# taz.de -- Vor 50 Jahren sprach Martin Luther King: Keine Zeit für Kirchenlie… | |
> Eigentlich war Martin Luther King nur ein Redner unter vielen. Aber seine | |
> Worte stachen heraus. „Das ist ein Wendepunkt", begriff Dorie Ladner. | |
Bild: „I have a dream“: Martin Luther King Jr. Memorial in Washington. | |
WASHINGTON taz | Der Traum lebt fort. Seit Dorie Ladner hier an jenem 28. | |
August 1963 Martin Luther King sprechen hörte, hat sie ihn vor Augen. „Ganz | |
da oben stand ich“, erinnert sich die 71-jährige, kleine Frau mit dem | |
tiefen Südstaatenakzent und zeigt auf einen Seitenpfeiler auf dem obersten | |
Plateau des Lincoln Memorial in Washington. „Und rechts unter mir – mit dem | |
Rücken zu uns – da sprach er.“ | |
Martin Luther King gehörte zu den etwa 250.000 Menschen, die aus allen | |
Teilen des Landes nach Washington gekommen waren, um „für Arbeit und | |
Freiheit“ und gegen die Rassenschranken zu demonstrieren. Zu Füßen des | |
marmornen Präsidenten Lincoln, der 1862 die Sklaverei abgeschafft hatte. | |
„King hat der Welt die Augen geöffnet“, sagt Dorie Ladner. „Doch der Weg, | |
den wir damals einschlugen, ist immer noch weit.“ | |
Damals sah sie das anders. King redete als einer unter vielen. Und die | |
21-jährige Dorie Ladner, die mit einer Gruppe von Aktivisten den weiten Weg | |
aus Mississippi zurückgelegt hatte, fragte sich, wie lange dieser | |
Redemarathon der Männer wohl noch dauern würde und was er an den Zuständen | |
in ihrem rassistischen Südstaat verändern konnte. „Keine Frau redete. Dass | |
Männer die Bewegung dominierten, erschien uns damals normal. Wir hatten | |
erst mal damit zu tun, uns alle überhaupt zu befreien“, erklärt die | |
Aktivistin heute. „Wir wollten singen und Action – vor allem aber wollten | |
wir noch am selben Abend nach Hause zurückkehren, weil wir wussten: Dort | |
müssen wir weiterkämpfen. Schließlich saßen viele von uns dort im | |
Gefängnis.“ | |
Der Sprecher von Ladners Ortsgruppe der Bürgerrechtsinitiative NAACP | |
(National Association for the Advancement of Colored People) war zwischen | |
all den Funktionären und Berühmtheiten erst gar nicht zu Wort gekommen. Und | |
während keine Zeit für ihre Kirchenlieder blieb, sangen Joan Baez, Bob | |
Dylan und Mahalia Jackson bei der Kundgebung. | |
Dorie Ladner kramt in ihrem Stoffbeutel und zieht ein paar Schwarzweißfotos | |
heraus. Sie neben Martin Luther King, neben Bob Dylan oder – auf ihrem | |
Lieblingsfoto – neben ihrer Schwester Joyce. Eine energische Frau im | |
Jeanslatzrock strahlt in die Kamera. Es ist, als flöße der 72-Jährigen der | |
Ort der Erinnerung besondere Kraft ein. Wie in Trance steigt sie nun die | |
Treppe des Memorial hinauf. Mit jeder Stufe schlüpft sie tiefer in ihre | |
Rolle. Dorie Ladner spielt sich selbst, fünfzig Jahre danach. | |
## Die Erde vibrierte | |
Ungeduldig wippt sie von einem Bein aufs andere. Die Funktionäre da unten | |
wollen nicht aufhören zu reden. Sie kann nicht mehr zuhören. Doch dann | |
kommt King an die Reihe. Über eine Rasenfläche will sie näher an ihn heran. | |
Will einen Blick auf das Gesicht des Predigers werfen, den sie bereits seit | |
Längerem auf seiner Kampagne begleitet. | |
Als sie sich gerade in Richtung Podium schlängeln will, durchfährt sie | |
seine Stimme. Wie angewurzelt bleibt sie stehen, alles wird | |
