# taz.de -- Neue Tendenzen im House: Ausflüge ins weiße Rauschen | |
> Wenn die Klangästhetik von Industrial mit im Spiel ist, wird es zwingend | |
> auf dem Dancefloor. Ein Überblick über die wichtigsten Produzenten 2013. | |
Bild: Ein Bilderstürmer des House, in jeder Hinsicht: Ron Morelli. | |
Eigentlich ist es ja ganz leicht, das Rezept für einen gelungenen | |
Dancetrack. Eine Drummachine, einen Synthie, alles leicht in den roten | |
Bereich gemixt. Eins für den Rhythmus, eins für die Show, eins für den | |
Dancefloor – now go, Kids, go. Delroy Edwards hat dieses Rezept | |
perfektioniert. | |
Mit seinem Hoodie und den kurzen Haaren wirkt er wie ein | |
White-Trash-Fotomodell, den Namen hat er sich von einem jamaikanischen | |
Drogendealer geborgt. Seit gut zwei Jahren veröffentlicht Edwards spärlich | |
instrumentierte, ungeschliffene House-Diamanten in kleiner Auflage auf noch | |
kleineren Labels und hat es damit von seinem kleinen New Yorker Appartement | |
zu einem DJ-Set in der Berliner Panorama Bar gebracht. | |
Edwards ist nur einer von vielen jungen Produzenten, die in diesem Jahr das | |
älteste aller Dance-Music-Genres aufgemischt haben. „Outsider House“ | |
nannten die einschlägigen Blogs Produzenten wie ihn, nur um den Begriff im | |
nächsten Nebensatz wieder zu denunzieren. | |
„Der Ausdruck ist Unsinn“, meint auch Anthony Naples, 23-jähriges | |
House-Wunderkind aus New York. „Die Leute, die diese Musik produzieren, | |
haben nichts Außenseiterhaftes.“ Naples muss es wissen. Kaum ein Producer | |
wurde dieses Jahr so von DJ-Kollegen und Kritikern hofiert wie er. Unter | |
samtweichen Satinsynthesizern versteckt er treibende und dennoch komplexe | |
House-Rhythmen, deren Spuren wie ein Cliffhanger noch lange nach ihrem Ende | |
nachwirken: deep, eindrücklich und dennoch nie gefühlig. | |
## Jugendzimmer mit Laptop | |
Naples’ Soundsignatur ist weit von der raubeinigen Ghetto-House-Romantik | |
eines Delroy Edwards entfernt. Und trotzdem haben sie vieles gemeinsam: das | |
Jugendzimmer mit dem Laptop zum Beispiel. Oder die Plattensammlung zwischen | |
Houseklassikern und lärmigen Gitarrenexperimenten. Im Frühjahr eröffnete | |
Naples mit einem fünfminütigen Track der New Yorker Noiseband Black Dice | |
einen Mix, der unter House-Afficionados für Aufsehen sorgte. „Als Teenager | |
haben wir bewusst viel von diesem weirden Zeugs gehört, weil wir nicht in | |
Clubs gehen durften“, erzählte Naples gegenüber Pitchfork. „Outsider“ �… | |
heißt zuerst, dass man sich für Musik interessiert und sich dabei nicht | |
irritieren lässt. | |
Niemand verkörpert das besser als Ron Morelli. Der 37-Jährige mit den | |
tattooverzierten Armen betreibt das Label Long Island Electrical Systems | |
(L.I.E.S.), eine der Schnittstellen des neuen US-House-Underground. Vor 20 | |
Jahren hätte man ihn noch auf einem Hardcore-Konzert in New York getroffen, | |
bevor er in den späten Neunzigern dort seine ersten Warehouse-Parties | |
besuchte. Geblieben ist aus dieser Zeit ein Wille zum DiY. | |
## Verspielt und verzerrt | |
Gut 60 Platten hat L.I.E.S. in den letzten Jahren veröffentlicht, allen | |
gemeinsam ist ein Zugang zu House, der Verzerrung mit Verspieltheit | |
verbindet, ohne dabei selbstgefällig zur wirken. L.I.E.S. produzieren | |
schnörkellose Clubmusik, deren Charme in ihrer Unfertigkeit besteht. Ein | |
L.I.E.S.-Track funktioniert wie ein gutes DJ-Set, das ja immer auch eine | |
prekäre Improvisation zwischen Tänzern und DJ ist, niemals so richtig | |
abgeschlossen und gerade dann am schönsten, wenn es nicht auf Perfektion | |
abzielt. | |
Ein wenig erinnert der neue House-Boom an die frühen Nullerjahre, als Indie | |
von den College-Radios endgültig in die Ivy-League des zeitgenössischen Pop | |
aufgestiegen war, während an Universitäten und Kunsthochschulen mit | |
Effektpedalen und Tapemaschinen experimentiert wurde und die Musik auf | |
selbstgebrannten CD-Rohlingen zirkulierte. | |
Heute füllt Dance Music die Stadien, in denen DJs wie Steve Aoki oder | |
Deadmau5 eine perfekt durchchoreografierte Show inklusive Konfettifeuerwerk | |
