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# taz.de -- Festival Kampnagel in Hamburg: Nackte Mathematik
> Erstmals ist in Deutschland das Tanztheaterstück „Tragédie“ zu sehen.
> Choreograf Olivier Dubois ist ein Enfant terrible der französischen
> Szene.
Bild: Getanzte Mathematik des menschlichen Körpers: „Tragédie“ von Olivie…
Streng formal ist sie, die erste halbe Stunde des Tanzstücks „Tragédie“ d…
französischen Choreografen Olivier Dubois, das im Rahmen des
Internationalen Sommerfestivals auf Kampnagel in Hamburg
Deutschlandpremiere gefeiert hat. Dumpf schlägt eine schwere Trommel zum
Beginn jedes Taktes.
Eine Tänzerin tritt aus dem schwarzen Vorhang im Hintergrund der Bühne
hervor und marschiert festen Schrittes in schwachem blauem Licht in
Richtung Zuschauer. Vollkommen unbekleidet. Elf Schritte vor, einer zur
Seite, elf Schritte zurück, verschwindet wieder im Dunkel. Dann taucht eine
zweite auf. Elf Schritte vor, einer zur Seite, elf Schritte zurück,
verschwindet wieder im Dunkel.
Nach und nach kommen die anderen der insgesamt 18 nackten Tänzerinnen und
Tänzer dazu, neun Männer und und neun Frauen, durchlaufen in immer neuen
synchronisierten Formationen im immer gleichen Rhythmus den Raum. Diese
getanzte Mathematik des menschlichen Körpers und seiner Beziehungen folgt
zunächst einem genauen Regelwerk.
Aber dann schleichen sich die ersten Abweichungen in den Ablauf der
strengen Muster. Wo eben noch Symmetrie war, macht einer der Tänzer
plötzlich schon nach fünf Schritten eine Wendung, laufen nun zwei
Tänzerinnen auf einer Linie, verschieben sich die Algorithmen, tauchen
immer neue Konstellationen auf. Noch aber bleiben die derart formierten
Körper immer auf Distanz, kommt es nicht zum Kontakt, richten die
Tänzerinnen und Tänzer den Blick stur geradeaus.
Bis die Störungen und Fehler im strengen Ablauf allmählich immer deutlicher
werden. Zur stoisch schlagenden Trommel gesellt sich ein knisterndes
Rauschen. Aus dem Gehen wird immer häufiger ein Zucken, die Tanzenden
brechen aus ihren Bahnen aus, beginnen sich in die Quere zu kommen und
übereinander zu stolpern.
Schließlich ist die Ordnung der disziplinierten Körper im Taumel
zusammengebrochen, liegt auch der letzte am Boden. Das ist das Ende des
ersten von insgesamt drei Sätzen, in denen Dubois und seine Compagnie hier
eine „Welterfahrung als Choreografie“ entwerfen: ein Bild der Menschheit
und der Menschlichkeit.
## Bis zur Erschöpfung an den Poledancing-Stangen
Mit „Tragédie“, dessen Uraufführung letztes Jahr beim Festival d’Avignon
bejubelt wurde, beschließt der 40-jährige Dubois eine Trilogie zum Thema
Revolution. In deren Auftakt „Révolution“ drehten sich zwölf Tänzerinnen
zum immer wieder wiederholten Bolero von Ravel zwei Stunden lang bis zur
Erschöpfung um Poledancing-Stangen herum. „Rouge“ hingegen war als einsamer
getanzter Schrei konzipiert.
Im Latex-Minikleid und in roten Highheels tanzte Dubois allein, kroch mit
Megafonen umhängt wie ein Tier herum, wand sich schließlich unter Schreien
aus seiner Haut und entblößte einen blutigen Körper.
„Tragédie“ nun stellt die Frage nach der Gemeinschaft und der Zivilisation.
Dubois steht diesmal nicht auf der Bühne. Auch, weil der Einzelne hier
hinter der Idee des gemeinsamen Lebens verschwinden soll.
Und so setzen sich „Episodes“ und „Catharsis“, der zweite und dritte Sa…
von „Tragédie“, mit dem immer chaotischer, schneller und intensiver
werdenden Verschwinden von psychologischen, historischen oder
soziologischen Zuschreibungen auseinander, um zur Neuzusammensetzung eines
kollektiven Körpers zu kommen.
## Nietzsche tanzt mit
In kleinen Szenen gehen Einzelne aufeinander zu, zögern und treten wieder
zurück, während der Rest in zwei Gruppen eingeteilt exakt die gegenläufige
Bewegung vollzieht. Körper liegen übereinander – und nicht nur, weil sie
nackt sind, tritt dazu schließlich auch eine sexuelle Komponente.
Immer hypnotischer wird dabei auch die großartige Musik von François
Caffennes, sie steigert sich in stampfenden Techno und wird schließlich
eine einzige laute Rock-Rückkopplung.
Die Körper sind längst in einem tanzenden Haufen miteinander verschmolzen,
der eher an eine Technoparty oder ein Rockkonzert erinnert. Und zugleich
macht diese Ballung den ausdrücklich nietzscheanischen Gedanken deutlich,
auf den sich Dubois furiose Choreografie bezieht: „Singend und tanzend
äußert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: Er hat das
Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte
emporzufliegen.“
12 Aug 2013
## AUTOREN
Robert Matthies
## TAGS
Kampnagel
Hamburg
Tanztheater
Nietzsche
Ruhrtriennale
Tanztheater
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Theater
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