mucksmäuschenstill. „Ich habe einen Traum …“, sagt King. Erst jetzt nimmt | |
Dorie Ladner die Menschenmenge unter dem Memorial wahr. Zu beiden Seiten | |
des Wasserbeckens wimmelt es wie in einem riesigen Ameisenhaufen. Schwarz | |
und Weiß. Hand in Hand. Nach der Rede singen sie: „We Shall Overcome.“ | |
Dorie Ladner starrt angestrengt hinunter auf die Parkmeile, so als würde | |
sie die Demonstranten heute noch sehen. „Sie kletterten auf Mauern, Bänke | |
und Bäume, um einen Platz zu ergattern“, erinnert sie sich und rudert dabei | |
mit ihren Armen. Die Erde vibriert, als die Zuhörer King applaudieren. „Das | |
ist ein Wendepunkt“, begreift Dorie Ladner. „Und du bist dabei.“ Der Abzug | |
der Demonstranten am Nachmittag geschieht zügig. „Unsere Gruppen waren ja | |
fast militärisch organisiert.“ | |
Es geht zurück nach Mississippi, zurück hinter den „unsichtbaren Zaun“, w… | |
Dorie Ladner sagt. Seit sie im Juni 1942 in Hattiesburg geboren worden war, | |
hatte er sie – wie alle Schwarzen dort – umgeben. Ob in Mississippi, | |
Alabama oder Georgia. „Der Zaun hielt alles Wissen von uns fern, jegliche | |
Form von Information, Literatur und Kunst. Wir hatten nicht einmal Bücher“, | |
erinnert sie sich. Aber auch an die Mahnung ihrer Mutter: „Erlaubt niemals | |
einem Weißen, euch schlecht zu behandeln“, hatte sie Dorie und ihren acht | |
Geschwistern eingebläut. | |
Das neugierige Mädchen wollte schon früh wissen, was es damit auf sich | |
hatte. „Ich wollte vor allem lesen.“ Ein Freund der Familie versorgte sie | |
mit Büchern und Zeitschriften. „Ihr werdet um eure Rechte betrogen“, | |
erklärte er Dorie und ihrer Schwester, die gebannt seinen Reden lauschten. | |
## Der Fall Emmett Till | |
Es war der Anblick eines Magazin-Covers, der ihr Leben verändern sollte: | |
das Bild des zu Tode gepeinigten schwarzen Jungen Emmett Till. Auf den Tag | |
genau acht Jahre vor dem großen Marsch auf Washington musste er sterben, | |
weil er die falsche Hautfarbe hatte. Der Ferienjunge aus dem damals bereits | |
liberaleren Chicago hatte in einem Laden in Money (Mississippi) übermütig | |
einer weißen Frau nachgepfiffen. Das war sein Todesurteil. | |
Der Ehemann und dessen Halbbruder entführten Emmett und brachten ihn um. | |
Seinen entstellten Leichnam fand ein Angler drei Tage später im Fluss | |
Tallahatchie. Emmetts Mutter sorgte dafür, dass das Bild ihres ermordeten | |
Sohns um die ganze Welt ging. Dorie, damals 14 Jahre alt wie Emmett, hat es | |
sich in die Seele gebrannt. „Dieses Foto löste Panik, Wut und Trauer in mir | |
aus – und so viele andere Dinge, die ich nicht aussprechen kann.“ | |
Ihre Stimme bebt, wenn sie ihre Fassungslosigkeit von damals schildert, als | |
sie erfuhr, dass Emmetts Mörder von einer weißen Jury freigesprochen wurde. | |
„Ich habe Albträume gehabt und gedacht: Wenn Emmett so etwas passieren | |
kann, könnte es mir auch irgendwann so ergehen.“ | |
## Die Instinkte der Mutter | |
Noch heute bangt sie manchmal um ihre Tochter Yodit oder ihren dreijährigen | |
Enkel. „Rodney King, Trayvon Martin – es gibt genug Beispiele von Willkür | |
gegenüber Afroamerikanern“, erklärt sie. Und Yodit nickt. Die Tochter hat | |
die Geschichte der Mutter so verinnerlicht, dass sie sie selbst fast | |
lückenlos erzählen kann. | |
