# taz.de -- Forschung über Nichtwähler: Die unbekannte Größe | |
> Nicht alle Parteien verlieren Wähler in gleichem Maß. Armut und | |
> Wahlverhalten gehören zusammen. Verliererin ist deshalb vor allem die | |
> SPD. | |
Bild: Wer wählt, wer wählt nicht? | |
KÖLN taz | Die Idee kam Armin Schäfer nach dem zweiten Umzug in Köln. Das | |
gediegene Lindenthal, Heimat der Kölner Immobilienkönige und | |
Uni-Professoren, hatte der Sozialwissenschaftler längst hinter sich | |
gelassen und war zunächst in der Südstadt gelandet, dem Kunst- und | |
Intellektuellenquartier. | |
Doch dann wechselte er mit Freundin und erstem Kind auf die andere Seite | |
des Rheins nach Köln-Mülheim, einem ehemaligen Arbeiterstadtteil. Reste | |
gründerzeitlicher Altbauten mischen sich hier mit den schnell gebauten | |
Mietsblöcken der Nachkriegszeit; die Einkaufsstraße voller Spielsalons, der | |
zentrale Wiener Platz eine städtebauliche Endzeitvision. | |
Schon frühmorgens sitzen hier die Drogenopfer auf einem | |
Betontreppenbrunnen, in dessen Wasserrinnen Zigarettenkippen, Müll und | |
Essensreste aufquellen. In den Seitenstraßen immerhin: nigelnagelneue | |
Wohnungen, auch mit Park dahinter, am Rhein sogar von ganz gehobener Art. | |
Ein Bio-Supermarkt findet in der Haupteinkaufsstraße ausreichend | |
Kundschaft. | |
Hier wie zuvor am anderen Rheinufer ging Schäfer nach der Bundestagswahl | |
2009 einem langgehegten Hobby nach. Ausdauernd kann er über den nach | |
Stadtbezirken aufgedröselten Wahlergebnissen in der Lokalzeitung brüten. | |
„Ich bin in diese Tabellen verliebt“, sagt er. Was ihm ins Auge stach: Wie | |
stark sich nicht nur die Ergebnisse für die Parteien, sondern auch die | |
Wahlbeteiligung in den ihm vertrauten Vierteln, „Veedeln“ sagt man in Köln, | |
unterschieden. Reiches Lindenthal: viele Wähler, armes Mülheim: wenig | |
Wähler, Südstadt: dazwischen. | |
## Punktewolken mit Erkenntnisgewinn | |
„Ich besorgte mir bei der Kommune die Arbeitslosigkeitsdaten für die | |
Stadtteile“, erzählt Schäfer, und weil er nun einmal Sozialwissenschaftler | |
ist, „machte ich ein Streudiagramm“. Streudiagramme sind Punktewolken | |
zwischen einer senkrechten und einer waagerechten Linie. Sie können zeigen, | |
wie zum Beispiel Armut und Wahlverweigerung korrelieren. | |
Der Befund war eindeutig: „Je mehr Arbeitslose in einem Stadtteil leben, | |
desto höher ist die Nichtwählerquote“. Er arbeitete weitere Daten ein. Ob | |
Hartz-IV-Bezug, Durchschnittsalter bei der ersten Geburt, Zahl der | |
Gymnasiasten – „es ist fast egal, man findet immer dasselbe Muster“, sagt | |
Schäfer: Je ärmer desto wahlmüder. | |
Dies scheint insbesondere zu stimmen, wenn man Manchmal- von | |
Dauernichtwählern zu unterscheiden versucht: Die höchste | |
Wahlverweigerungsquote haben junge Leute von Anfang, Mitte zwanzig; sie | |
interessieren sich oft einfach nicht, lassen sich nicht in die Pflicht | |
nehmen, Motto „nicht mein Ding“. | |
Dauernichtwähler dagegen sind älter, häufiger sozial deklassiert, und bei | |
ihnen spielt Frustration eine große Rolle: Die Politiker „haben kein Ohr | |
mehr für die Sorgen der kleinen Leute“ ist die wichtigste Antwort dieser | |
Nichtwähler, überproportional übrigens Ostdeutsche, in einer Befragung im | |
Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung von diesem Jahr. | |
## Soziale Lage und die Nichtwähler | |
Schäfer, Jahrgang 1975, arbeitet am Max-Planck-Institut für | |
Gesellschaftsforschung in Köln. „Ich will nicht in einem Elfenbeinturm von | |
Gleichartigen leben und arbeiten“, sagt er. „Mülheim ist liebenswert“. D… | |
Nebeneinander von türkischen Konditoreien mit bombastischen | |
Pastellzuckerkreationen und Läden mit hüfthohen Glitzeradlern in der | |
Keupstraße – hier ging 2004 die NSU-Bombe hoch –, von altdeutschen | |
Bierlokalen und dem hellen Eltern-Café mit Sanddorn-Schorle für | |
Vitamin-C-Freaks hat an einem sonnigen Spätsommertag tatsächlich einen | |
leicht brüchigen Charme. | |
Die leeren Schaufenster hier an der Ecke, sagt Schäfer im Vorbeigehen: „Das | |
war so ein schöner Spielzeugladen. Die sind frustriert raus, weil immer | |
weiter gestohlen wurde.“ Eine Ecke weiter ist der teure Privatkindergarten | |
– „direkt auf dem Weg zur Autobahnauffahrt. Dort wird morgens das Kind | |
abgesetzt und dann beschleunigt.“ | |
Mülheim ist mit seinen über 40.000 Einwohnern so groß wie eine Stadt, mit | |
guten und weniger guten Ecken. Müsste es nicht möglich sein, überlegte | |
Schäfer 2009 nach der Wahl, soziale Lage und Nichtwählerquote noch | |
kleinteiliger zu erfassen? | |
Er ließ sich Material aus Bremen, Duisburg, Hamburg, aus anderen | |
Großstädten kommen. Es war, als führe man mit der Lupe auf die Wohnviertel | |
zu: Je kleiner die Erhebungsräume geschnitten waren, desto deutlicher wurde | |
der Zusammenhang von Wohlstand und Wahlfreude. Wo die Statistiken schon | |
länger geführt werden, zeigte sich: Die Unterschiede zwischen armen und | |
reichen Stadtteilen sind außerdem stark gewachsen. | |
## Verspätete Wahlforschung | |
1972 trennten 10 Prozentpunkte in Bremen den Ortsteil mit der höchsten von | |
dem mit der geringsten Wahlbeteiligung, 2009 waren es 35 Prozentpunkte. Und | |
in den Kölner Stadtteilen hat sich der Abstand zwischen 1987 und 2009 auf | |
43 Prozentpunkte verdoppelt. Das ist ein Skandal, fand Schäfer. Er | |
marschierte zu den Kollegen und Kolleginnen in der Wahlforschung, | |
schließlich hatte er selbst bis dato eher Europapolitik, also ganz andere | |
Dinge bearbeitet. Wie konnte es sein, dass diese enormen Spreizung bislang | |
fast gar nicht erforscht worden war? „Das war für die schon abgehakt“, sagt | |
er. Ja, ja, Bildung und Wahlneigung und so. | |
Es war zu Unrecht abgehakt. In Deutschland wird mit einigem Ehrgeiz | |
überhaupt erst seit 1990 über Nichtwähler geforscht, angetrieben vom Schock | |
über die niedrige Wahlbeteiligung ausgerechnet bei der | |
Deutsche-Einheits-Wahl. Doch hatte seither noch niemand systematisch | |
Sozialdaten aus Stadtteilen mit dem Wahlverhalten korreliert. Es war | |
einfach neu, was Schäfer da vorwies. | |
Und es war das Gegenteil der verbreiteten Lehrmeinung, dass Nichtwähler | |
doch auch irgendwie egal seien, weil sie laut Umfragen im Schnitt genauso | |
wählten wie die Wähler, die Regierungsbildung also gar nicht durchs | |
Nichtwählen verändert werde. Denn ganz offensichtlich fand der Rückgang der | |
Wahlbeteiligung seit 1972 vor allem dort statt, wo SPD-Wähler wohnten. | |
Schäfers Zahlen widersprachen den Umfrageergebnissen. „Schon die Antwort | |
