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# taz.de -- Willy Brandts 100. Geburtstag: „Den müsste er hinauswerfen!“
> Noch immer ranken sich um Willy Brandts spektakulären Sturz im Jahre 1974
> viele Legenden. Am Mittwoch wäre er 100 geworden.
Bild: Willy Brandt und Helmut Schmidt, 1965.
War Willy Brandt links? Soweit es die Situation zuließ, ja. Typisch ist
vielleicht eine Episode, die Egon Bahr einmal im Willy-Brandt-Haus bei der
Vorstellung einer Sebastian-Haffner-Biografie erzählte: Wie Willy Brandt
dessen umstrittenes Buch über das Versagen der SPD in der deutschen
Revolution 1918 sah, wollte der Moderator der Veranstaltung wissen. Na ja,
habe Willy Brandt dazu gesagt, so Bahr, der Haffner kann das so schreiben,
aber der musste ja nicht regieren!
Links oder nicht links – trotz des Berufsverbotsbeschlusses hat die
Kanzlerschaft Brandts von 1969 bis 1974 gezeigt, dass ein
sozialdemokratisches Regieren in der Bundesrepublik möglich ist. Mit
wachsendem zeitlichen Abstand zu den Jahren der nationalsozialistischen
Diktatur wurden sozialdemokratische Positionen mehrheitsfähig. Dies zeigte
auch die Euphorie der „Willy-Wahl“ 1972, als die SPD mit sagenhaften 45,8
Prozent erstmals die stärkste Fraktion im Deutschen Bundestag wurde.
Doch es sollten, wie Brandt es einmal formulierte, ausgerechnet die
„Parteifreunde“ sein, die „mir den Wahlsieg vom 19. November nicht
verziehen haben“. Der triumphal im Amt bestätigte Kanzler wurde schon bald
systematisch demontiert.
Den anderen SPD-Größen Herbert Wehner und Helmut Schmidt passte die ganze
Richtung nicht. Schon dass Brandt im Alleingang die Große Koalition unter
Kanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) 1969 beendete und mit der von Walter
Scheel geführten FDP ein Bündnis einging, war für sie ein Unding. Brandts
neue Ostpolitik („Wandel durch Annäherung“), aber auch die überfälligen
inneren Reformen erzeugten Widerstände.
Nachdem nacheinander die Finanz- und Wirtschaftsminister (Möller und
Schiller, beide SPD) hinschmissen und Brandt mitten im Wahlkampf 1972 ohne
ökonomisch kompetenten Minister dastand, bat er Helmut Schmidt, beide Ämter
zu übernehmen. Der machte jedoch zur Bedingung, dass die Brandt-Vertrauten,
Kanzleramtsminister Horst Ehmke und Regierungssprecher Conrad Ahlers, nach
der Wahl aus ihren Positionen entfernt würden. Anstatt Schmidt hinter die
Deiche zu jagen, ließ sich Brandt in seiner Not auf diese Erpressung ein.
## „Willy Brandt muss Kanzler bleiben!“
Die vorgezogene Wahl 1972 war notwendig geworden, nachdem Brandt zwar ein
konstruktives Misstrauensvotum der CDU/CSU überstanden, im Bundestag aber
keine Mehrheit mehr hatte. Noch im Spätsommer 1972 schien diese Wahl
verloren. Doch die Parole „Willy Brandt muss Kanzler bleiben!“ mobilisierte
in einmaliger Weise Heerscharen von sozialdemokratischen Wahlkämpfern und
Wählern.
Helmut Schmidt sah missmutig zu, wie „das öffentliche Bekenntnis
außenstehender Bürger“, gemeint waren Schriftsteller wie Grass oder Böll,
bei Willy Brandt „zu Irrtümern über die Partei“ führen würden, zumal di…
Leute „gar nicht in der Partei“ seien.
Tatsächlich entstand 1972 eine einmalige Dynamik. Willy Brandt liebte
Wahlkämpfe. Wie beim vorherigen Landtagswahlkampf in Baden-Württemberg ging
Brandt auch im Herbst an seine körperlichen Grenzen. Er sprach auf bis zu
zehn Großkundgebungen täglich. Der Lohn: Die SPD holte mit 45,8 Prozent ihr
historisch bestes Ergebnis, und auch die FDP verbesserte sich von unter 6
auf über 8 Prozent der Stimmen. Die Wahlbeteiligung lag bei heute
unfassbaren 91,1 Prozent.
Die Voraussetzungen für eine weitere Umsetzung des sozialliberalen
Reformprogramms schien perfekt. Die Union war in die Schranken gewiesen und
würde Jahre brauchen, um sich von ihrer Schlappe zu erholen. Der
CDU-Wahlverlierer Barzel musste entsorgt und sein Nachfolger – Helmut Kohl
– aufgebaut werden. Im Parlament hatte man eine satte und sichere Mehrheit.
Doch aus dem sozialliberalen Spaziergang wurde nichts. Nach der Wahl musste
Brandt an den Stimmbändern operiert werden. Es bestand Verdacht auf Krebs.
Er bekam Sprechverbot, und, am schlimmsten, ein striktes Rauchverbot
auferlegt. Und so begannen sofort nach der Wahl – ohne Wahlsieger Brandt –
die Koalitionsverhandlungen.
