# taz.de -- Sommerfestival Kampnagel: Auf wackligen Knien | |
> Das Zeitalter der Vernunft und der leidende Körper des Philosophen: Der | |
> britische Choreograf Wayne McGregor bringt sie in dem Stück „FAR“ | |
> zusammen. | |
Bild: Eine komplexe Komposition aus Licht, Schatten und Silhouetten: „Far“ … | |
Man nennt es das Zeitalter der Vernunft, für jene aber, die darin lebten, | |
war es ein Zeitalter akuter körperlicher Belästigung, des fleischlichen | |
Zerfalls inmitten des Lebens. Das ist die These von Roy Porters Studie | |
„Flesh in the Age of Reason“, in der der britische Historiker das | |
Verhältnis von Moral, Material und Medizinischem im England des 18. | |
Jahrhunderts anhand der Leidensbekenntnisse ganz unterschiedlicher Denker | |
untersucht. | |
Denn geklagt haben sie alle über die Gebrechen ihrer anfälligen Körper, in | |
die ihr Bewusstsein eingesperrt sei wie in ein Gefängnis. Edward Gibbon | |
etwa, Autor der monumentalen Studie „Verfall und Untergang des Römischen | |
Reiches“, litt an Übergewicht und einer chronischen Gicht, die ihm | |
permanente Schmerzen bereitete. | |
Der Körper des Dichters Samuel Johnsons war von Spasmen und Tics | |
geschüttelt, und der Philosoph David Hume litt an Herzrhythmusstörungen, | |
Schwindsucht und einer entstellenden Hautbeschaffenheit. Am Ende des 18. | |
Jahrhunderts stelle sich die Frage nach dem Verhältnis von Körper und | |
Bewusstsein, so Porter, nicht so sehr als Frage nach der unsterblichen | |
Seele, sondern als Frage nach der Möglichkeit, die Aufmerksamkeit von den | |
Unpässlichkeiten des Fleisches abzuwenden – eine Frage nach der | |
Entkörperlichung der Stimme der Vernunft. | |
## Ein Tänzer und Semiotiker | |
Es ist dieses neu entstehende Verhältnis von Bewusstsein und Körper, das | |
der britische Choreograf Wayne McGregor, gefeierter Hauschoreograf des | |
Londoner Royal Ballet und künstlerischer Leiter seiner eigenen 10-köpfigen | |
Compagnie Random Dance, vor drei Jahren zum Ausgangspunkt seines Stückes | |
„FAR“ gemacht hat. Der Titel: ein Akronym von Porters Buchtitel. Im Rahmen | |
des Internationalen Sommerfestivals auf Kampnagel war er damit am | |
Donnerstag erstmals in Hamburg zu Gast. | |
Ein ganz anderer Typ Denker als Porters leidende Gelehrte ist McGregor: ein | |
schlaksiger, athletischer Mann, bekannt für seine extreme Beweglichkeit, | |
seine Schnelligkeit bei punktgenauer Präzision, seine oft überraschenden, | |
unorthodoxen Bewegungen. Ein Tänzer mit einem Abschluss als Semiotiker, | |
großem Interesse an experimenteller Psychologie und aktueller | |
Kognitionswissenschaft. Und der festen Überzeugung, dass ein tieferes | |
Verständnis unseres Körpers und seiner Beziehungen zum Bewusstsein auch ein | |
anderes Verständnis von Tanz und eine andere Art Tanz impliziert. | |
## Gesteuerte Bewegungen | |
Mit Koordinationsstörungen hat sich McGregor beschäftigt, hat seinen | |
Tänzern prismatische Brillen aufgesetzt und mit Kognitionswissenschaftlern | |
die Frage untersucht, wie Bewegung gesteuert wird: instinktiv oder | |
intentional. Auch „FAR“ ist eine getanzte Untersuchung der körperlichen | |
Verunsicherung vor dem Hintergrund einer neuen Welt des Wissen. | |
Zu Beginn ist noch alles fest gefügt. Im Schein von vier Fackeln tanzt ein | |
Paar in intimer Atmosphäre einen klassischen Pas de deux zu einer von | |
Cecilia Bartoli gesungenen Verdi-Arie. Doch dann verändern sich das | |
Bühnenbild der Lichtdesignerin Lucy Carter und die Stimmung abrupt. | |
Den Hintergrund bestimmt nun eine riesige Lichtinstallation des Londoner | |
Künstlerkollektivs rAndom International mit 3.000 algorithmisch gesteuerten | |
LEDs, eine komplexe Komposition aus flackerndem Licht und Schatten. Statt | |
Ausleuchtung nun der Raum, der Spalt zwischen den Lichtern, eine | |
synaptische Logik. Denn isoliert voneinander tanzen einige Männer hier in | |
strikt voneinander abgegrenzten Lichtbecken, vollführen irrwitzige | |
Verrenkungen. | |
## Um einen Platz im Universum ringen | |
Man blickt in ein Labor neuer Bewegungsmöglichkeiten, sieht verwickelte | |
Motive auf wackligen Knien, ataktische Gliedmaßen, extreme Wendungen auf | |
einem Fuß. Im Kontrast dazu immer wieder eigentümlich verunsicherte | |
klassische Konfigurationen: Tänzerinnen tragen einander, die Körper aber | |
erzittern, als berührten sie Unangenehmes. Werden jäh auseinandergerissen, | |
zu immer neuen Konstellationen zusammengeführt. Ein mysteriöser | |
Postklassizismus, in dem vereinzelte Einzelne um neue Verbindungen, einen | |
neuen Platz im Universum ringen. | |
Irgendwie verpixelt und atomisiert dazu auch die beeindruckende Musik des | |
in Island lebenden australischen Komponisten Ben Frost: hier ein Dröhnen | |
und Schlingern, dort gutturale Tierlaute und glaziale Ambientflächen. Ein | |
immer wieder unterbrochener, das Visuelle aufbrechender Kontrapunkt, der | |
die gewohnte Synchronizität von Bewegung und Klang infrage stellt. | |
Ein bemerkenswerter Abend, der einen dennoch unbefriedigt zurücklässt. Eine | |
meisterhaft getanzte Dekonstruktion des klassischen Vokabulars, ganz | |
sicher. Eine bemerkenswerte Untersuchung der Möglichkeiten des Körpers, | |
natürlich. Kryptisch aber bleiben nicht nur etliche Sequenzen. | |
Unentschlüsselbar bleibt auch, worin „FAR“ mehr sein möchte als die Summe | |
seiner Teile. | |
20 Aug 2013 | |
## AUTOREN | |
Robert Matthies | |
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