# taz.de -- Polnische Regierung streicht Pflegehilfe: Zelten gegen Sozialabbau | |
> Vor dem Parlament in Warschau protestieren Angehörige von Behinderten. | |
> Sie sollen für ihre Pflege mit einer minimalen Unterstützung abgespeist | |
> werden. | |
Bild: Protest im polnischen Parlamentsgebäude | |
WARSCHAU taz | Die Zeltstadt vor dem Sejm, dem polnischen Abgeordnetenhaus | |
in Warschau, steht auch nach Ostern noch. Selbst über die Feiertage harrten | |
die Betreuer schwerbehinderter Familienangehöriger im Freien aus. „Wir sind | |
verzweifelt“, klagt Danuta Bodzioch, die ihren schwerbehinderten Mann nach | |
einem Motorradunfall zu Hause pflegt. „Um den Staatshaushalt zu sanieren, | |
haben die Politiker uns das Pflegegeld gestrichen.“ | |
Die zierliche 45-Jährige verzieht den Mund zu einem bitteren Grinsen: | |
„Dafür wachsen unsere Schulden, die der Behinderten und ihrer Familien! Der | |
Gerichtsvollzieher kassiert schon einen Teil der Invalidenrente meines | |
Mannes. Demnächst werden wir wohl obdachlos.“ | |
Die Politiker machen einen weiten Bogen um die Zeltstadt. Zwar stellte | |
Polens Verfassungsgericht Ende letzten Jahres fest, dass die im Juli 2013 | |
beschlossene Streichung des monatlichen Pflegegeldes für die Betreuer von | |
Schwerbehinderten verfassungswidrig sei, doch die Abgeordneten sahen keinen | |
Grund, ihren Fehler rasch zu beheben. Als sie auch auf Protestbriefe und | |
Telefonate verzweifelter Familien nicht reagierten, besetzte zunächst eine | |
Gruppe erboster Mütter mit ihren schwerbehinderten Kindern den Sejm. | |
Die Kinder in ihren Rollstühlen rührten das Gewissen der Abgeordneten. Als | |
der liberalkonservative Premier Donald Tusk den Mut aufbrachte, den | |
Familien zuzuhören, rückte eine Lösung näher. Einen Tag nach dem Treffen im | |
Sejm kündigte Tusk an, dass das Pflegegeld für schwerbehinderte Kinder | |
stufenweise angehoben werden solle – bis zur Höhe des staatlich | |
garantierten Mindestlohns von rund 1.200 Zloty (300 Euro). | |
Das Geld solle umgeschichtet werden. 50 Millionen Euro von den im Haushalt | |
zusätzlich eingeplanten 180 Millionen für die lokale Infrastruktur würden | |
2014 den Betreuern von schwerbehinderten Kindern und Erwachsenen zugute | |
kommen. | |
## Das Geld reicht nicht | |
Zwar waren die Eltern der behinderten Kinder mit der minimalen Anhebung des | |
Pflegegeldes nicht zufrieden, sie packten aber dennoch ihre Sachen. Anders | |
die Demonstranten in der Zeltstadt vor dem Sejm. Sie brachen ihren Protest | |
nicht ab. Im Gegenteil – zwei Personen traten auch noch in den | |
Hungerstreik. | |
„Ich versorge meine schwerbehinderten Zwillinge, Kamil und Dorota, beide 17 | |
Jahre alt“, erzählt Elzbieta Kurzeja, 51. „Das Geld reicht hinten und vorne | |
nicht.“ Die Kinder würden ihre ganze Kraft beanspruchen. „Kamil besucht | |
eine Integrationsschule. Er sitzt im Rollstuhl. Dorota ist so stark | |
gelähmt, dass sie nichts selbst machen kann.“ Kurzeja lässt die Hände in | |
den Schoß sinken: „Ich muss meine Tochter mit einer Sonde ernähren.“ | |
Unterstützung von ihrem Mann habe sie keine. „Als ich im siebten Monat | |
schwanger war und wir erfuhren, dass die Kinder behindert sein würden, ließ | |
er mich sitzen.“ Nachbarn und andere gute Menschen würden ihr Geld | |
zustecken, Lebensmittel und Kleidung vorbeibringen. Auch die | |
Kirchengemeinde in dem kleinen Ort bei Jelenia Gora (Hirschberg) helfe | |
regelmäßig. | |
## Ungerecht und selbstsüchtig | |
„Aber es ist doch Sache das Staates, seine eigenen Bürger nicht verhungern | |
zu lassen, oder?“ Deshalb sei sie nach Warschau gekommen. Sie demonstriere | |
gegen die ungerechten und selbstsüchtigen Politiker, die sich selbst ein | |
Einkommen von drei- bis viertausend Euro zubilligten, während sie die | |
Familienangehörigen schwerbehinderter Kinder oder Erwachsener mit einer | |
lächerlichen Hilfe in Höhe von 120 bis 300 Euro abspeisten. | |
Polens Arbeits- und Sozialminister Wladyslaw Kosiniak-Kamysz nannte es | |
einen Fehler, das Pflegegeld für erwachsene Behinderte zu streichen. Aber | |
nicht alle pflegenden Angehörigen könnten eine Hilfe in Höhe des | |
Mindesteinkommen erhalten. Denn das kostete im Jahr über vier Milliarden | |
Euro. | |
Am Ostermontag brachten viele Warschauer Osterkörbchen in die Zeltstadt. | |
Ein Mann überreichte neben dem Körbchen auch einen Strauß gelber | |
Osterglocken: „Haltet durch! Es kann jeden von uns treffen.“ | |
22 Apr 2014 | |
## AUTOREN | |
Gabriele Lesser | |
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