Brandts Notizen zum neuen Kabinett schlummerten in Wehners Aktentasche. In
seinem Buch „Erinnerungen und Reflexionen“ schrieb Helmut Schmidt 1998
sechs Jahre nach Brandts Tod: „Trotz seines in meinen Augen hervorragenden
Wahlergebnisses 1972 fiel Willy Brandt nach dem Wahltag in Resignation und
bat Wehner und mich, im Benehmen mit dem Partner FDP das neue
Bundeskabinett zusammenzustellen.“
## Auftrag Kabinettsbildung
Dieses scheint eine Unwahrheit – Depression statt einer physischen und
wahlkampfbedingten Erkrankung –, und sie wird durch andauernde Wiederholung
(zuletzt in der Zeit vom 14. November) nicht wahrer. Der Brandt 1974 als
Kanzler beerbende Schmidt schrieb dort: „Ausgerechnet auf dem Höhepunkt des
Erfolgs kam die Niedergeschlagenheit: nach dem phänomenalen Wahlergebnis
von 1972. Wehner und ich wussten von Brandts Zustand. Er beauftragte uns
beide damit, das Kabinett zu bilden. Brandt hat das Kabinett dann so
übernommen, wie wir es ihm hingestellt haben.“
Immerhin fügt Schmidt hinzu: „Man hat uns später vorgeworfen, wir hätten
die Regierung nach unseren Vorstellungen gebildet. Da ist sicherlich was
Richtiges dran, aber Brandt hat es so gebilligt.“ Als Brandt aus dem
Krankenhaus kam, fragte er sich, ob er unter diesen Bedingungen überhaupt
Bundeskanzler bleiben wolle.
Doch bei Brandt überwogen die Skrupel, die getroffenen Absprachen zu
torpedieren. Folglich regierte er mit einem Nebenkanzler Schmidt, der sich
innerhalb kurzer Zeit ein ökonomisches Grundwissen angeeignet hatte und
entsprechend dozierte, was er im Grunde bis heute tut. Schmidt im Mai im
Spiegel über Brandt: „Willy verstand nichts von Wirtschaft. Als der Ölpreis
explodierte, nahm er das zuerst nicht zur Kenntnis. Später benutzte er den
ostdeutschen Spion Guillaume als Anlass für seinen Rücktritt.“
Schmidt belehrte und kritisierte Brandt im Kabinett und in der
Öffentlichkeit dermaßen, dass selbst Genscher einmal der Satz
herausrutschte: „Den müsste Brandt hinauswerfen!“
## Skandal und Rücktritt
Auch dass Brandt in der Folge der Enttarnung seines persönlichen Referenten
Guillaume als Stasi-Spion im Mai 1974 zurücktrat, war alles andere als
selbstverständlich. Erst die Handhabung der Affäre durch Innenminister
Genscher (FDP) und Verfassungsschutzpräsident Nollau (sowie von Wehner im
Hintergrund) ließ Brandt schließlich keinen anderen Ausweg sehen, als
entnervt hinzuschmeißen.
Die Zeitbombe Guillaume hatte schon ein knappes Jahr getickt. Nollau und
andere konnten die Bombe zünden, wann immer sie wollten. Der Stasi-Spitzel
im Kanzleramt – das war der perfekte Skandal, abgestellt in der
Vorratskammer und jederzeit abrufbar. Dazu Brandt in seinen „Notizen zum
Fall G.“: „Ich Rindvieh hätte mich auf diesen Rat eines anderen Rindviehs
nie einlassen dürfen!“ Gemeint als anderes Rindvieh war Genscher.
Im April 1974 war es dann soweit: Guillaume wurde endlich verhaftet. Der
DDR-Agent war zwar intern schon im Mai 1973 enttarnt worden, aber auf
Betreiben von Verfassungsschutzpräsident Nollau und Innenminister Genscher
im Kanzleramt verblieben. Um ihn, wie es nachher hieß, auch wirklich
gerichtsfest überführen zu können.
Brandt hatte die Gefahr ignoriert, und dem „lahmen“ (so Arnulf Baring)
Kanzleramtschef Horst Grabert (Nachfolger des von Schmidt hinausbeförderten
Ehmke) fehlte jede Intuition für die drohende Katastrophe. Ehmke hätte wohl
gewusst, was zu tun ist. Er selbst hatte Guillaume einer peinlichen
Befragung unterzogen, da es schon zu Beginn der sozialliberalen Koalition
Verdachtsmomente gegen Guillaume gegeben hatte.
Wäre Ehmke Kanzleramtsminister geblieben – wie es Brandt wollte und Schmidt
verhindert hatte –, hätte er Guillaume wohl 1973 höchstpersönlich und mit
anderer Dramaturgie auf die Straße gesetzt.
## Ein Frauenheld
Versäumte man also absichtlich, Guillaume in den folgenden Monaten von
Staatsgeheimnissen fernzuhalten, um genau das Willy Brandt später vorwerfen
zu können? Aufgeblasen wurde die Affäre durch die Bundesanwaltschaft und
die Befragungen der Personenschützer Brandts. Bei denen ging es darum, von
wie vielen „Frauengeschichten“ Guillaume Kenntnis habe.
Mit anderen Worten: Die Behörden und Dienste, die im Fall Guillaume krass
versagt hatten, waren nun eifrig bemüht, einen „saufenden und depressiven“
Kanzler als pflichtvergessenen Frauenheld darzustellen.
In dieser trüben Geschichte endete die Kanzlerschaft des Hoffnungsträgers
einer Generation, des ersten linken Kanzlers der Bundesrepublik. Der 1992
verstorbene Brandt würde am Mittwoch seinen 100. Geburtstag feiern. Noch
immer gibt es um die Umstände seines Sturzes als Kanzler reichlich
Aufklärungsbedarf.
18 Dec 2013
## AUTOREN
Uwe Soukup
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