# taz.de -- Schriftstellerin über türkische Proteste: „Opposition ist der G… | |
> Die Schriftstellerin Gaye Boralioglu über Istanbul, die Politik Erdogans | |
> und die anhaltenden Proteste in den Parks des Landes. | |
Bild: Gedenken an die Opfer im Gezi Park: „In der Türkei wird nichts mehr so… | |
taz: Gaye Boralioglu, Sie leben und arbeiten in Istanbul. Wie hat sich in | |
Ihrer Wahrnehmung der Einfluss der AKP-Regierung in den vergangenen Jahren | |
im Stadtbild bemerkbar gemacht? | |
Gaye Boralioglu: Ich bin hier geboren und aufgewachsen und habe eine | |
wahnsinnige Leidenschaft, was diese Stadt betrifft. Dies ist ein Ort, an | |
dem Märchen und die bitterste Wirklichkeit aufeinandertreffen. In den | |
vergangenen Jahren musste Istanbul viele Verluste erleiden. | |
Überall stehen gigantische Einkaufszentren und ziellos erbaute | |
Wolkenkratzer herum. Die Stadt hat keine grünen Flächen mehr und kaum Luft | |
zum Atmen. Wir hielten die AKP für eine islamisch-konservative Regierung. | |
Jedoch stellte sich heraus, dass sie Gottes größte Kapitalisten sind! | |
Was bedeutet das für die Stadtbewohner? | |
Die Regierung misst weder der Historie noch der Natur irgendeinen Wert bei. | |
Jede freie Fläche wird als potenzielle Pacht betrachtet. Angeblich ist die | |
AKP konservativ, aber sie verabscheut die Erinnerung der Gesellschaft. Sie | |
vertritt eine widersprüchliche Haltung. Aus Istanbul würde die Regierung am | |
liebsten ein neues Dubai machen. Und das ist eigentlich der größte Schaden | |
den die AKP in Istanbul angerichtet hat: Sie haben uns unsere Erinnerung, | |
unser Gedächtnis genommen. | |
Was für eine Stimmung herrscht in der Stadt seit Gezi-Park und Taksimplatz | |
gewaltsam geräumt wurden? | |
Opposition ist der Geist dieser speziellen Zeit. In der alten linken | |
Literatur galt hartnäckiger Trotz als Gebot der Stunde. Die neue Opposition | |
jedoch trotzt nicht, sie ist flexibel aber entschlossen. Es geht ihr darum, | |
sich zu schützen und gleichzeitig ein bisschen Spaß zu haben. | |
Nach jedem großen Angriff bricht auch eine Welle von Humor über uns herein. | |
Der Staat wendet [1][unverhältnismäßige Gewalt] an, die Demonstranten | |
dagegen ihren unverhältnismäßigen Intellekt. Der Premier, die AKP und die | |
Polizei haben jede Sympathie verloren. | |
Aber die Absurdität der Umstände bringt Sie dennoch zum Lachen? | |
Auch. Erst heute las ich von diesem jungen Mann, dessen Haus die Polizei | |
durchsuchte, weil er an den Gezi-Protesten teilgenommen hatte. In seinem | |
Durchsuchungsbefehl standen die Namen von neun verschiedenen | |
Organisationen, gegen die vorgegangen wird. Vor Gericht fragte der junge | |
Mann dann: „Sie haben keine Organisation angekreuzt. Wie läuft das? Wählen | |
Sie aus, zu welcher Organisation ich gehöre, oder darf ich mir jetzt eine | |
aussuchen?“ | |
Im einen Moment weinen wir um die Menschen, die bei den Protesten das | |
Augenlicht oder gar ihr Leben verloren haben, im nächsten Moment geht eine | |
Parole durch das Internet, über die wir [2][in Lachen ausbrechen]. Unser | |
Gemütszustand wechselt wie Ebbe und Flut. | |
Finden in der Türkei noch täglich Proteste statt? | |
Ja, seit der Räumung des Gezi-Parks treffen sich die Menschen nun in den | |
rund vierzig restlichen Parks von Istanbul und auch im Rest der Türkei, um | |
zu diskutieren. Man denkt über langfristige Formen des Widerstands nach. | |
Der Gezi-Park ist nun unter polizeilicher Überwachung, sie lassen niemanden | |
rein, pflanzen irgendwelche Blumen. Das ist so unwirklich! Kürzlich | |
bewarfen Demonstranten die Polizeipanzer mit Blumen. Die Antwort waren | |
Wasserwerfer und Tränengas. So viel zur Blumenliebe des Staats. | |
