# taz.de -- Ende des Booms in Polen: Kein Wunder an der Weichsel | |
> Nach Jahren des Booms macht sich in Polen Katerstimmung breit. Die Flaute | |
> zeigt auch die Grenzen des neoliberalen Kurses. | |
Bild: Premier Donald Tusk will die Wirtschaft mit 10 Milliarden Euro wieder ank… | |
WARSCHAU taz | „Tempo, Tempo“, riefen sich die Polen nach ihrem EU-Beitritt | |
2004 immer wieder zu. Sie spuckten in die Hände und packten kräftig an. In | |
knapp zehn Jahren schufen sie das „Wirtschaftswunder an der Weichsel“. | |
Überall schossen Technologieparks aus dem Boden. | |
Neue Autobahnen, Wohnungen und Flughäfen wurden gebaut. In Polens | |
Hauptstadt drehen sich die Baukräne ununterbrochen. Sie haben Warschau | |
innerhalb weniger Jahre zu einer westlichen Metropole werden lassen, die | |
den Vergleich mit Berlin, London oder Brüssel nicht zu scheuen braucht. | |
Doch der rasende Wandel türmte einen solchen Schuldenberg auf, dass Polen | |
nun die Notbremse ziehen musste: Das bereits reformierte Rentensystem wird | |
wieder verstaatlicht. | |
Die kalte Dusche kam unerwartet, hatten sich inzwischen doch alle an die | |
immer höheren Schulden gewöhnt. Die meisten Polen leben auf Pump. Aber auch | |
die Politiker schienen das Wort „Sparen“ aus ihrem Vokabular gestrichen zu | |
haben. Selbst in Zeiten guter Konjunktur bildeten sie keine Rücklagen. | |
Neue Kredite, Staatsanleihen und Milliardenzuschüsse aus Brüssel ließen den | |
Eindruck entstehen, geradezu im Geld zu schwimmen. Nur die Armen, die | |
immerhin bis zu 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen, sahen von dem neuem | |
Reichtum kaum einen Zloty. Noch ist Polen keine soziale Marktwirtschaft: | |
Zwischen Oder und Bug muss jeder selbst sehen, wo er bleibt. | |
## Erst der Anfang | |
Während sich die Länder der Eurozone langsam aus der Finanz- und | |
Wirtschaftskrise herausarbeiten, rutscht Polen erst jetzt in die | |
Konjunkturflaute hinein. Die einst beeindruckenden Wachstumszahlen sinken. | |
Während Polen in den Jahren 2009 bis 2012 mit einer realen Steigerung des | |
Bruttoinlandsproduktes (BIP) von insgesamt 12 Prozent das höchste | |
Wirtschaftswachstum in ganz Europa verzeichnen konnte, wird es in diesem | |
Jahr wohl lediglich 1 Prozent sein. Um die lahmende Konjunktur wieder | |
anzukurbeln, legte der liberal-konservative Premierminister Donald Tusk für | |
die Jahre 2013 bis 2015 ein Stimulierungspaket in Höhe von umgerechnet | |
knapp 10 Milliarden Euro auf. | |
Dies wird Polen zwar nah an die seit 1997 in der Verfassung verankerte | |
Schuldenbremse führen, doch Tusk konnte das Parlament überzeugen, dass | |
dieses Risiko vertretbar sei. So setzten Polens Abgeordnete per Gesetz die | |
erste Stufe der Schuldenbremse außer Kraft. Die schärfsten Restriktionen | |
sieht die Verfassung bei Erreichen einer öffentlichen Gesamtverschuldung | |
von 60 Prozent der laufenden Wirtschaftsleistung des Landes vor, doch erste | |
Sparmaßnahmen würden automatisch bereits bei 50 und 55 Prozent greifen. | |
Das Haushaltsdefizit, das bereits seit Jahren weit über dem | |
Maastricht-Referenzwert von 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegt, | |
lässt den Eurobeitritt Polens in weite Ferne rücken. Politiker und | |
Wirtschaftsexperten peilen vorsichtig die Jahre 2020 bis 2025 als möglichen | |
Beitrittstermin an. | |
## Angst vor Inflation | |
Das ferne Datum hat auch mit aktuellen Umfragen zu tun: Rund 70 Prozent der | |
Polen will den Euro nicht mehr. Sie haben Angst vor Inflation und dem | |
Verlust des Arbeitsplatzes. Tatsächlich stieg die Arbeitslosenquote im | |
östlichen Nachbarstaat Deutschlands auf heute rund 13 Prozent an. | |
Die Notbremse bei der Rente sieht so aus: Derjenige Rentenbeitrag, der nach | |
der Reform auf einem privaten Konto landete und von Rentenfonds möglichst | |
gewinnbringend an der Börse angelegt wurde, soll demnächst wieder in die | |
staatliche Rentenkasse fließen. Die staatliche Rentenkasse zahlt nach dem | |
Umlagesystem das eingehende Geld sofort wieder an die derzeitigen Rentner | |
aus. | |
5 Nov 2013 | |
## AUTOREN | |
Gabriele Lesser | |
## TAGS | |
Polen | |
Wirtschaft | |
Euro | |
Donald Tusk | |
Polen | |
Polen | |
Warschau | |
Polen | |
Donald Tusk | |
Polen | |
Polen | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Polnische Regierung streicht Pflegehilfe: Zelten gegen Sozialabbau | |
Vor dem Parlament in Warschau protestieren Angehörige von Behinderten. Sie | |
sollen für ihre Pflege mit einer minimalen Unterstützung abgespeist werden. | |
Polnische Nationalisten randalieren: Eskalation am Nationalfeiertag | |
Zum Unabhängigkeitstag liefern sich Nationalisten in Warschau | |
Straßenschlachten mit der Polizei. Diese muss einen Angriff auf die | |
russische Botschaft verhindern. | |
Architektur in Warschau: Stadt ohne Plan | |
In Warschau wuchern Vorstädte und es entstehen immer neue Hochhäuser. Man | |
muss kein Architekt sein um zu erkennen: Eine übergeordnete Planung fehlt. | |
Kommentar Proteste in Warschau: Wirtschaftskrise, jetzt auch in Polen | |
Der polnische Premier konnte wichtige Reformen aufschieben, weil die | |
Kredite und Investitionen aus der EU kamen. Das ist nun vorbei. | |
Großdemonstration in Warschau: Alarmglocken gegen Sozialabbau | |
Tausende Polen fordern Donald Tusks Rücktritt, höhere Löhne frühere Rente. | |
Bei einem Sternmarsch protestierten sie gegen die aktuelle Sozialpolitik. | |
Polens Regierungspartei in der Krise: Tusks Bastion bröckelt | |
Der Bürgerplattform des Premiers kommen drei prominente Mitglieder | |
abhanden. Damit schrumpft die Parlamentsmehrheit auf zwei Mandate. | |
Gewerkschaftsproteste in Polen: Eintopf im Dauerregen | |
Bis zum Samstag hoffen die Gewerkschaften auf bis zu 100.000 | |
Demonstrierende. Es geht um Arbeitszeiten – und natürlich den Sturz der | |
Regierung. |