# taz.de -- Jelinek-Uraufführung in Bremen: Alles endet „In der Hölle“ | |
> Nach Zögern hat Elfriede Jelinek den für Christoph Schlingensief | |
> verfassten Text Tod-krank.doc freigegeben. Mirko Borscht inszenierte ihn. | |
Bild: „So schön wird's im Himmel gar nicht sein“ – Zombie-Engel entschwe… | |
Wenn einer sich immer redlich bemüht, dann können ein paar tolle | |
Augenblicke dabei rauskommen. Aber letztlich fehlen die Exaktheit und die | |
Leichtigkeit von Kunst, die ihre Tiefe ausmacht, ihre Abgründigkeit, und | |
dann bewegen die Fotos vom Theater mehr als das ermüdende Anrichten der | |
Schlachteplatte auf der Bühne. So ist es jedenfalls dem Regisseur Mirko | |
Borscht ergangen, als er versucht hat, in Bremen Blutkuchen nach einem | |
Rezept von Elfriede Jelinek anzurühren. | |
„Tod-krank.doc“ heißt Jelineks 2009 für Christoph Schlingensiefs | |
ReadyMadeOper „Mea Culpa“ verfasster Theatertext, von dem darin aber doch | |
nur ein winziger Auszug vorkam, einer mit dem Wort Blutkuchen. [1][Und | |
seither steht er auf ihrer Homepage]. Er hat die Gestalt eines | |
Stationendramas mit klar definiertem Ausgangspunkt – dem Teil „In der | |
Krankheit“ – und unerbittlich feststehendem Ziel: Alles endet „In der | |
Hölle“. | |
Auf dem Weg dorthin überblendet Jelinek schwindel- und ekelerregend | |
Verbrechen, Kindergeburtstag, Verkehrsunfall, Messe, Französische | |
Revolution, OP-Tisch und Aischylos – in Schlingensiefs krebskranker Lunge. | |
Jelineks Metapher dafür, das kulinarisch, hämatologisch und | |
schlachttechnisch verständliche Wort Blutkuchen, dessen Gebrauch die Teile | |
dieses Dramas verbindet wie der Faden des Chirurgen die Hautlappen eines | |
Patienten, entspricht sehr genau dem Gestus, mit dem Schlingensief in | |
seinem Krebstagebuch über die Krankheit berichtet: Kein Zweifel, das Drama | |
erwächst unmittelbar aus dem Dialog. | |
Aber hier eben nicht aus dem seiner erkennbaren und benannten Bühnenfiguren | |
– da gibt’s einen Horst, liebevoll auch Horsti, der an einen früheren | |
deutschen Bundespräsidenten denken lässt und der als Nest den Adler | |
beherbergt, der Prometheus Leber auffrisst, da ist, wie fast immer bei | |
Jelinek, Ödipus, und, mit in sich ruhender Massigkeit von Michael Janssen | |
verkörpert, Josef Fritzl, der Mann aus Anstetten, der seine Töchter ab 1983 | |
in einen Keller sperrte und missbrauchte, nebst Kindern und Frauen. | |
Doch diese Figuren verschmelzen eher, als miteinander zu kommunizieren. Das | |
Drama wächst dagegen aus der vertraulichen Unterhaltung von Jelinek und | |
Schlingensief. | |
## Große Jelinek-Begeisterung in Bremen | |
Mit diesem Charakter oft geradezu zärtlicher Bezugnahme hängt wohl | |
zusammen, dass Jelinek eine Aufführung lange nicht erlaubte, „weil der Text | |
ja Christoph gehört hat“, wie sie bekennt. Dass Bremen nun die Freigabe | |
erhielt, entspricht der großen Jelinek-Begeisterung, die mit Beginn der | |
Intendanz von Michael Börgerding und Dienstantritt seines Chefdramaturgen | |
Benjamin von Blomberg 2012 am dortigen Theater ausgebrochen ist: So | |
bereitet der eine Hausregisseur, Felix Rothenhäusler, momentan ein | |
sympathisch-megalomanes Faust-Event mit beiden Goethe-Dramen plus Jelineks | |
„FaustIn and Out“ vor, vergangenes Jahr hatte er ihre Übersetzung von | |
Eugène Labiches „Die Affäre Rue de Lourcine“ als fulminantes Kammerspiel | |
inszeniert. | |
Der andere Hausregisseur, Alexander Riemenschneider, besorgte da die | |
Uraufführung ihres Finanzkrisenstücks „Aber sicher!“. Die geriet, mit | |
starkem Akzent auf szenischer Klarheit, zum Fest für die SchauspielerInnen | |
und für den vor Bosheit funkelnden Text. | |
Die Idee, „Tod-krank.doc“ nun Mirko Borscht machen zu lassen – und der | |
wollte ja! –, ist nachvollziehbar, zumal die zwei alten Produktionen weiter | |
im Spielplan sind: Seine Handschrift ist weniger rational, weniger | |
intellektuell als die der Hausregisseure. Furore gemacht hat er 2005, als | |
sein Film „Kombat Sechzehn“ mit verstörender Empathiefähigkeit der Genese | |
von Neonazi-Gewalt nachspürte. | |
## Schlingensief auch auf der Bühne, im Video | |
Tatsächlich scheint er auch ein Sensorium für Intimität des Jelinek-Textes | |
gehabt zu haben, wenn er Schlingensief selbst auf die Bühne holt, der als | |
fast weinerliche Stimme aus dem Totenreich zu einem Schwarz-Weiß-Video die | |
Geschichte seiner Leiden klagt, ganz zu Beginn. Dass sich die Krankheit in | |
ihn reinfresse, ist zu verstehen, dass sie ihn „missbraucht“ – das | |
Fritzl-Motiv. | |
Und wenn ein Quintett beglatzter Zombies in Rüschenkleidchen, nur | |
unterbrochen von würgenden Blut-Hust-Attacken, den Herrn Doktor um Schutz | |
anfleht, um schon bald, mit Engelsflügeln ausgestattet, gen Schnürboden zu | |
schweben – denkt man noch: Ja, das könnte es sein. Aber. | |
Borscht traut der Intimität nicht. Er traut dem Text nicht, traut sich | |
nicht, die Verwirrung zu offenbaren, in die dieser ihn gestürzt hat. Und | |
überspielt sie mit Testikeltheater: Kunstblut spritzt, Bühnennebel wabert, | |
noch mehr Bühnennebel wabert, Stroboskop gewittert, Gedärm wird | |
geschleudert und Sprache – oh Mannomann! | |
Darauf zu achten hat er ganz vergessen. Oder keinen Bock gehabt: Sie wird | |
meist lustlos gebrüllt und frustig geleiert. Dabei wäre es der Magie der | |
Sprache möglich, im Bösen die Komik zu finden, im Grauen die Zärtlichkeit – | |
und die vertrauliche Unterhaltung gegen die Ödnis tödlicher Gewalt zu | |
setzen. | |
2 Dec 2013 | |
## LINKS | |
[1] http://www.elfriedejelinek.com/ | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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