Inwiefern haben Straßenproteste und Polizeigewalt Ihren persönlichen Alltag | |
verändert? | |
Zunächst hat sich die Luft, die wir atmen, verändert. Statt Sauerstoff | |
atmen wir [3][Gas] ein. Die Polizei hat bis heute 130.000 Gaspatronen | |
verschossen. In meiner Handtasche befanden sich früher Lippenstift, | |
Taschentücher und eine Sonnenbrille. Heute trage ich eine Gasmaske, ein | |
Flasche mit Talcid-Lösung und eine Taucherbrille mit mir. Früher gingen die | |
meisten Nachbarn gegen Mitternacht schlafen. Heute sind viele bis in die | |
Morgenstunden auf den Straßen. Das sind natürlich nur die sichtbaren | |
Veränderungen. | |
Und was sind die unsichtbaren Veränderungen? | |
Es herrscht Revolutionsstimmung. Ich gehöre zu der Generation, die die | |
Militärputsche miterlebt hat und bis vor Kurzem sehr hoffnungslos war. Wir | |
bedauerten, dass wir in diesem Leben keinen Aufstand erfahren konnten. Wir | |
dachten, die heutige Jugend sei apolitisch. Nun stellt sich heraus, dass | |
die jungen Menschen sich hinter ihren Computern mit kräftigem Humor, | |
sensiblem Gerechtigkeitssinn und strahlendem Verstand auf diesen Aufstand | |
vorbereitet hatten. | |
Wenn sie es jetzt schaffen, weiterhin entschossen zu sein, ist diese Jugend | |
das Beste, was uns je passieren konnte. Aber natürlich demonstrieren nicht | |
nur junge Menschen. Ich habe im Gezi-Park [4][Menschen jeden Alters, jeder | |
Herkunft und jeder sozialen Schicht] getroffen. Man kann also durchaus von | |
einem Volksaufstand sprechen. Das macht große Hoffnung. | |
Als Drehbuchautorin haben Sie für Serien gearbeitet, die von | |
regierungsnahen Fernsehsendern produziert wurden. Wie konservativ sind die | |
türkischen Medien heute? | |
Bis vor Kurzem habe ich tatsächlich mein Leben lange Zeit als | |
Drehbuchautorin finanziert. Mit Literatur allein kann man in der Türkei | |
lediglich im Gezi-Park überleben, wo das Geldsystem für über zwei Wochen | |
erfolgreich abgeschafft wurde. Ich habe mich bemüht, mit einer gewissen | |
Sorgfalt und Moral im Mainstream zu existieren, um möglichst viele Menschen | |
zu erreichen. | |
Aber tatsächlich sind die türkischen Medien zuletzt in kürzester Zeit | |
[5][immer konservativer geworden]. Kritische politische Inhalte gehen | |
grundsätzlich nicht, Geschichten über ethnische Minderheiten sind verboten, | |
Sexualität ist verboten. Es ist sogar verboten, dass Figuren rauchen oder | |
Alkohol trinken. | |
Die Verbote sind nicht festgeschrieben. Doch weigern sich die | |
Verantwortlichen, gewisse Ideen und Vorstellungen zu produzieren. Es gibt | |
keinen Raum, um interessante Geschichten zu erzählen. Die TV-Serien | |
wiederholen sich ständig. Letztlich habe ich dann aufgegeben. Solange sich | |
bestimmte Bedingungen nicht verändern, werde ich in diesem Bereich nicht | |
mehr arbeiten. | |
Viele Beobachter befürchten nach den großen Protesten eine Zweiteilung der | |
türkischen Gesellschaft, wie sehen Sie das? | |
Die neue Oppositionsbewegung grenzt niemanden aus. In dieser Hinsicht | |
pflegen alle derzeit einen sensiblen Umgang untereinander. Selbst | |
Islamisten nehmen an den Protesten teil und kritisieren die AKP. Die | |
Regierung hingegen – und an erster Stelle Präsident Erdogan – versucht mit | |
allen Mitteln die Opposition zu denunzieren. | |
Erdogan behauptet immer wieder, die Demonstranten hätten eine Moschee | |
gestürmt und dort Alkohol getrunken. Dabei hatte der Imam in einer Moschee | |
eine Verbandsstelle für verletzte Demonstranten eingerichtet und persönlich | |
erklärt, dass keiner Alkohol getrunken habe. Nun ist der Imam nicht mehr im | |
Dienst. | |
Die Spaltung der Gesellschaft existiert nur in der Rhetorik der AKP? | |
Eine [6][Spaltung ist das offenkundige Ziel der Regierung]. Durch haltlose | |
