| # taz.de -- Tibetischer Buddhismus: Der letzte Lehrer des Dalai-Lama | |
| > Der tibetische Mönch Kunchok Gyatso lehrt und lebt im indischen Exil. Er | |
| > stellt seine harte Disziplin infrage und kann sie doch nicht ändern. | |
| Bild: „Wir lesen und versuchen dabei zu verstehen“: Kunchok Gyatso im Klass… | |
| DHARAMSALA taz | Um kurz vor fünf Uhr regt sich noch nichts im | |
| Kirti-Kloster in Dharamsala. Dann aber erschallt leise ein Gong. Im Leben | |
| von Kunchok Gyatso, einem 47-jährigen tibetischen Mönch, beginnt ein ganz | |
| normaler Tag. | |
| Kunchok öffnet leise die Tür zu seinem Kämmerlein. Er putzt sich die Zähne, | |
| nimmt ein sorgfältig gefaltetes weißes Handtuch, wischt sich den Mund ab | |
| und hängt das Handtuch an die Tür. Alles in der Kammer hat seinen Platz: | |
| die Bücher, der Laptop, die Roben. Kunchok besitzt fünf Roben, zwei dünne | |
| rote für den Sommer, zwei dicke rote für den Winter und eine gelbe für die | |
| Festtage. | |
| Letztere zeichnet ihn als Mönch aus, der alle 253 Regeln des tibetischen | |
| Lama-Buddhismus beherrscht. Jetzt legt Kunchok eine rote Robe an. Er | |
| strafft den gerade geschnittenen, vier Meter langen Stoff mit den Händen. | |
| Im Nu ist er vollständig gekleidet. Er setzt sich wieder auf sein Bett, vor | |
| dem ein gelber Teppich liegt. Hinter ihm im Fenster leuchtet der Schnee auf | |
| den Gipfeln des Himalajas im Mondlicht. Neben ihm auf einer Bonbondose | |
| steht ein kleiner Buddha. Die gelbe Robe und der kleine Buddha sind seine | |
| größten Schätze: „Du bekommst sie nach 20 Jahren als Mönch, wenn du den | |
| Philosophiemeister machst. Dann kannst du dich dein Leben lang nicht mehr | |
| von ihnen trennen“, sagt Kunchok. Er erklärt noch ein paar andere Dinge. | |
| Dann schweigt er. Bald schlägt der Gong halb sechs. | |
| ## Alles in Rot | |
| Kunchok macht sich auf den Weg, drei verwinkelte Treppen hoch, in den | |
| großen Gebetssaal. Die jungen Mönche des Klosters sind schon da, etwa | |
| fünfzig an der Zahl, die meisten von ihnen stammen aus China. In alter | |
| Tradition schicken dort die tibetischen Familien mindestens einen Sohn ins | |
| Kloster, die besonders Begabten erhalten später den Ruf zur höheren | |
| Ausbildung in Dharamsala. Kunchok ist ihr Lehrer. Er nimmt am Kopf des | |
| Saales vor einem Glasschrank Platz, in dem alle Reden Buddhas aufbewahrt | |
| sind. Fünf Kronleuchter tauchen den Saal in helles Licht. | |
| Alles ist rot: die niedrigen Tische, vor denen die Mönche hocken, die | |
| Kissen, auf denen sie sitzen, ihre Gewänder. Was folgt, nennt Kunchok den | |
| „Meditationsprozess“. Es beginnt mit einem Gemurmel, später singen die | |
| Mönche, manche bewegen dabei rhythmisch den Oberkörper, andere gähnen. | |
| Einer von ihnen ist der Vorsänger. Über allen schwebt ein Bild des | |
| Dalai-Lamas. Eine Stunde meditieren sie so. | |
| Zum Frühstück bekommen die Mönche gedämpftes Tingmo-Brot und Buttertee. Das | |
| Brot ähnelt dem Mantou-Brot, das man in Nordchina isst. Kunchok bestreitet | |
| das nicht. „Für uns Tibeter gilt: Unser Essen kommt aus China, unsere | |
| Kleider kommen aus der Mongolei, und unsere Gedanken aus Indien.“ | |
| ## Er würde Yoga machen | |
| Manchmal verbringt Kunchok seine Morgen auch allein. Dann geht er spazieren | |
| rund um den Exilpalast des Dalai-Lama, der sich nur fünf Minuten entfernt | |
