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# taz.de -- Buch über Diktatur in Brasilien: Der Aufruhr der Zeit
> „Alles in diesem Buch ist erfunden, doch fast alles ist geschehen“:
> Bernardo Kucinski erzählt von der brasilianischen Militärdiktatur.
Bild: Bulle zückt Waffe: Bodenkampf zwischen Student und Polizist in Rio de Ja…
K. sucht seine verschwundene Tochter. Ana ist ihm das liebste seiner
Kinder. Versunken in seine Jiddisch-Studien entgehen ihm gewisse Signale.
Ana führt neben ihrem Leben als Chemie-Dozentin noch ein anderes, ein
zweites Leben: sie und ihr Mann Wilson kämpfen in der von Carlos Marighela
geleiteten Stadtguerilla Acción Libertadora Nacional (ALN) gegen die
brasilianische Militärdiktatur.
„Alles in diesem Buch ist erfunden, doch fast alles ist geschehen“ – dies…
dem Roman vorangestellte Motto könnte ein Wink des Autors sein: meine
Fiktion, liebe Leserin, lieber Leser, ist nur ein Wimpernschlag von den
realen Personen und Ereignissen entfernt, aber sie erlaubt mir, von
Gefühlen zu berichten.
Wir begleiten K. auf seiner Suche nach der entführten und ermordeten
Tochter. Wir erfahren von Hoffnung und Enttäuschung, Tapferkeit und
Müdigkeit, Illusion und Trauer, Schlaftabletten und Handlungszwang. Wir
tauchen ein ins Innere der brasilianischen Militärdiktatur – wenn man so
will das Pilotprojekt, dem weitere US-amerikanisch gestützte Diktaturen in
so gut wie allen süd- und mittelamerikanischen Ländern folgen sollten.
„Scheiße, Mineirinho, weißt du, wer Kissinger ist? Er ist der Typ, der den
ganzen Plan ausgeheckt hat. Dieser Amerikaner, helles Köpfchen.“ Fleury,
der berüchtigte Chef der Departamento de Ordem Política e Social (DOPS),
einer von der Militärdiktatur gegründeten Geheimpolizei, erklärt seinen
Chargen fürs Grobe, was es mit diesem Befehl aus Washington auf sich hat,
Ana und ihren Mann Wilson freizulassen. Das American Jewish Commitee macht
Druck. Aber die beiden sind tot, ihre Leichen zerlegt und entsorgt. Waren
es nicht die Amerikaner, die auf Diskretion insistierten?
## Zivilrechte außer Kraft gesetzt
Im Jahr 1964 putscht die brasilianische Armee gegen die gewählte
Links-Regierung von João Goulart. Zehn Jahre nach Ende des Koreakriegs war
die heiße Phase des Kalten Kriegs in Lateinamerika angekommen. Vier Jahre
später dann der Putsch im Putsch. Mit dem institutionellen Dekret Nummer
fünf wird die bleierne Phase der Diktatur eingeleitet. Die letzten
Zivilrechte werden außer Kraft gesetzt.
Es sollten mehr als 20 Jahre vergehen, bis Brasilien zur Demokratie
zurückkehrt. An jenen bleiernen Jahren, in denen Folter, Mord und
Entführungen zur brasilianischen Normalität werden, arbeitet sich der Autor
Bernardo Kucinski, im wirklichen Leben der Bruder von Ana, ab. Der
Journalist Kucinski, der Berater des Expräsidenten Luiz Inácio Lula da
Silva war, hat Jahrzehnte gebraucht, bis er darüber schreiben konnte. Sein
Buch ist auch ein therapeutischer Bericht.
Der Leser begleitet K. auf seinem langen Weg der Suche und Ungewissheit,
während er zwischen Hoffnung und Verzweiflung schwankt, sich Schuldgefühlen
aussetzt. Wie konnte einer wie er, polnischer Jude mit eigener Geschichte
im jüdischen Widerstand, „die Augen verschließen vor dem Aufruhr der neuen
Zeit“? Die Schuldgefühle, die geliebte Tochter nicht vom verhängnisvollen
Weg abgebracht zu haben, lassen ihn nicht mehr los. Beim Apotheker in der
Nachbarschaft, in São Paulos jüdisch geprägtem Viertel Bom Retiro, beginnt
die Erkundung.
## Verstohlene Blicke
Ängstlich, aber mit der Arglosigkeit des Anfängers will er Anas Kolleginnen
im Chemischen Institut der Universität von São Paulo befragen, nur im
Freien wollen sie mit ihm sprechen. Verstohlene Blicke gehen unter den
Frauen hin und her. Zum ersten Mal spürt er, was im Lauf der Ermittlung zur
Gewissheit werden wird: die Mauern aus Angst und Schweigen, Lüge und
Opportunismus, Kollaboration und Einschüchterung, in denen er sich
verlieren sollte.
Der Institutsrat hat ihre Dozentin, in vorauseilendem Gehorsam, wegen
Nichterscheinens am Arbeitsplatz gekündigt. Ein Verwaltungsakt, den die
Universität, Wahrheitskommission hin oder her, bis zum heutigen Tag nicht
revidiert. K. lässt sich ein auf die bezahlten Dienste von Polizeispitzeln,
die ihn einem Wechselbad von Desinformation aussetzen. Er, dessen
kulturelle Heimat sein geliebtes Jiddisch ist, betritt zum ersten Mal in
seinem Leben eine katholische Kirche. Ein mutiger Erzbischof, Dom Paulo
Evaristo Arns, hatte eine Hilfsaktion für „Familienangehörige
verschwundener politischer Oppositioneller“ in Gang gesetzt.