Die 39-Jährige, deren äthiopischer Vater sich deutlich in ihren | |
Gesichtszügen spiegelt, hat gelernt, auf die Instinkte ihrer Mutter zu | |
hören. Sie und ihr Sohn leben bei der Mutter. „Als die Polizisten in Los | |
Angeles vor Gericht standen, die Rodney King fast zu Tode geprügelt haben, | |
hat sie zu mir gesagt: Die kommen bestimmt frei.“ Yodit habe ihr nicht | |
geglaubt. „Mutter, du hast von damals ein posttraumatisches Stresssyndrom | |
davongetragen“, entgegnete ihr die Tochter. „Wir leben in einem | |
Rechtsstaat.“ | |
Als dann zunächst der Freispruch für die weißen Täter kam, wusste Yodit: | |
„Das Recht ist leider immer noch von der Hautfarbe abhängig.“ Ob 1992 – | |
oder eben 2013. „Der Freispruch für den Mörder von Trayvon Martin erinnerte | |
mich an die Geschichte von Emmett Till“, sagt Yodit. Doch von Dorie habe | |
sie gelernt, die Dinge realistisch einzuschätzen. „Ich bin ein | |
News-Junkie“, gesteht die Tochter. „Doch leider nicht die Kämpferin mit | |
Haut und Haar, die meine Mutter gerne in mir hätte.“ | |
Dorie Ladner wollte kämpfen. Auf ihrem ersten NAACP-Treffen traf sie Clyde | |
Kennard, der in ihrer Heimatstadt als erster Schwarzer vergeblich versucht | |
hatte, an die Universität zu kommen. Ladner nahm an ersten Sitzstreiks | |
teil, um gegen die schlechten Bedingungen für schwarze Studenten in | |
Tougalou zu protestieren. „Die Polizei reagierte mit Hunden und Tränengas.“ | |
Als sie später selbst dort Sozialarbeit studierte, hatte Dorie bereits | |
mehrfach in Haft gesessen. „Einmal, weil ich mich in die Schlange für Weiße | |
am Essensschalter bei Woolworth einreihen wollte.“ Heute kann sie darüber | |
lachen. Doch nicht wirklich. „Jetzt dürfen Schwarze zwar in jede | |
Essensschlange – aber vielen fehlt das Geld, weil sie wirtschaftlich ganz | |
hinten in der Reihe stehen.“ | |
## Obama, ein Meilenstein | |
Dorie trat dem Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC) bei. | |
Zusammen mit Aktivistinnen wie Ella Baker oder Angela Davis besuchte sie | |
Gemeinden und ermutigte Schwarze, zur Wahl zu gehen. Mit den „Freedom | |
Riders“ fuhr sie in Bussen quer durch die Südstaaten, um gegen die | |
Rassentrennung in öffentlichen Verkehrsmitteln zu protestieren. Busse und | |
Straßenbarrieren brannten – die Bewegung wuchs. Dorie Ladner organisierte | |
Geschäftsboykotte, demonstrierte und schloss sich zwischen 1963 und 68 „so | |
ziemlich jedem Freiheitsmarsch an, den es gab“. | |
Grund zu marschieren gibt es heute noch. „Auch wenn wir die Mammutstrecke | |
hinter uns haben, sind noch viele Hindernisse zu überwinden.“ Der erste | |
afroamerikanische Präsident sei ein Meilenstein gewesen, sagt die | |
pensionierte Sozialarbeiterin, die Barack Obama bei seiner ersten Kampagne | |
unterstützte. „Ganz gleich, wie desillusioniert wir inzwischen in vielem | |
sind“, meint sie. „Allein die Tatsache, dass er im Weißen Haus sitzt, gibt | |
uns die Gewissheit: Wir können unser Ziel erreichen.“ | |
Als Dorie Ladner müde die Treppen des Lincoln Memorials hinuntersteigt, | |
kommt ihr eins der vielen Kamerateams entgegen, die zum Jahrestag über den | |
Marsch berichten. „Es fühlt sich merkwürdig an“, sagt Dorie. „dass ich … | |
der Geschichte bin, die sie erzählen.“ | |
28 Aug 2013 | |
## AUTOREN | |
Antje Passenheim | |
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