Beschuldigungen soll die Opposition diskreditiert werden. Bei seinen | |
Versammlungen lässt Erdogan Künstler und Intellektuelle vom Publikum | |
ausbuhen. Er sagt, nur mit Mühe halte er den Zorn der 50 Prozent des Volkes | |
– also seiner Wähler – in Zaum. Diese Provokationen empfinde ich als | |
Anstiftung zum Krieg. | |
Die Opposition bemüht sich, die AKP-Wähler zu verstehen und mit ihnen zu | |
kommunizieren. In den Reihen der AKP hingegen herrscht – abgesehen von ein | |
paar Leuten, die mit Schlagstöcken auf Demonstranten losgingen – absolutes | |
Schweigen. Ich denke, dass die meisten sich schämen, dass sie diese Männer | |
an die Macht gebracht haben. | |
Im Nachgang der Gezi-Proteste werden nun viele engagierte Leute unter | |
Terrorverdacht festgenommen. Glauben Sie, dass die Regierung so den | |
Widerstand eindämmen kann? | |
Möglich. In der Geschichte haben wir gesehen, welch [7][furchtbare | |
Methoden] die Regierung entwickelt, wenn es um drohende Aufstände geht. Der | |
wahre Charakter der Regierung und, im Unterschied dazu, der der Opposition | |
ist offenkundig. Die Opposition ist für friedliche Methoden. Höchstens wird | |
mal eine Gaspatrone durch einen Fallrückzieher zurückgeschossen. | |
Wir haben außer unseren Körpern und unseren Verstand keine Waffen. Auf der | |
anderen Seite versucht die Regierung mit allen Mitteln ihre Macht zu | |
erhalten. Dieser Konflikt kann noch sehr lange dauern. Der im Gezi-Park | |
geborene Widerstandsgeist ist mit nichts, was wir vorher kannten, zu | |
vergleichen. | |
Nun, da wir es einmal geschafft haben, den Regierenden Angst einzujagen, | |
ist der Widerstand nicht so leicht einzustampfen. Dieses Ereignis wird | |
nämlich niemals vergessen werden. Während sich die Regierung für den einzig | |
wahren Richter des Landes hielt, hat sich quasi aus dem Gebüsch heraus ein | |
ganzes Heer mobilisiert. In der Türkei wird nichts mehr so sein, wie es | |
einmal war. Wenn der Triumph unser Ziel war, so finde ich, haben wir | |
gesiegt. | |
30 Jun 2013 | |
## LINKS | |
[1] /Volksaufstand-in-der-Tuerkei/!117318/ | |
[2] /!117917/ | |
[3] /Kolumne-Die-Liebeserklaerung/!118524/ | |
[4] /Die-Republik-Gezi-Park/!118600/ | |
[5] /Erdogan-und-Social-Media-/!117531/ | |
[6] /Kommentar-Tuerkei-Proteste/!117952/ | |
[7] /Blasphemieprozess-gegen-Pianisten/!103867/ | |
## AUTOREN | |
Fatma Aydemir | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Türkei | |
Istanbul | |
Gezi-Park | |
Protest | |
Schwerpunkt Protest in der Türkei | |
Schwerpunkt Türkei | |
Deutsche Welle | |
Schwerpunkt Türkei | |
Schwerpunkt Türkei | |
Streitfrage | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Gerichtsurteil in der Türkei: Bebauung des Gezi-Parks gestoppt | |
Es ist ein symbolischer Sieg für die Protestierenden: Ministerpräsident | |
Erdogan kann den Gezi-Park laut Gerichtsurteil vorerst nicht bebauen | |
lassen. | |
DW kooperiert mit Zensursender: Keine Lust auf Protest | |
Die BBC hat die Kooperation mit dem türkischen Sender NTV wegen | |
Zensurversuchen beendet. Der deutsche Auslandssender Deutsche Welle nicht. | |
Zukunft der türkischen Proteste: „Jeder Park ist Gezi“ | |
Sie lehnt eine konservative Gesellschaft ab. Sie will Presse- und | |
Meinungsfreiheit. In Istanbul diskutiert die Protestbewegung in Parks über | |
die Zukunft. | |
Kommentar EU-Beitritt der Türkei: Brüsseler Produkte | |
Noch nie sind die Werte, auf denen die EU angeblich basiert, in der Türkei | |
so offensiv eingefordert worden wie jetzt. Es wäre Zeit gewesen, Flagge zu | |
zeigen. | |
Der sonntaz-Streit: Schafft Wohlstand Protest? | |
Die Wirtschaft in der Türkei und Brasilien wächst – und trotzdem gehen dort | |
die Menschen auf die Straße. Macht Wohlstand unzufrieden? |