# taz.de -- Vergessene Rezepte: Ertränkt in Armagnac | |
> Die Gartenammer ist ein kleiner Singvogel. Sie wird lebend gefangen, 14 | |
> Tage lang gemästet und dann mit Kopf und Knochen verspeist. | |
Bild: Machen doch eh nicht richtig satt: Zwei Gartenammern. | |
Vor wenigen Wochen zog ein Hagelsturm über meinen Wohnort, der in einem 20 | |
Kilometer breiten Streifen Autodächer, Jalousien und Fenster zertrümmerte. | |
In den Tagen danach fiel mir auf, dass in meinem Garten, ja überhaupt in | |
den Gärten der Umgebung und sogar im angrenzenden Wald kein Vogel mehr | |
sang. Meine Lokalzeitung lieferte die Erklärung: Durch die Hagelkörner, | |
manchmal so groß wie Tennisbälle, seien mehrere tausend Vögel erschlagen | |
worden, es dauere mindestens drei Jahre, bis sich die Vogelpopulation der | |
Gegend wieder von diesem Massenmord erholt habe. | |
Singvögel sind mir sehr sympathisch. Ich bin sehr böse auf den Hagel. | |
Italiener sind mir auch sehr sympathisch. Aber auf einige von ihnen bin ich | |
auch sehr böse. Dort, wo ich Urlaub mache, schießen sie im Herbst auf | |
Singvögel. | |
Der kleinste Vogel, den ich einmal aß, war eine Wachtel. Ich war des | |
Französischen nicht mächtig und bestellte in einem südfranzösischen Gasthof | |
das Gericht „Caille sur Canapé“, weil ich gern Gerichte auf Speisekarten | |
bestelle, die ich nicht verstehe, und mich überraschen lasse. Die | |
gebratenen Schlegel der Wachtel lagen auf einem gerösteten Weißbrot | |
(Canapé) und schmeckten. Mir war trotzdem unwohl, so wie mir unwohl ist, | |
wenn ich „Stubenküken“ auf der Karte lese. Denn je kleiner das Tier, desto | |
größer mein schlechtes Gewissen. Darf man ein Tier töten, von dessen | |
Fleisch nur zwei Bissen auf dem Teller landen? | |
Demnächst geht in Italien wieder die Jagdsaison los. Es gibt dort 835.000 | |
registrierte Jäger. Berg- und Buchfinken gelten manchen von ihnen als | |
Delikatesse, und in Frankreich, wo die Jagd auf Ammern eigentlich verboten | |
ist, wird der sperlinggroße Singvogel noch immer sehr geschätzt. | |
François Mitterand, der verstorbene Präsident, war ein großer Liebhaber der | |
Fettammer, die dort Ortolan genannt wird und Fettammer nur deshalb heißt, | |
weil die lebend in Netzen gefangenen Vögel vor ihrem Verzehr noch kräftig | |
gemästet werden, um dann mit Kopf und Knochen verspeist zu werden. Wir | |
empören uns heute darüber, aber noch vor zweihundert Jahren waren Täubchen, | |
Finken, Staren und Amseln beliebte Abwechslungen auf den Tellern vor allem | |
der adeligen Gesellschaft. Die Fettammer zählt daher zu den zu Recht bei | |
uns vergessenen Rezepten. | |
Einer der besten Köche des Jahrhunderts, der Franzose Alain Ducasse, hat | |
2005 in seinem Standardwerk („Grand Livre de Cuisine d’Alain Ducasse“) auf | |
Seite 749 die Zubereitung der Fettammer beschreiben. Man kann ihn deshalb | |
beschimpfen. Man müsste dann aber auch die Japaner beschimpfen, die lebende | |
Jungaale verspeisen oder die Einwohner Benins, die Hunde braten. Der große | |
Wolfram Siebeck schrieb einmal über Eskimos, die Fliegenmarmelade lieben, | |
als Beilage zum Robbenfilet. Die Essgewohnheiten auf der Welt sind eben | |
sehr verschieden. | |
Bei einem Jägerschnitzel wird dagegen kaum jemand aufschreien, obwohl das | |
arme Schwein in seinem kurzen Leben nie die Sonne gesehen hat. In | |
Deutschland leben rund 28 Millionen Schweine. Ich habe nur ganz selten ein | |
Schwein auf einer Weide gesehen. So eine Ammer hatte wahrscheinlich bis zu | |
ihrem Tod ein schöneres Leben. | |
1 Sep 2013 | |
## AUTOREN | |
Philipp Mausshardt | |
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