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# taz.de -- Selbsthilfe eines Missbrauchsopfers: Die Sprachlosigkeit beenden
> Angelika Oetken war als Kind Opfer sexueller Gewalt, heute ist sie
> Kämpferin für Betroffenenrechte. Ihr Engagement erlebt sie als
> Rehabilitation.
Bild: „Ich akzeptiere den Missbrauch als Teil meines Lebens", sagt Oetken.
Nach Feierabend schreibt Angelika Oetken Onlinekommentare. „Ich bin
ehrenamtliche Foristin“, sagt die 49-Jährige über sich. Auf den
Internetseiten von Zeitungen und in Ratgeber- und Betroffenenportalen
kommentiert sie Artikel zum Thema sexueller Missbrauch. An manchen Abenden
sitzt sie drei Stunden am Schreibtisch, manchmal schreibt sie nur eine
Rundmail an andere Betroffene, mit denen sie in einem losen Netzwerk
organisiert ist. „Alle sind betroffen“, lautet das Motto der Gruppe.
Um deutlich zu machen, dass ihr Schicksal alle angeht, unterschreibt Oetken
stets mit den Worten: „Angelika Oetken, Berlin-Köpenick, eine von über 7
Millionen Wahlberechtigten in Deutschland, die in ihrer Kindheit Opfer
schweren sexuellen Missbrauchs wurden“.
Als vierjähriges Mädchen wurde Oetken sexuell missbraucht, von einem
Bekannten der Eltern. Auch ihr Bruder wurde Opfer des Mannes, vermutet sie,
vielleicht auch die anderen Geschwister. Niemand aus der Familie spricht
darüber, bis heute. Sie entschied sich, die Sprachlosigkeit zu beenden.
Seitdem redet sie. Online, aber auch auf Seminaren und bei öffentlichen
Anhörungen. Sie setzt das eigene Erlebte in Beziehung zu wissenschaftlichen
Studien und politischen Forderungen. Sie hat sich entschieden, sichtbar zu
werden, zu kämpfen. „Ich akzeptiere den Missbrauch als Teil meines Lebens.“
Das mache sie zufriedener, als um jeden Preis ein „normales“ Leben führen
zu wollen.
In ihrer Praxis in Berlin-Köpenick serviert die hauptberufliche
Ergotherapeutin Kaffee und Teilchen. Sie sieht jünger aus, das schwarze
Haar kurz geschnitten, offenes Lächeln. Sie erzählt, wie die vielen
Zeitungsartikel über das Berliner Canisius-Kolleg und die hessische
Odenwaldschule sie elektrisierten: „Als das Thema Missbrauch hohe Wellen
schlug, hatten Artikel bis zu 10.000 Klicks. Was für eine Aufmerksamkeit!“
Oetken beschloss, das Interesse zu nutzen.
Sie stellte richtig, was sie ärgerte, verlinkte zu Informationen, die sie
interessant fand, tauschte sich mit anderen Missbrauchsopfern aus, die sich
plötzlich zu Wort meldeten. Es dauerte nicht lange, da war sie Teil eines
Netzwerks von Menschen, die von Nonnen drangsaliert, von Pfarrern und
Lehrern befummelt, von Pädagogen vergewaltigt worden waren. Manche sprachen
zum ersten Mal darüber, andere waren seit Jahren in
Betroffenenorganisationen involviert. Auch Angehörige und Therapeuten waren
darunter.
## Aufmerksamkeit nutzen
Das „sexualisierte Misshandlung – Betroffenenteam“ hat nach ihren Angaben
rund 20 Mitglieder, mit Kontakt zu geschätzten 1.500 Betroffenen, die
anonym bleiben wollen. Das klingt viel. Wenn man bedenkt, dass in
Deutschland Studien zufolge ungefähr 9 Millionen Erwachsene Opfer von
schwerem Missbrauch sind, ist es erst ein Anfang. Über Rundmails steht man
in Austausch, spielt sich die Bälle zu: Wer kennt sich im
Selbsthilfebereich aus, wer kennt diesen Wissenschaftler, jenes Buch?
Immer wieder sehen sich die Betroffenen auch mit Unterwanderungsversuchen
von Nazis konfrontiert: „Die Rechten versuchen, das Thema für sich zu
besetzen“, sagt Oetken. „Das deutsche Blut, das blonde Mädchen – dabei
haben sie zu Hause oft selber den Täter an der Kaffeetafel sitzen.“ Unter
Nazis gebe es überdurchschnittlich viele Betroffene, die das Erlittene
durch Aggression und Männlichkeitsgehabe abzuwehren versuchten. Täter an
der Kaffeetafel.
Auch Pädosexuelle fühlten sich vom Thema angezogen. Oetken hält sie aus dem
Netzwerk fern, spricht aber mit ihnen, wenn sie Kontakt zu ihr suchen: „Das
sind schwer kranke Menschen, als Therapeutin sollte ich mich mit denen
vernünftig auseinandersetzen können.“ Oetken hat sich einen Panzer aus
Wissen zugelegt, ihr eigenes Erleben in einen Wissensvorsprung verwandelt.
