nicht unumstritten sind, steht ein bewegender | |
Augenblick, der persönliche und kollektive Gefühle aufruft. | |
[1][Yael Bartana] will diese Zeremonie nun an einem ganz anderen Ort | |
stattfinden lassen. „Zwei Minuten Stillstand“ nennt sich das Projekt der | |
international renommierten, aus Israel stammenden Künstlerin im Rahmen der | |
[2][Impulse Theater Biennale]. Am 28. Juni sollen die Bewohner Kölns zwei | |
Minuten lang stillstehen, wenn die Sirenen heulen. | |
Die Organisatoren verstehen das Projekt als „politischen Akt, als soziale | |
Skulptur und kollektive Performance im öffentlichen Raum der Stadt Köln“, | |
das die Bevölkerung dazu aufrufen soll, „die Gegenwart zu reflektieren, | |
über die Geschichte nachzudenken und über unsere Zukunft“. Bartana will in | |
Köln einen neuen Gedenktag etablieren, der dem israelischen | |
Schoah-Gedenktag gleicht, aber von etwas anderem handelt. | |
## Globale Kettenreaktionen | |
Nationalsozialismus und Holocaust hätten „langfristige globale | |
Kettenreaktionen bis in unsere Gegenwart hinein“ erzeugt, heißt es in der | |
Ankündigung der Aktion. Die Kölner sollen in einem Holocaustgedenkritual | |
nun der Nakba gedenken, der Vertreibung der arabischen Bevölkerung aus den | |
von der jüdischen Hagana eroberten Gebieten, als die arabischen Staaten | |
1948 angriffen, um einen jüdischen Staat zu verhindern. Gedacht werden soll | |
zugleich, so will es die Künstlerin, der Opfer des NSU und der nach 1945 | |
vertriebenen Schlesier. | |
Es ist nicht das erste Mal, dass die 43-jährige Künstlerin spezifische | |
kulturelle Traditionen und Ereignisse aus ihrem Kontext reißt und sie in | |
einen neuen hineinstellt. 2001 hatte Bartana in einer Videoarbeit Aufnahmen | |
vom israelischen Holocaust-Gedenktag noch für sich selbst sprechen lassen. | |
Doch seit einigen Jahren hat sie ihre dokumentarischen Arbeiten zugunsten | |
inszenierter Filme aufgegeben. Seitdem ist sie zum Inbegriff der | |
„kritischen“ israelischen Künstlerin geworden und hat bei zahlreichen | |
bedeutenden Großereignissen des internationalen Kunstbetriebs ihre Arbeiten | |
gezeigt. | |
Berühmt geworden ist Bartana mit der Film-Trilogie „… and Europe will be | |
stunned“, auf Deutsch: „… und Europa wird verblüfft sein“. Deren erster | |
Teil trägt den polnischen Titel „Mary Koszmary“. Er wurde 2011 im | |
polnischen Pavillon der Biennale in Venedig gezeigt. | |
## Juden zurück nach Polen | |
Im Film ist ein junger Mann in einer an die kommunistischen Pioniere | |
erinnernden Uniform zu sehen. Er hält in einem leeren Warschauer Stadion | |
eine dramatische Rede. Darin ruft er 3,3 Millionen Juden auf, nach Polen | |
zurückzukehren. Die Zahl bezieht sich auf die ungefähr 3,3 Millionen Juden, | |
die vor 1939 in Polen gelebt haben, wie auf die ungefähr 3 Millionen | |
jüdischen Polen, die vom nationalsozialistischen Deutschland ermordet | |
wurden. | |
Polen, so scheint es, war vor 1939 ein multikulturelles Himmelreich, dann | |
ist daraus ein trauriger, degenerierter, erst kommunistischer, dann | |
nationalistischer, antisemitischer, kulturell homogener Ort geworden. | |
„Mary Koszmary“ war ein gewagter Film, der sowohl das polnische als auch | |
das israelische Publikum provozierte. Er nahm auf die erst zögerlich | |
beginnende Auseinandersetzung der polnischen Gesellschaft mit ihrem | |
eingeübten Geschichtsbild Bezug, das auf einer Konkurrenz der Opfer beruhte | |
und eigenen Antisemitismus historisch ausblendete. | |
In Israel korrespondierte der Film mit dem Ansatz der „Neuen Historiker“, | |
die seit Ende der achtziger Jahre die offizielle zionistische | |
Geschichtsschreibung einer kritischen Revision unterzogen. | |
## Die Avantgarde der Rückkehr | |
Parallel zum Film „Mary Koszmary“, der die so propagandistische wie | |
revolutionäre Filmästhetik Leni Riefenstahls zitiert, hat Yael Bartana eine | |
fiktive Bewegung namens [3][Jewish Renaissance Movement] (JRMiP) in Poland | |
gegründet, die sich als Avantgarde der Rückkehr der Juden nach Polen | |
präsentiert. Es ist klar, woher die Rückkehrer kommen sollen: aus Israel. | |
Lasst uns, so lautet der Vorschlag Bartanas, die Probleme der europäischen | |
Vergangenheit und der nahöstlichen Gegenwart lösen, indem wir die Waage zum | |
Ausgleich bringen: Drei Millionen Lebende für drei Millionen Tote. „Was ist | |
absurder, die Rückkehr nach Polen oder die Rückkehr nach Palästina?“, | |
fragte Bartana rhetorisch in einem Interview. Die Frage ist nur berechtigt, | |
wenn man den Zionismus als abstrakte Idee missversteht. Sie hat keinen | |
Sinn, wenn man seine konkrete Geschichte betrachtet. | |