auf Umfragen setzt einen Beteiligungswillen voraus, der Nichtwählern sehr | |
wahrscheinlich eben genau abgeht“, erklärt Schäfer. Umgekehrt äußern sich… | |
auch medial – solche Nichtwähler, die sogar ausgesprochen wohlverdienend | |
sind: Professoren, Journalistinnen. Das verzerrt nicht nur die | |
Umfrageergebnisse, sondern auch die öffentliche Wahrnehmung. Die | |
nichtbefragungswilligen Nichtwahlwilligen, sie bleiben im Dunkeln, eine | |
unbekannte Größe der Forschung wie der Demokratie. | |
## Nichtwählen steckt an | |
Schäfers Aufsatz erschien 2012. Er dürfte der Auslöser dafür sein, dass in | |
diesem Wahljahr erstmals so deutlich über den Zusammenhang von Armut, | |
sinkender Wahlbeteiligung und Wahlergebnis gesprochen wird, ob und | |
inwiefern die SPD und mit Abstrichen die Linkspartei darauf angewiesen | |
sind, dass die Menschen zur Wahl gehen. | |
Schäfer reicht derzeit seine Habilitationsschrift über den Verlust | |
politischer Gleichheit ein, darüber, wie ganze Bevölkerungsteile nicht nur | |
sozial, sondern auch demokratisch abgekoppelt werden. „Ich sage nicht, dass | |
da nicht auch andere Faktoren im Spiel sind als Armut“, schränkt Schäfer | |
ein. Vermutlich steckt Nichtwählen auch an. „Bringt ja nichts“ ist ein | |
infektiöser Satz. Die gefühlte Wahlpflicht lässt in allen Schichten nach, | |
stärker aber noch in Milieus, die meinen, ihnen fühle sich ja auch niemand | |
verpflichtet. | |
Dicht an dicht hängen am Wiener Platz die Wahlkampfplakate der Parteien. Es | |
ist Markttag, doch von den hölzernen Wahlkampfbüdchen ist nur eines | |
besetzt. Das andere, so stellt sich im Lauf des Tages heraus, wurde in der | |
Nacht zum zweiten Mal aufgebrochen, die Plakate, Kugelschreiber und | |
Luftballons kaputtgemacht. Nicht alle Mülheimer schätzen es, erst bei | |
Bundestagswahlen umworben zu werden. „Direkte Ansprache hilft bei der | |
Mobilisierung“, sagt Schäfer, „doch stelle ich mir die Frage, ob die | |
Parteien überhaupt noch genug Personal dafür haben.“ | |
## Kein Superrezept | |
Was hilft noch? Die Parteien stellen inzwischen Frauen und Migranten auf, | |
weil sie wissen, dass sich nicht alle WählerInnen von weißdeutschen Männern | |
vertreten fühlen. „Warum gilt eigentlich nicht Gleiches für Arbeiter?“, | |
fragt Schäfer. Wenn er Vorträge bei Parteien halte, fragten deren Vertreter | |
ihn auch immer eindringlich, was zu unternehmen sei. Doch das sofort zum | |
22. September wirksame Superrezept zur Gewinnung der Nichtwähler könne er | |
nicht bieten. | |
Schäfer guckt in einem der kleinen gentrifizierten Winkel von Mülheim, dem | |
Café VreiHeit, in seine Biosaftschorle. Im Rheineck 20 Meter weiter, wo | |
geraucht und ab mittags Kölsch oder Schnaps getrunken wird, war er auch | |
zwar schon. „Aber da bleibt man fremd.“ Er stellt sich vor, dass dort die | |
Nichtwähler am Tresen stehen könnten. Oder sind es doch die Frauen die | |
gerade beim Netto-Supermarkt die Einkaufskörbe wieder abstellen? Mehr als | |
die Sozialdaten ihres Stadtviertels hat er von ihnen nicht. Das aber ist | |
mehr, als die meisten von uns bislang von ihnen wussten. | |
19 Sep 2013 | |
## AUTOREN | |
Ulrike Winkelmann | |
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