| vom Kirti-Kloster befindet und von Touristen aus aller Welt besucht wird. | |
| „Eigentlich würde ich gerne Yoga lernen“, überlegt Kunchok an diesem | |
| Morgen. Doch das entspricht nicht der Tradition der tibetischen | |
| Gelbmützensekte des Dalai-Lama, der er angehört. „Unsere Art der Meditation | |
| ist eher textgebunden, wir lesen und versuchen dabei zu verstehen.“ | |
| Der 7-Uhr-Gong ertönt. Zeit zum Selbststudium, zum Auswendiglernen. „Erst | |
| lernst du auswendig, später lernst du die Bedeutung des Textes“, erklärt | |
| Kunchok. Es scheint, als würden alle im Kloster seiner Anweisung folgen. | |
| Die Mönche sind in ihr Studium vertieft, sie beten in ihren Zimmern laut | |
| die Verse Buddhas vor sich hin, während ein indischer Angestellter mit | |
| MP3-Player-Stöpseln in den Ohren laut im Klosterhof mit Besen und Schaufel | |
| hantiert. Der Inder räumt den Müll der Mönche vom Vortag weg, darunter | |
| viele leere Chipstüten der Marke Lays und Schokoladenpapier. | |
| Um acht Uhr beginnt der Unterricht. „Eigentlich ist der Klosteralltag in | |
| Tibet und im Exil der gleiche. Aber hier wird mehr unterrichtet, in Tibet | |
| dafür mehr gebetet“, sagt Kunchok auf dem Weg zu seinem Lehrsaal. Er muss | |
| es wissen. | |
| 18 Jahre lebte er als Mönch im Kirti-Kloster der chinesischen Provinz | |
| Sichuan. Dann begann dort Ende der 90er Jahre ein patriotisches | |
| Erziehungsprogramm der chinesischen Regierung. Kunchok sollte im Unterricht | |
| die Politik des Dalai-Lama verurteilen und Tibet als Teil Chinas | |
| bezeichnen. Das hielt er nicht lange aus. Fünf Tage stapfte er zu Fuß durch | |
| den Himalaja. Schließlich hatte er die andere Seite erreicht. Seither lebt | |
| Kunchok im Exilableger seines alten Klosters im indischen Bergstädtchen | |
| Dharamsala. Die Bilder seines Hauptklosters in Sichuan aber schmücken hier | |
| die meisten Flure. Dort leben nach Kunchoks Auskunft bis heute 2.500 | |
| Mönche. Hier sind es rund 200. Beide Seiten sind in ständigem Kontakt | |
| miteinander. „Wir telefonieren viel“, sagt Kunchok. | |
| ## Viel Auswendiglernen | |
| Sein Unterricht ist unerbittlich. Er führt eine genaue Anwesenheitsliste. | |
| Seine Schüler sollen in drei bis vier Jahren ihre Meisterprüfung ablegen, | |
| bereits seit 15 Jahren drücken sie die Schulbank. „Unser Buch wurde von | |
| einem indischen Gelehrten verfasst“, führt Kunchok ein. „Es heißt | |
| „Metaphysische Philosophie“ und hilft uns, eine Brücke zur modernen | |
| Wissenschaft zu bauen. Das ist der Wunsch des Dalai-Lama.“ | |
| Genug der Einleitung, den Rest der Stunde liest jeder der neun Schüler aus | |
| dem Buch vor. Kunchok schließt dabei manchmal die Augen. Seine Schüler | |
| loben ihn später trotzdem als einen, der im Unterricht mehr von sich | |
| preisgibt als die anderen Lehrer, gelegentlich Geschichten und manchmal | |
| sogar einen Witz erzählt. Doch ihre pädagogischen Ansprüche sind niedrig. | |
| Die meiste Zeit lernen sie auswendig oder lesen. | |
| Dabei studiert im Kirti-Kloster in Dharamsala eine Exilelite. Viele kommen | |
| als Teenager aus Sichuan über die Berge. Ihre Familien in China erwarten | |
| nun Großes von ihnen. Denn sie gehen damit durchaus das Risiko von | |
| Repressalien ein. Doch meist passiert nichts, viele kehren später zurück. | |
| „Wir operieren innerhalb der Grenzen, die uns die Chinesen setzen“, sagt | |