„Ich erlebe mein Engagement als psychosoziale Rehabilitation der
Vierjährigen, die ich einmal war“, sagt sie. „Jetzt bin ich kompetent und
mächtig genug, um mich mit Stärkeren anzulegen.“
## Aktivistin in eigener Sache
Im Schutz der Internet-Anonymität sammelt das Netzwerk Informationen über
Missbrauchsfälle, gibt sie weiter an den Missbrauchsbeauftragten der
Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig. Einige Mitglieder, wie Oetken
selbst, nahmen am Runden Tisch Kindesmissbrauch teil, diskutierten über die
Verlängerung von Verjährungsfristen und Entschädigungsforderungen. Die
Aktivisten arbeiten daran, dass das Amt des Beauftragten mehr politische
Entscheidungsbefugnis und einen Betroffenenbeirat bekommt.
Angelika Oetken ist noch nicht lange Aktivistin in eigener Sache. In ihren
Dreißigern outete sich die gebürtige Oldenburgerin im Privaten, vor drei
Jahren dann auch vor Kollegen. „Das war nicht ohne, denn ich bin in einem
Gewerbe unterwegs, in dem man kein Opfer sein darf.“ Es war dann weniger
schlimm als erwartet: Kollegen bewunderten ihren Mut, die Befürchtung,
fortan nicht mehr ernst genommen zu werden, bestätigte sich nicht.
Im Gegenteil: „Ich fühle mich seitdem noch stärker.“ Statistisch gesehen
hat jeder achte Mensch sexualisierte Gewalt erlebt, doch nur wenige, wie
die Grünen-Politikerin Marieluise Beck, trauten sich, damit offen
umzugehen. Oetken findet das schade. Oft, erzählt sie, blicke sie auf
Veranstaltungen in angespannte Gesichter, spüre bei Kollegen und Patienten
unterdrücktes Leid: „Missbrauch ist tief verwurzelt in unserer Kultur. Wenn
man bewusst hinsieht, entdeckt man überall Symptome“.
## Ignorierte Hilfesignale
In Angelika Oetkens Kindheit nahm niemand die Auffälligkeiten ernst, die
das Mädchen schon im Kindergartenalter zeigte: Exzessives Nägelkauen,
Aggressionen gegen sich und andere, Einnässen. Das zuvor kontaktfreudige
Kind zog sich zurück, versteckte sich, wenn Fremde kamen. Die Eltern
ignorierten die Hilfesignale. Auch in der Schule ging man den
Auffälligkeiten nicht nach, Angelika funktionierte, schrieb gute Noten. „Es
gab niemanden, der reagierte. Das war vielleicht sogar mein Glück: In der
Psychiatrie hätte man mich nach damaliger Auffassung wohl für sexuell
deviant erklärt“, berichtet sie.
Wut auf ihre Eltern empfindet Oetken heute nicht, wohl aber auf das
gesellschaftliche Klima, in dem sie aufwuchs: „Die allgemeine
Fahrlässigkeit und Ignoranz erschüttert mich noch heute“, sagt sie. Sie
findet es wichtig, all das aufzuarbeiten, was ein wohlwollendes Umfeld für
Täter wie den ihren schuf: Wissenschaftler, die Pädophilie schönredeten,
Politiker, die „befreite Kindersexualität“ forderten, Psychologen, die
Kindern Schuld am Erlittenen gaben.
Hoffnung setzt Angelika Oetken in [1][Franz Walter], den Wissenschaftler,
der Verfehlungen im linksalternativen Milieu der 70er und 80er Jahre
untersucht. Und in noch mehr Medienberichterstattung, die in ihren Augen
bereits eine wichtige Einsicht verbreitete: „Missbrauch kann jeden treffen.
Er findet überall dort günstige Bedingungen, wo statt Solidarität
Korruption herrscht.“
## Geschlossene Systeme
Was sie damit meint? Angelika Oetken stellt die Tasse ab, lehnt sich in
ihrem Stuhl zurück und breitet dann ihre, über die Jahre entwickelte
Theorie aus: Sie spricht von geschlossenen Systemen, die zusammengehalten
werden von etwas, das sie „Begleit- und Beschaffungskriminalität“ nennt.
Korruption und Missbrauch gingen Hand in Hand. Wer im Zwischenmenschlichen
Grenzen überschreite, tue das auch in anderen Bereichen.
Oetken entwirft in ruhigem Ton ein Panorama von lüsternen Priestern,
übergriffigen Reformpädagogen, brutalen Onkeln, die gleichzeitig halblegale
Geschäfte, kollegiales Fehlverhalten oder außereheliche Verhältnisse
deckten – und dafür ihrerseits gedeckt würden. „Wenn alle miteinander in
einen Klüngel verstrickt sind, wird es extrem schwer für Einzelne, aus dem
System auszusteigen – so bleiben Missbrauchsstrukturen über Jahre hinweg
erhalten.“
Was erhofft sich Angelika Oetken vom öffentlichen Reden über sexuellen
Missbrauch? Sie denkt kurz nach, sagt dann: „An der Situation hat sich
wenig geändert: Noch immer muss ein Kind im Schnitt acht Erwachsene um
Hilfe bitten, bevor man ihm hilft. Aber die Sensibilität ist größer
geworden. Heute könnte man jemanden überzeugen, einem Kind wie mir zu
helfen.“
13 Nov 2013
## LINKS
[1] /Geschichtsaufarbeitung-bei-den-Gruenen/!121700/
## AUTOREN
Nina Apin
## TAGS
Sexuelle Gewalt
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