# taz.de -- Widerstand gegen Rechtsextreme: Wehrhafte Bürokratie | |
> Weil er sich gegen Aufmärsche wehrte, überschwemmten Neonazis den | |
> Bürgermeister von Weyhe mit Morddrohungen. Jetzt hat er 115 von ihnen | |
> angezeigt. | |
Bild: Ein Ort fällt nicht auf Neonazi-Propaganda rein: Mahnwache in Weyhe | |
BERLIN/WEYHE taz | René Lancker geht in Papierstapeln unter. Er schreibt, | |
tackert, sortiert. Lancker ist der Rechtsanwalt der niedersächsischen | |
Gemeinde Weyhe bei Bremen. Sein Auftrag: Neonazis anzeigen – in 115 Fällen: | |
wegen Bedrohung, Beleidigung, Volksverhetzung. | |
Am Freitag erreichte ein erster Batzen die Polizei. In den kommenden Tagen | |
legt Lancker nach. Denn in hunderten Briefen, Emails und Online-Kommentaren | |
wurden seit März der Gemeinde-Bürgermeister Frank Lemmermann (SPD) und | |
seine MitarbeiterInnen beschimpft oder ihnen gleich der Tod gewünscht. | |
Lemmermann hatte sich gegen Neonazi-Aufmärsche in seinem Ort gewehrt. Und | |
gegen die Vereinnahmung der Trauer um den Mord an Daniel S.. | |
„Ich hätte das nicht für möglich gehalten“, sagt der Bürgermeister. Lan… | |
war es ruhig in Weyhe: 30.000 EinwohnerInnen, sechs Schießsportanlagen, | |
eine Museumsdampflok. Viele Familien zieht es aus Bremen in den nahen Ort, | |
raus aufs Land. Laut ist es hier nur, wenn ein Trecker durch die Straßen | |
tuckert – oder Jugendliche mit tiefergelegten Kleinwagen dröhnen. | |
Doch am 10. März sorgte Weyhe für Schlagzeilen: Nach einem Diskobesuch | |
wurde der 25-jährige Daniel S. vor dem Bahnhof zu Tode geprügelt. Er hatte | |
versucht, einen Streit zu schlichten. Er wurde zu Boden getreten, aus einer | |
Gruppe heraus. „Alles Südländer“, schrieb die Bild. Als Verdächtiger wur… | |
der 20-jährige Cihan A. ermittelt. Er kam in Untersuchungshaft, die | |
Staatsanwaltschaft wirft ihm Mord vor. Der Prozess soll im September | |
beginnen. | |
Den Migrationshintergrund von Cihan A. benutzten Neonazis, um daraus einen | |
Fall von „Deutschenhass“ zu machen. Sie hetzen auf Blogs, in Sachsen | |
klebten sie Plakate, in Hannover zogen sie mit Fackeln auf. „Die | |
reißerische Berichterstattung der einschlägigen Presse hat dazu | |
beigetragen“, sagt Bürgermeister Lemmermann. Nicht lange dauerte es, bis | |
die rechte Mobilisierung Weyhe erreichte. Der Präventionsrat der Gemeinde | |
und der „Runde Tisch gegen Rechts – für Integration“ verfassten eine | |
Resolution: Die Herkunft des Täters tue nichts zur Sache, die Neonazis | |
seien nicht willkommen, so die Botschaft. | |
## „Linksversifftes Dreckschwein“ | |
Dann kamen die Hassbriefe. „Dieser Bürgermeister gehört zusammen mit der | |
Türkenbande aufgeknüpft“, hieß es darin. Oder: „Hoffentlich bringen | |
Türkische Schlägertrupps auch bald Ihre Kinder und Verwandten um, Sie | |
linksversifftes Dreckschwein“. Lemmermann solle als Volksverräter bestraft | |
werden, „hinter hohen Mauern oder mit dem Strick um den Hals“. | |
Die Post hätte man ignorieren können. Stattdessen wird sie im Rathaus | |
dokumentiert, jede Email ausgedruckt. Mit dem Justiziar der Gemeinde | |
durchforstet Rechtsanwalt Lancker die Zuschriften und prüft, für welche | |
Aussagen vor Gericht Aussicht auf Erfolg bestünde. Und, wenn möglich, | |
recherchiert Lancker die Identitäten der Absender. Viele Drohungen wurden | |