und Tortenschlacht abliefern. Und DJs wie Morelli, Edwards oder Naples | |
haben die Rolle des Gegenparts übernommen, legen in „tollen Räumen mit | |
schlechten Soundsystems“ (Morelli) auf und lassen Mixe und Ideen im Netz | |
zirkulieren. | |
Auch Morelli hat das verstanden und verschiebt auf seinem Debütsoloalbum | |
„Spit“ die Grenze noch weiter in Richtung Noise. Analog ratternde Synths | |
treffen auf rumpelig verzerrte Kickdrums aus den Untiefen eines Bunkers. | |
„Spit“ ist ein Künstleralbum als Befreiungsschlag von den Ansprüchen des | |
Dancefloors, das in der Artifizialität von Industrial endet. | |
## Künstlerische Unabhängigkeit | |
Kein Wunder, dass er auf Hospital Productions, dem Label von Dominick | |
Fernow, veröffentlicht hat. Fernow gehörte Mitte der Nullerjahre zur | |
boomenden Noiseszene New Yorks, mittlerweile arbeitet er als Vatican Shadow | |
an einer Fusion ritualistischer Industrialästhetik mit Minimal-Techno. „Dom | |
besitzt diese unermüdliche Energie und eine unvergleichliche Arbeitsethik, | |
vor der ich großen Respekt habe“, erläuterte Morelli dem FACT-Magazine die | |
Wahl seines Labels. | |
Arbeitsethik? Protestantischer Geist anstatt „Work It“-Hedonismus? | |
Mitnichten. So redet ein Labelbesitzer, jemand, der weiß, dass | |
künstlerische Unabhängigkeit manchmal nur durch Sparsamkeit zu haben ist. | |
Morelli kennt die Geschichte von Dance Music und ihrer Verästelungen. | |
Nicht umsonst nennt er im Interview Mick Harris als Beispiel, der seit über | |
25 Jahren an den Rändern elektronischer Musik zwischen Dub, Industrial und | |
Minimal Techno arbeitet. Und so ist auch „Spit“ weniger ein Ausflug ins | |
weiße Rauschen der reinen Provokation, sondern ein Statement der | |
Unabhängigkeit, eine Rückgewinnung der Sexyness reinen Lärms. | |
Mit so viel Kunstwillen steht Morelli nicht alleine da. Auch Galcher | |
Lustwerk, Young Male und DJ Richard, die drei Produzenten des New Yorker | |
Labels White Material sind über das Experimentieren zur Dance Music | |
gekommen. Kennengelernt haben sie sich an der Rhode Island School of Design | |
in Providence. | |
Hier fanden sich in den siebziger Jahren die Talking Heads, in den | |
Nullerjahren kam während des Kunststudiums die Ostküsten-Noise-Rock-Szene | |
zueinander. Die Freeform-Rocker von Black Dice zauberten markerschüttende | |
Klangfarbenkaskaden aus virtuos verschalteten Gitarreneffektketten, während | |
das Duo Lightning Bolt Rockmusik auf seine rhythmische Essenz aus | |
verzerrtem Bass und geprügeltem Schlagzeug reduzierte: Noise, aber sexy. | |
## Working Man’s Techno | |
„Man musste echtes Analogequipment, einen Kassettenrecorder, Effektpedale | |
oder Kontaktmikrofone benutzen“, beschreibt Galcher Lustwerk dem Magazin | |
The Quietus die Musikszene in Providence. | |
Auf „White Material“ ist davon einiges geblieben. „Working Man’s Techno… | |
steht auf den vier 12-Zoll-Maxis des Labels, die aufgrund ihrer Seltenheit | |
mittlerweile für um die 30 Euro das Stück gehandelt werden. Der Aufdruck | |
ist kein hipstermäßiges Flirten mit den Insignien der Arbeiterklasse, | |
sondern ein wenig Selbstironie. Um die Platten zu finanzieren, gingen die | |
White-Material-Macher arbeiten – und zwar ganz klassisch in einer Fabrik. | |
Verkauft wurden die Maxis händisch: kein Vertrieb, keine Bemusterung. Noch | |
können White Material sich so viel DiY erlauben, das Label steht erst am | |
Anfang. | |
Trotzdem sind die Künstlerpersönlichkeiten klar auszumachen. DJ Richard und | |
Young Male oszillieren zwischen unterkühltem Tech-House und experimentellen | |
Collagen. Galcher Lustwerk lässt dagegen seine Rap-Vergangenheit in die | |
Vocals seiner Housetracks einfließen. Wie bei einem guten Post-Punk-Label | |
ist der Sound von White Material die Unterschiedlichkeit seiner Künstler. | |
Nicht umsonst heißt ein Track von DJ Richard „Shade of ’77“, dem Jahr, in | |
dem Punk die Musikindustrie durcheinanderwirbelte. | |
12 Dec 2013 | |
## AUTOREN | |
Christian Werthschulte | |
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