| # taz.de -- Kolumne Anderes Temperament: Die Kapitalisierung der Luft | |
| > Bei Shell kostet Luft mittlerweile einen Euro. Mobilitätsapartheid an der | |
| > Tanke? | |
| Bild: Auch ein schnörkelloses Rad: Touren-Teufel bemalt bei der Deutschlandtou… | |
| Morgens an der Shell-Tanke in Kreuzberg stehen und an Apartheid denken ist | |
| voll 80er. Ist mir aber kürzlich passiert, als ich mich wie immer kurz nach | |
| dem Aufstehen über den Gulli beugte, auf dem ich mein Rennrad abstellen | |
| muss, um mit dem Luftschlauch der Tankstelle die Reifen zu füllen. | |
| Ich schraube also den Adapter auf das Ventil und greife wie gewohnt hinter | |
| mich, wo normalerweise der Schlauch hängt. Aber der Griff geht ins Leere. | |
| Der Schlauch ist weg. Genau wie das Ding an der Wand, wo er dranhängt. Auf | |
| dem plötzlich riesengroß wirkenden kleinen Hof der Tankstelle umherirrend, | |
| entdecke ich eine neue Installation: eine vulgär silbern glänzende Box, auf | |
| der LUFT und 1 EURO steht. | |
| Angeblich, sagt mein Luftdealer, der Tankstellenpächter, könne er nichts | |
| für die kostenpflichtige Luft. Drüber reden dürfe er auch nicht. Gut, sage | |
| ich, ich will ja so früh morgens eigentlich auch gar nicht reden. Ich will | |
| nur Luft holen. "Haben Sie keine Luftpumpe?" fragt er. "Nein, ich habe ein | |
| Rennrad." | |
| Zu den Dingen, die definitiv nichts an einem Rennrad zu suchen haben, zählt | |
| die Pumpe. Nun kann man das Rennradfahren in Berlin für idiotisch, | |
| unpraktisch und reines Hipstertum halten. Tatsache ist: Es handelt sich um | |
| die schnellste und grazilste Art, durch die Stadt zu kommen - trotz | |
| Kopfsteinpflaster. Und ein Rennrad hat minimalistisch zu sein. Licht, | |
| Gepäckträger, Klingel, alles überflüssiges Gewicht, das der Erscheinung die | |
| schlanke Eleganz und der Fortbewegung das Gefühl des Dahinfliegens raubt. | |
| Es reicht, dass man Schutzbleche hinnehmen muss, da man sich sonst zu | |
| Regenzeiten um die eigene Eleganz bringt. Nasse Hosenbeine und feuchte | |
| Hintern oder aber Ganzkörperfunktionskleidung machen aus einem filigranen | |
| Rennradfahrer ein lächerliches Fashion Victim. | |
| Zugegeben, die Parvenü-Rennradfahrer, die in immer größerer Zahl durch die | |
| Stadt gurken, nerven. Die meisten können das Gerät, auf dem sie sitzen, gar | |
| nicht fahren. Sie wirken unbeholfen wie Kinder, die mit Stützrädern | |
| trainieren, und merken nicht, wie sie sich das kaputt machen, was sie | |
| eigentlich performen wollen: Coolness. | |
| Den Coolnessfaktor hat Shell jedenfalls verspielt. In den 80er und 90er | |
| Jahren kaufte man wegen der Zusammenarbeit des Konzerns mit dem | |
| Apartheid-Regime in Südafrika und der geplanten Versenkung der Plattform | |
| Brent Spar in der Nordsee nie bei Shell, außer in der Provinz nach | |
| Mitternacht. Aber dieses "man" waren meist nur Linke und Alternative. Jetzt | |
| verprellt der Konzern alle Auto- und Fahrradfahrer, einschließlich der | |
| kaufkräftigen Berliner Hipster. | |
| Die Schlange vor den kostenlosen Luftapparaten der ein paar Ecken weiter | |
| gelegenen Aral-Tankstelle in Kreuzberg wird dafür jeden Morgen länger. Aral | |
| aber ist BP und BP ist Deepwater Horizon. Und sicher werden auch Aral und | |
| Total demnächst nur noch Luft gegen Geld abgeben. Ach, das mit dem Boykott | |
| einzelner Konzerne war schon immer eine schlechte Idee. | |
| Die eigentlichen Profiteure dieser Kapitalisierung der Luft könnten aber | |
| die Spätis sein. Die müssten sich nur so einen alten Luftapparat besorgen, | |
| schon würden wieder alle ihren Tabak, ihren Chardonnay und ihre Kaugummis | |
| hier und nicht an der Tanke kaufen. | |
| 28 Oct 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Doris Akrap | |
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