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# taz.de -- Abschied von verdienten Politikern: Bonn amour
> Mit Originalen wie Franz Müntefering gehen dem Bundestag Leidenschaft,
> Haltung und Stil verloren. Eine leicht sentimentale Würdigung der
> Generation Mettigel.
Bild: Ach, Münte, es ist schade, dass du gehst
Ach, Münte. Sentimentalität ist nicht dein Ding. Jammern, Larmoyanz,
Tränen, all das weinerliche Zeug. Du hast die Agenda 2010 durchgedrückt,
als die SPD sie bereits hasste, die Haare [1][streng zurückgekämmt] wie ein
Fußballtrainer aus den 50er Jahren. Du hast dich anbrüllen lassen, du hast
zurückgebrüllt. Und du hast ganze Philosophien zu Drei-Wort-Sätzen
verdichtet („Opposition ist Mist.“).
Man würde nur zu gern wissen, was du über euren Kanzlerkandidaten denkst,
der in Selbstmitleid badet: Peer ist Mist? Ach, Münte, es ist schade, dass
du gehst. Und du bist nicht der Einzige. Mit dir nimmt die alte Garde
Abschied, mit euch verschwinden die letzten Reste der Bonner Republik.
Originale, die das Land Jahrzehnte prägten.
Ihr standet noch für etwas anderes als das Taktieren für die Karriere. Ihr
alle habt die Politik in den 70ern zu eurem Beruf gemacht. Damals war
Politik noch etwas Wichtiges, über das man sich in holzgetäfelten
Partykellern oder verqualmten Hörsälen die Köpfe heiß redete.
Ihr seid die Generation Mettigel. Alles war klarer damals, einfacher, und
vielleicht ist man deshalb geneigt zu glauben, dass ihr echte Überzeugungen
hattet. Die Studentenproteste, später die Pershing II, das Waldsterben, die
Atomkraft. Man war dafür oder dagegen, es ging um viel.
## Die Politschnösel von heute
So gesehen, hattet ihr Glück: Damals war es einfacher, sich wirklich sicher
zu sein. Wer geht schon für eine Energiewende auf die Straße, die sowieso
alle Parteien wollen. Die innere Härte, die durch diese Kämpfe entstand,
merkte man euch an. Viele von euch haben es, das gewisse Etwas, das den
glatten Politschnöseln von heute fehlt.
[2][Heidemarie Wieczorek-Zeul] etwa – Kampfname: „die rote Heidi“. Sie
baute das Entwicklungsministerium zu einer schlagkräftigen Lobbybehörde für
die um, die Lobbys wirklich brauchen. Sie nervte als Ministerin mit
Linksdrall die reformbesoffene SPD, indem sie unermüdlich für die Ärmsten
der Welt kämpfte.
Oder nehmen wir jemanden vom ganz anderen Ende des politischen Spektrums.
[3][Norbert Geis], CSU-Hardliner, wettert bis heute in Talkshows gegen die
Gleichstellung von Schwulen und Lesben. Das traut sich sonst keiner mehr,
die anderen Gäste zwinkern sich dann verständnislos zu. Geis war es auch,
der dem in wilder Ehe lebenden Bundespräsidenten empfahl, seine
Lebensverhältnisse zu ordnen.
Mit Geis geht der letzte Rock-’n’-Roller der CSU. Oder regt sich wirklich
jemand über die kalkulierten Tabubrüche eines [4][Alexander Dobrindt] auf?
Ach, Münte, ihr botet, jeder auf seine Art, großes Kino. Leidenschaft.
Emotion. Und noch etwas wird fehlen, wenn ihr weg seid. Nennen wir es:
Stil.
## Die formvollendete Steifheit
Wie grandios mutet die formvollendete Steifheit eines [5][Hermann Otto
Solms] an, der im perfekt sitzenden Anzug stets so aussieht, als habe er
einen Taktstock verschluckt. Solms ist jemand, dem man abkauft, eine Idee
von Liberalismus zu haben, die nicht allein aus Steuergeschenken für die
Oberschicht besteht.
Leute wie Solms, wie ihr, wirken im hektischen Berliner Betrieb wie
Relikte. Auf einem FDP-Parteitag machte sich 2011 Lutz van der Horst an
Solms heran. Alle Politiker kennen und fürchten den „Heute
show“-Außenreporter. Na ja, fast alle. Solms verwickelte den Satireprofi in
ein freundliches Gespräch über das Kuchenbuffet, über dies und das. Er
kannte die „heute show“ nicht. [6][Und kam besser rüber als sein
Konterpart].
Auch du, Münte, hattest mit manchen Erscheinungen des 21. Jahrhunderts
deine Probleme. Du hast dich nie an die Anforderungen des Internets
gewöhnt. Niemals hättest du getwittert, obwohl du auf 140 Zeichen
wahrscheinlich die Bibel erzählen kannst. Deine Twitterabstinenz
kommentierst du, knapp wie immer: „Nein, nie selbst getwittert – ich
genieße persönlich die Gnade der frühen Geburt.“
Ach, Münte, allein dafür, für die Ablehnung der Dauergeschwätzigkeit,
gebührt euch Dank, Lob und Ehre. Ihr wart eben schon wichtig, als die
„Tagesschau“ um 20 Uhr noch echte Neuigkeiten meldete und keine
abgehangenen Nachrichtenschnipsel, die man heute in der Mittagspause online
liest.
## Platz für die Jungen
Nur damit hier kein Missverständnis aufkommt: Es ist richtig, dass ihr
geht. Ihr seid alle um die 70 Jahre alt. Da ist es Zeit, den Jungen Platz
zu machen. Ihr habt ihn gerade noch geschafft, den Abschied in Würde.
Nichts ist trauriger als ein Politiker, der nicht loslassen kann.
Und als tragische Figur vergangener Macht auf der Hinterbank vergreist. Du,
Münte, siehst das pragmatisch als neuen Lebensabschnitt. Du sagst:
„Bundestag ist nicht alles: Ich scheide da aus, aber ich ’höre nicht auf�…
sondern bleibe gesellschaftspolitisch engagiert.“
Wir nehmen dich beim Wort. Es wäre schön, dich ab und zu wiederzusehen, in
Talkshows, auf Podien und in Interviews. Dich und die anderen. Aber
wahrscheinlich ist auch etwas anderes wahr. Ihr werdet deshalb so verklärt,
weil ihr schon immer da wart. Ihr gehört zum Inventar der Republik, wie die
wuchtigen Gelsenkirchener-Barock-Schränke in vielen Wohnzimmern. An denen
man hängt, die aber viel zu bedeutungsschwanger in der Ecke herumstehen.
Und mit der Verklärung des Alten ist das bekanntlich so eine Sache.
[7][Jede Generation] hat ihre Idole. Politisch interessierte Nachgeborene
werden eines fernen Tages vielleicht sogar [8][Philipp Mißfelder]
vermissen.
28 Jun 2013
## LINKS
[1] /!37553/
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[3] /!117577/
[4] /!108733/
[5] /!100746/
[6] http://youtu.be/cQQtykPpJCE
[7] /!101999/
[8] /!95231/
## AUTOREN
Ulrich Schulte
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