Im zweiten Teil von Bartanas Trilogie, „Mur i wieza“ („Mauer und Turm“) | |
antwortet eine Gruppe israelischer Jugendlicher auf den Ruf des Führers der | |
JRMiP. In ihren Pionieruniformen errichten sie im Zentrum Warschaus eine | |
Siedlung gemäß dem von den Zionisten entwickelten Modell von „Mauer und | |
Turm“. Altes osmanisches Recht nutzend, schufen die Zionisten Fakten, indem | |
sie ein Netzwerk von Ansiedlungen im britischen Mandatsgebiet Palästina | |
bauten. | |
Die meisten der zionistischen Siedler waren junge Juden aus Europa, die | |
nach 1933, nach Erlass der Nürnberger Gesetze und nach dem Überfall auf | |
Polen nach Palästina flüchteten. Die Siedlung der JRMiP, deren Errichtung | |
Bartanas Film zeigt, liegt gegenüber dem Denkmal für die Aufständischen im | |
Warschauer Ghetto. | |
## „Sie kämpften für ein sozialistisches Polen“ | |
Anders als diese plumpe Parallelisierung suggeriert, hat die Idee der | |
„Rückkehr“ der Juden nach Polen einen konkreten geschichtlichen | |
Resonanzboden: und zwar in der Person von Marek Edelman, der vor dem | |
Zweiten Weltkrieg Aktivist des sozialdemokratischen „Algemeynen Yidishen | |
Arbeter Bunds in Lite, Poyln un Rusland“, kurz Bund, war. | |
Edelman war auch einer der Anführer des Warschauer Ghetto-Aufstands von | |
1943 und später am Warschauer Aufstand von 1944 beteiligt. Nach dem Krieg | |
blieb er in Polen und arbeitete als Kardiologe. Er schrieb: „Weder warteten | |
die Bundisten auf den Messias noch wollten sie nach Palästina gehen. Sie | |
kämpften für ein sozialistisches Polen, in dem jede Nationalität kulturelle | |
Autonomie erhalten würde.“ | |
Erwähnt wird er zwar nirgends im Werk Bartanas, und doch ist Marek Edelman | |
die heimliche Blaupause der Künstlerin. Von heute aus betrachtet sieht | |
Edelmans jüdisch-sozialdemokratische Vision zweifellos progressiver und | |
einleuchtender aus als die Idee, nach zweitausend Jahren Israel als Staat | |
wiederzuerrichten. Bartana stellt zur Debatte, ob eine diasporische | |
jüdische Existenz heute möglicherweise die bessere Lebensform ist. | |
Trotzdem sollte man wissen, dass die Position der Bundisten, die Bartana | |
als geheime Referenz dient, historisch irrelevant geworden war. Während die | |
Zionisten das moderne Israel vorbereiteten, wurden viele der Bundisten in | |
den Vernichtungslagern der Nazis ermordet, starben als Rotarmisten oder | |
wurden nach dem Krieg in den Gulag geschickt. | |
## Der Zionismus ist Ergebnis einer „Sehnsucht“ | |
Im Katalog zu Bartanas Trilogie mit dem Titel „A Cook Book for Political | |
Imagination“ wird die fundierte Kritik am Zionismus der Neuen Historiker | |
auf eine merkwürdige Formel geschrumpft: Der Zionismus, so ist dort in | |
immer neuen Variationen zu lesen, sei Ergebnis einer „Sehnsucht“, eines | |
„Verlangens“ nach Rückkehr, nach einem Zuhause gewesen. | |
Aber steht im Zentrum des jüdischen nationalen Projekts tatsächlich eine | |
„Sehnsucht nach Palästina“, oder war es nicht vielmehr ein pragmatisches | |
politisches Projekt, das aus guten Gründen die Idee entwickelte, nur in | |
einem eigenen Land seien die Juden vor dem sich radikalisierenden | |
Antisemitismus in Europa sicher? | |
Auch Bartanas aktuelles Projekt in Köln nimmt es mit geschichtlichen und | |
sonstigen Zusammenhängen nicht so genau. „Zwei Minuten Stillstand“ fordere | |
uns dazu auf, darüber nachzudenken, „was es heute bedeutet, deutsch zu | |
sein, als Immigrant in Deutschland zu leben, welche Konsequenzen der | |
Holocaust ebenso wie seine Instrumentalisierung heute haben“. | |
In Bartanas Arbeiten sind alle modernistischen Ideologien, Projekte und | |
deren Ästhetik im Grunde dasselbe und Anlass zur Ironisierung. Deswegen | |
kann ihr Werk die historisch präzedenzlose Transformation von Millionen von | |
Menschen in Nichtmenschen und ihre anschließende Vernichtung nicht | |
begreifen. | |
Die Verallgemeinerung des Schoah-Gedenkrituals aus dem Land, das die | |
Zionisten gegründet haben, folgt den Publikumsbedürfnissen: Die Geschichte | |
Europas soll reguliert, die Schuld überwunden werden. So tritt an die | |
Stelle der Erinnerung an den Holocaust als Genozid an den Juden als Juden | |
eine abstrakt-universelle Erinnerung an alle Opfer kollektiver Gewalt. | |
„Zwei Minuten Stillstand“ am 28. Juni um 11 Uhr in Köln Roncalliplatz und | |
in Köln-Mülheim/Keupstr. Um 18 Uhr Diskussion mit Yael Bartana in der | |
Kölner Studiobühne. | |
28 Jun 2013 | |
## LINKS | |
[1] http://youtu.be/WDm-lSdqzkE | |
[2] http://www.festivalimpulse.de/de/ | |
[3] http://www.jrmip.org/ | |
## AUTOREN | |
Tal Sterngast | |
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