anonym versendet. Nach wochenlangen Recherchen hat Lancker 115 Fälle | |
ausgemacht. Für jeden einzelnen heißt das nun: Tatbestand darlegen, Anzeige | |
begründen, beglaubigte Vollmacht beilegen. Es droht Freiheitsstrafe von bis | |
zu einem Jahr. Die NPD in Niedersachsen reagierte bereits: Auf der Website | |
ruft der Landesverband dazu auf, das Rathaus wieder anzuschreiben – | |
vorgeblich um zu fragen, ob man angezeigt wurde. | |
Vor allem die Gruppe der „Identitären“ hatte in Weyhe eine Chance für ihr… | |
ersten größeren Auftritt gewittert: Daniel S. habe angeblich sterben | |
müssen, „weil er Deutscher war“. „Wehr dich - es ist DEIN Land“ verkü… | |
sie mit Aufklebern und im Internet. Daniels Mutter versuchten sie zu | |
vereinnahmen. Kurz nach dem Tod ihres Sohnes nahm sie jede Unterstützung | |
an. Nach ein paar Tagen merkte sie, mit wem sie es zu tun hat, und sprach | |
sich gegen die Neonazis aus. Sich als Macher zu präsentieren, die | |
Angehörige vermeintlich nicht allein lassen, ist eine Strategie von | |
Rechtsextremen. | |
Das rechte Netzwerk der „Identitären“ entstand Ende 2012 in Frankreich, mit | |
Positionen gegen die „multikulturelle Gesellschaft“, „Entfremdung“ und | |
„Islamisiererung“. In Bremen überschneiden sie sich personell mit | |
altbekannten Neonazis. Von sich selbst behaupten sie, nicht rassistisch zu | |
sein. | |
## Exemplarische Anzeigen | |
Weyhe fiel darauf nicht rein. „Wegen der massiven Hetze im Internet“ ließ | |
die Gemeinde eine Trauerkundgebung der „Identitären“ verbieten. Auch die | |
NPD versuchte es und scheiterte vor Gericht. Lemmermann mobilisierte | |
trotzdem zu einer Gegenveranstaltung an den Ort, wo Daniel S. getötet | |
wurde. 1.500 Bürger erschienen. Und sie kamen wieder, als es den | |
Rechtsextremen Christian Worch nach Weyhe zog. Zwei Mal setzte der | |
Bundesvorsitzende der Partei „Die Rechte“ Demonstrationen gerichtlich | |
durch. Die Gemeinde konnte nur die Route vorgeben. „Rein zufällig mussten | |
sie durch die Geschwister-Scholl-Straße“, sagt Lemmermann mit süffisantem | |
Unterton. | |
Bis heute trudeln im Rathaus Drohbriefe ein. Die ersten Emails habe er sich | |
noch durchgelesen, sagt Lemmermann. „Aus Berlin habe ich vom Reichsgericht | |
ein Todesurteil bekommen: ’Das Vollstreckungskommando ist unterwegs‘ hieß | |
es darin“. Ob ihm so etwas Angst macht? „Rein formal war das Urteil nicht | |
in Ordnung, es war nicht unterschrieben.“ Lemmermann will sich nicht | |
einschüchtern lassen. Auch JournalistInnen, die kritisch über die | |
Nazi-Aktivitäten berichteten, wurden bedroht: „Wir warten, bis Du Kinder | |
hast. Wenn wir sie dann umbringen, weißt Du, wie sich Mord für Eltern | |
anfühlt.“ | |
Mit den Anzeigen wehrt sich die Gemeinde „exemplarisch“ auch für andere, | |
die beschimpft wurden. „Ich habe den Anspruch, so zu agieren, dass ich mich | |
am nächsten Tag im Spiegel betrachten mag“, sagt Lemmermann. In der | |
Gemeinde haben einige Leute Angst, dass nun wieder die Aufmerksamkeit der | |
Rechten nach Weyhe gelenkt werde. Lemmermann sagt: „Die Anzeigen mussten | |
sein. Es gibt keinen rechtsfreien Raum, in dem gedroht und gehetzt werden | |
darf“. | |
5 Aug 2013 | |
## AUTOREN | |
Jean-Philipp Baeck | |
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