Stundenlang hört er die Berichte anderer Angehöriger, Menschen aus allen
Bevölkerungsschichten. Eine junge Frau stellt sich vor – als seine
Schwägerin. Seine Tochter, verheiratet? In der Illegalität? Soll er den
Schwiegersohn, den er nie kennenlernen konnte und nie kennenlernen wird,
hassen oder achten? Er sucht Hilfe beim Roten Kreuz in der Schweiz, bei
Amnesty International in London, bei der Menschenrechtskommission der
Organisation Amerikanischer Staaten und beim American Jewish Commitee in
New York. Erfolglos.
## Jesuinas Therapiestunde
Viele Akteure kommen zu Wort. Wir tauchen ein in Welten, die
unterschiedlicher nicht sein könnten. Kucinski leuchtet ein komplexes Thema
aus – dies gelingt ihm mit narrativem Facettenreichtum in sanfter bis
schriller Vielstimmigkeit und schroffen Perspektivwechseln. Hier ist eine
fiktive Wahrheitskommission am Werk. Wir lesen Anas Brief an die Freundin
mit all den Zweifeln über ihren Weg und ihre Bitterkeit über die Indolenz
der Uni-Kollegen: „Alle tun so, als ob das Leben normal weitergeht, alle
benehmen sich so, als ob sich nichts ereignete.“ Wie widersprüchlich, wie
menschlich das Bild, das der Autor von seiner Schwester zeichnet!
Und dann hat der Leser noch teil an Jesuinas Therapiestunde. Ehedem Putz-
und Sexhilfe in der Casa da Morte in Petropolis, dem Todeshaus von Fleury,
stottert die schwer traumatisierte Frau ihre unaussprechlichen Erlebnisse
hervor. Fleury selbst liefert hingegen einen flotten Bericht, wie er seine
Todesschwadron schmeißt. Eine junge Rechtsanwältin wendet sich an uns, um
Verständnis bemüht. „Ich rede ihn mit Chef an und er nennt mich mein
Mädchen.“ Sie wird Fleurys Geliebte, die im Austausch den lebensrettenden
Pass für den Bruder bekommt.
Schließlich offenbart sich K. mit seiner unendlich oft erzählten Geschichte
auch noch den politischen Gefangenen in einem Militärgefängnis, die er,
eine Stange Zigaretten unterm Arm, besuchen darf. „Am Ende dieser Schriften
werde ich erneut ein Schatten sein ohne Stimme“, lesen wir im Aufschlag des
Buches – Worte des mosambikanischen Dichters Mia Couto. Über den Zeitraum
seiner Suche hinweg wirkt K. wie herausgefallen aus einer Welt, in der er
nichts mehr zu suchen hat.
„’K.‘ sollte zur Pflichtlektüre für alle Mitglieder unserer schüchtern…
Wahrheitskommission werden, die mit vier Jahrzehnten Verspätung ins Leben
gerufen wurde, von der gegenwärtigen Regierung der ehemaligen politischen
Gefangenen Dilma Rousseff“, so die brasilianische Psychoanalytikerin und
Chronistin Maria Rita Kehl. Sie ist eine der sieben Mitglieder der
Wahrheitskommission zur Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen vor,
während und nach der Militärdiktatur von 1964 bis 1985.
## Aufklärung und Gedächtnisarbeit
Auf der diesjährigen Buchmesse in Frankfurt wird sie zum Thema sprechen.
Dieses befremdliche „vor“ und „nach“ haben dabei die Militärs durchges…
Es ist nicht die einzige Verwässerung. Die Kommission darf weder bestrafen
noch Bestrafung empfehlen. Es mehren sich die Stimmen, die vor der
folgenschweren Konsequenz eines banalen Schlusspunkts warnen. Anders als in
Argentinien, Chile oder Uruguay brauchen die Täter in Brasilien eine
Verurteilung bis heute kaum befürchten.
Bernardo Kucinskis Erzählung leistet Aufklärung und Gedächtnisarbeit im
allerbesten Sinne – ein politisches Buch von hoher literarischer Qualität,
von den brasilianischen Literaturkritikern hoch gelobt. Mit großem
Einfühlungsvermögen breitet der Autor ein Geflecht aus Fakten und
Dokumenten, Aussagen und Enthüllungen aus. Vieles lässt er offen, vieles
bleibt ergänzungsbedürftig. Das Geflecht ist lückenhaft – und damit ein
Spiegel der real existierenden (Nicht-) Aufarbeitung in der brasilianischen
Gesellschaft.
Bei seinem Staatsbesuch in Brasilien 1968 erörterte der damalige
Außenminister Willy Brandt mit den Putschisten die Möglichkeit einer
nuklearen Zusammenarbeit. Im Jahr 1974 legte General Ernesto Geisel dem
Oberkommando der Armee die Pläne für den Bau einer brasilianischen
Atombombe vor. Mitte August 2013, mit der Öffnung bis dahin geheim
gehaltener Dokumente, wurde dies zur offiziellen Gewissheit.
Die damalige Regierung der Bundesrepublik schloss 1975 mit dem Regime
Ernesto Geisel das „Deutsch-brasilianische Abkommen über Zusammenarbeit auf
dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Kernenergie“, in dessen Rahmen die
Anreicherung von atomwaffenfähigem Material indes durchaus vorgesehen war.
Die brasilianischen Medien feierten den Kontrakt damals übrigens als
„Jahrhundertvertrag“.
1 Sep 2013
## AUTOREN
Lutz Taufer
## TAGS
Brasilien
Militärdiktatur
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024
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