| Kunchok. | |
| Das schließt radikale Kritik an den Verhältnissen nicht aus. Kunchok hat | |
| großes Verständnis für die jungen Mönche in seiner Heimat, von denen sich | |
| manche das Leben nehmen, um auf die Unterdrückung ihrer Religion in China | |
| aufmerksam zu machen. „Der Buddhismus bedarf des Selbstopfers, die | |
| Selbstverbrennung ist die höchste Form dieser Praxis“, sagt Kunchok. Der | |
| Dalai-Lama ist da freilich ganz anderer Meinung. | |
| Um elf Uhr wird der Unterricht im Klosterhof im Freien fortgesetzt. | |
| Debattenstunde. Die jungen Mönche hocken in kleinen Gruppen unter Bäumen | |
| oder auf Bänken. Einer fragt, einer antwortet, die anderen klatschen | |
| Beifall für den Gewinner. Schnell wechseln die Rollen. Dabei sind Frage und | |
| Antwort oft einstudiert. „Wie kannst du sagen, dass dies hier ein Baum | |
| ist?“. fragt einer. „Weil er vor uns steht“, antwortet sein Gegenüber. | |
| „Aber der Baum existiert als Baum nur in deinem Kopf.“ – „Nein, ich kann | |
| ihn doch anfassen.“ – „Das reicht nicht. Du musst seine Existenz beweisen… | |
| So geht es hin und her. Dabei schreien sich die jungen Mönche an, | |
| gestikulieren wild mit ihren Roben und Gebetsketten und schubsen einander | |
| nicht selten zu Boden. „Wer den anderen nicht auch mal umschmeißen kann, | |
| gewinnt keine Debatte“, sagt Kunchok lachend. Kein einziges Mal greift er | |
| ein. | |
| ## Sonntags ist Internettag | |
| Beim Mittagessen bleiben die Lehrer dann untereinander. Sie hätten, sagen | |
| sie, volles Vertrauen, dass der Dalai-Lama eines Tages nach Tibet | |
| zurückkehren könne. Doch ihre Klagen über die aktuelle Lage in Tibet sind | |
| groß: „Wir können dort nicht das Bild des Dalai-Lama aufhängen. Wir können | |
| uns nicht den höheren Studien des Buddhismus widmen. Wir können nicht | |
| Lehrer aus anderen Klöstern einladen“, bedauern sie. Konchuk diskutiert da | |
| nicht mit. | |
| Ihn beschäftigen andere Dinge. „Wir lehren immer noch das alte System. Ich | |
| kenne nichts anders“, räumt er ein. Ihn stört, dass im Kloster nur | |
| Tibetisch geredet wird und auch er keine andere Sprache beherrscht. Er | |
| selbst nutzt in seiner Kammer täglich das Internet, publiziert dort | |
| gelegentlich. Aber gehört der Computer auch ins Lehrzimmer? So weit würde | |
| Konchuk dann doch nicht gehen: „Wenn die Jungen ans Netz gehen, lernen sie | |
| nicht mehr die buddhistischen Texte“, sagt er. Nur sonntags ist es erlaubt. | |
| Der Nachmittag vergeht schnell, denn die Mönche bereiten sich auf einen | |
| großen Abend vor. Um zwanzig Uhr sitzen alle wieder im großen Gebetssaal | |
| zusammen. Diesmal wird auch hier debattiert. Alte gegen Junge, Meister | |
| gegen Novizen, alles durcheinander. „Wie kannst du behaupten, dass es | |
| Amerika gibt, wenn du es nie gesehen hast?“, fragt einer. „Debatten sind | |
| besser als jeder Unterricht“, flüstert Konchuk. Doch die Debatten gehen bis | |
| eine Stunde vor Mitternacht. Sie wiederholen sich. Er schläft fast ein. Es | |
| ist ja auch eine Herkulesaufgabe, nach so alter Tradition Mönche fürs 21. | |
| Jahrhunderts auszubilden. Gut, dass der darauffolgende Tag frei ist. Nicht | |
| einmal der Gong wird am nächsten Morgen erklingen. | |
| 23 Nov 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Georg Blume | |
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