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# taz.de -- Berliner Singvögel: Es ist die Nachtigall und nicht die Lerche
> In keiner anderen Stadt gibt es mehr Nachtigallen als in Berlin. Sie
> haben ihren Gesang an den Krach angepasst, lieben die Unordnung, Brachen
> und wilde Wiesen - noch ein Grund, hier nicht alles zuzupflastern.
Bild: Nachtigall, ick hör dir trapsen
Es geschah Anfang der 1930er Jahre, an einem schönen Frühlingsmorgen am
Berliner Sachsenplatz, dem heutigen Brixplatz in Westend. Der Dichter,
Maler und Kabarettist Joachim Ringelnatz war gerade hergezogen, und obwohl
er immer berühmter wurde, hatte er Sorgen. Das Geld reichte nicht, die
Machtergreifung Hitlers stand vor der Tür, vielleicht bemerkte er erste
Symptome der Tuberkulose, an der er 1934 sterben sollte. Da hörte er
plötzlich eine Nachtigall singen. „Es sang eine Nacht… Eine Nachti … Ja
Nachtigall“, dichtete er staunend. „Am Sachsenplatz. Heute morgen. – Hast
du in Berlin das je gehört?“
## Ick hör dir trapsen
Das hätte man zumindest können. Denn es ist kein Zufall, dass in Berlin die
Redewendung „Nachtijall, ick hör dir trapsen“ entstand. Berlin gilt schon
seit langer Zeit als Hauptstadt der Nachtigallen. Ornithologen vermuten,
dass heute bis zu 1.600 Paare von 9.000 deutschlandweit in der Stadt brüten
– also mehr als in ganz Bayern. Berlin ist eine unaufgeräumte Stadt. Anders
als auf dem Land, wo Flurbereinigung und Schädlingsbekämpfung drohen, gibt
es hier nach wie vor mehr angenehm verschlampte Brachen, Bahntrassen,
dichte Hecken und wilde Wiesen als in vielen anderen Städten der Welt.
„Da nimmt die Nachtigall sogar den Krach in Kauf, gegen den sie immer höher
und lauter ansingt“, sagt Christoph Schaaf, leidenschaftlicher
Landschaftsgärtner und technischer Leiter des Grünflächenamts im Ruhestand,
der noch immer in seiner Dienstwohnung im Tiergarten wohnt. Am heutigen
Nachmittag führt er eine Gruppe aus mehr als 50 Hobbyornithologen durch
sein Reich. Sie sind gekommen, um an der Vogelstimmenführung für Anfänger
teilzunehmen, die seit Anfang Mai wöchentlich unter dem Titel „After Work
Birding“ vom Naturschutzbund Berlin organisiert wird. Schaaf kennt jedes
Revier seiner Nachtigallen, er hat 33 Reviere, also 66 Nachtigallen im
Tiergarten gezählt. Schon beim ersten, zu dem er die Gruppe führt, die
übrigens eher aus Menschen jenseits der Sechzig besteht, klappt es. Die
Paarungszeit ist vorbei, die Männchen, die vor allem nachts mit ihrem
Gesang Weibchen anlocken, singen eigentlich nur noch selten. Diese
Nachtigall aber scheint Schaaf, den preußisch wirkenden Exförster mit dem
scharfen Blick, zu mögen. Sie singt wie auf Bestellung. Ein verklärtes
Lächeln legt sich in die Gesichter der Naturfreunde.
Schon im Mittelalter galt der Gesang der Nachtigall als Heilmittel gegen
schlimme Krankheiten wie Melancholie. Der Vogel gilt als Bote des Frühlings
und Symbol der Liebe. Unzählige Gedichte, Geschichten und Märchen von Oscar
Wilde bis Hans Christian Andersen werden von Nachtigallen bevölkert. Das
liegt natürlich nicht an ihrem Aussehen – sie ist so unscheinbar wie ein
Spatz –, sondern an ihrer schönen Stimme, an den bis zu 260 Strophen, die
sie kennt. Dieses Repertoire ist fast einzigartig unter Singvögeln.
## Viele Melodien
Nachtigallen beherrschen sogar so viele Melodien, dass selbst
Gedächtnisforscher hellhörig geworden sind. Man hat herausgefunden, dass
sie sich Tonfolgen in etwa so merken wie wir uns Telefonnummern: Sie
gruppieren Strophen in einzelne Lerneinheiten, parken sie im
Kurzzeitgedächtnis und leiten sie paketweise ans Dauergedächtnis weiter.
Wer übrigens glaubt, dass man in Berlin sicher auch noch in hundert Jahren
das Gedicht von Joachim Ringelnatz verstehen wird, liegt falsch. „Wie alle
Brutvögel sind auch Nachtigallen bedroht“, erzählt Diana Gevers vom
Naturschutzbund beim Spaziergang durch den Tiergarten. Die Zahl der
Nachtigallen ist rückläufig, auch in Berlin. Noch ein guter Grund, die
Stadt nicht zu verscherbeln, nicht jede Baulücke zuzupflastern und die
Dinge mindestens so unordentlich zu lassen, wie sie sind.
23 May 2012
## AUTOREN
Susanne Messmer
## TAGS
Winter
Rezept
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